Zwei Schwestern (Adalbert Stifter)

Zwei Schwestern ist der Titel einer Erzählung von Adalbert Stifter. Die erste Fassung „Die Schwestern“ erschien 1845,[1] die zweite erweiterte 1850.[2] Erzählt wird die Begegnung des Protagonisten Otto Falkhaus mit zwei unterschiedlichen Schwestern, der Künstlerin Camilla und der Landwirtin Maria, und seine Suche nach einem die Antithetik von Kunst und natürlichem kultivierten Landleben verbindenden vernünftigen Lebensweg.

Überblick

Der Erzähler stellt sich in der „Einleitung“ als Freund Otto Falkhaus‘ vor, dessen Geschichte er nacherzählt und herausgegeben hat.[3] Im Mittelpunkt steht der Besuch des Protagonisten bei der Familie seines Freundes Franz Rikar auf seinem kleinen Landgut im an den Gardasee grenzenden Gebirge (3. Kap. „Reisebesuch“). Das zweite Kapitel „Reisefreunde“ erzählt die Vorgeschichte: Die Entstehung der Freundschaft der beiden Männer in Wien und ihr gemeinsamer Besuch eines Violinkonzerts der Schwestern Milanollo. Beide Männer stehen an einem Wendepunkt ihres Lebens. Falkhaus bewirbt sich nach dem Tod der Eltern und nach dem Schwund seines Erbes um eine Anstellung, Rikar führt einen Vermögensprozess. Beide haben, wie im 3. Kapitel deutlich wird, keinen Erfolg und müssen sich neu orientieren: Rikar zieht sich mit seiner Familie von Meran auf einen heruntergekommenen Berghof am Gardasee zurück. Seine Tochter Maria kann durch Neuerungen in der Landwirtschaft die finanzielle Situation verbessern und den Betrieb ausbauen. Falkhaus arbeitet sich erfolgreich in Handelsgeschäfte ein und erbt von einer Tante den Gutshof „Treulust“. Nachdem er nun reich geworden ist, leistet er sich eine Pause für die ersehnte Italienreise.

Auf dem Weg in den Süden besucht Falkhaus seinen Freund Rikar an seinem neuen einsamen Wohnort in einem Hochgebirgstal. Dessen beide Töchter, die zarte Violinistin Camilla und die bodenständige Landwirtin Maria, verkörpern für ihn den ihm bekannten Kontrast zweier Lebensweisen. Er bleibt einige Zeit Gast des „Haidehauses“, wandert mit der Familie im Gebirge, informiert sich über Marias Methoden der Bodenverbesserung, des Gemüse- und Obstanbaus und des Verkaufs der Früchte in die Region, wodurch sie das Leben finanziert und das einfache Bauernhaus ausbaut und ausstattet. Unterstützt wurde Maria durch den Nachbarn, den Reformbauern Alfred Mussar, der während Falkhausens Aufenthalt von einer Reise zurückkehrt und ihm seine Muster-Landwirtschaft zeigt. Als er bei den Eltern um Maria wirbt und diese ablehnt, wird die Freundschaft der Personen auf die Probe gestellt. Maria weiß nämlich, dass ihre Schwester Mussar insgeheim liebt und an der Zurücksetzung zerbrechen würde.

Falkhaus beendet nun seinen langen Aufenthalt bei den Freunden und reist durch Italien. Doch seine hohen Erwartungen an das Reiseerlebnis erfüllen sich nicht, denn er muss immer an Maria denken und beschleunigt die Rückkehr nach „Treulust“. Nach zwei Jahren besucht er erneut die Familie Rikar. Mussar hat inzwischen, von Maria geleitet, Camilla geheiratet. Falkhaus getraut sich nicht, Maria gegenüber seine Zuneigung zur Sprache zu bringen, denn er vermutet, dass das charakterlich starke Mädchen nicht ihn liebt, sondern „ein anderes Bild in sich“ trägt[4] und durch ihre Aufgaben in der Landwirtschaft mit dem Leben allein zurechtkommt. So reist er ab und will, trotz ihrer Einladung, nicht mehr in den Haidehof zurückkehren. Er hatte offenbar nur die Möglichkeit einer harmonischen Beziehung sehen dürfen: „Ich sollte nur erkennen, was einzig schön und göttlich ist, um es dann auf ewig ferne zu haben.“[5]

Im kurzen Nachwort berichtet der Erzähler von Falkhaus‘ Meinungsänderung. Er hat jetzt die Hoffnung, dass Maria seine Frau wird und sie zahlreiche Kinder haben werden. Der Erzähler ist zuverschtlich: „[S]ie werden ein festes, reines, schönes Glück genießen.“[5]

Inhalt

Inhalt 

1. Vorwort

Der Erzähler hat als Freund der Hauptfigur Otto Falkhaus dessen Geschichte mit ihren vielen Zufällen nacherzählt und herausgegeben, um „Seelen- und Menschenforscher[n]“ zu zeigen, wie sein Freund, der selber „in seiner Jugend eine einseitige Bildung seiner Geisteskräfte erhalten hatte“, von der Familie Rikar und „der großen innern Grundverschiedenheit“ ihrer Töchter „eine Umdüsterung seiner Seele fort trug, die er wohl durch die Stärke und Heiterkeit seines Geistes, welche er sich in späteren Jahren erwarb, überwunden haben wird.“[6]

2. Reisefreunde

Der Erzähler beginnt mit der Bekanntschaft des jungen Otto Falkhaus mit dem älteren, meist trübsinnigen Franz Rikar in einer Reisekutsche, in der auch die Schwestern Milanollo sitzen.

Nach einiger Zeit treffen sich die beiden wieder in Wien und leben für drei Wochen im Gasthof zur Dreifaltigkeit in zwei benachbarten Zimmern. Wegen seines Aussehens und seines schwarzen Frackes wird Rikar Paganini genannt. Später erfährt Falkhaus, dass Rikar sich seit dem Tod seines 20-jährigen Sohnes schwarz kleidet und dass seine Tochter Camilla eine begabte Violinistin ist. Die Freundschaft der beiden Männer entsteht durch einen gemeinsamen, zufälligen, Besuch eines Violinkonzerts der als Wunderkinder bekannten Theresa und Maria Milanollo im Josephstädter Theater. Vor allem das gefühlvolle Spiel der ca. 14-jährigen Theresa beeindruckt die Zuschauer und Rikar ist zu Tränen gerührten und sagt mehrmals: „Ach, du unglücklicher Vater“. Falkhaus ist zu rücksichtsvoll, um nach dem Zusammenhang zu fragen, und erfährt deshalb die Hintergründe der Familiengeschichte erst nach und nach.

Beide Männer stehen in Wien an einem Wendepunkt ihres Lebens: Ottos Sozialisation ereignete sich im Spannungsfeld zwischen der von seiner Mutter geförderten „Einbildungskraft“ und dem Pragmatismus seines Vaters und des Oheims, eines Kaufmanns. Otto erhielt z. B. Zeichen- und Geigenunterricht. Nach dem Tod der Eltern setzte sich die Kreativität einseitig durch, der Kompromiss gelang nicht und Otto verlebte das kleine ererbte Vermögen und muss sich nun in Wien um eine Anstellung bemühen. Auch Rikars Finanzen sind gefährdet. Seine Südtiroler Eltern betrieben in Mailand Seidenhandel. Dort wuchs Franz auf, heiratete Victoria und erzog mit ihr drei Kinder. Nachdem seine Eltern gestorben waren, musste er einen kostspieligen Vermögensstreit mit Verwandten führen und mit der Familie nach Meran umziehen. Nun wird der Prozess in Wien entschieden. Beide haben keinen Erfolg und müssen sich neu orientieren.

3. Reisebesuch

Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Otto Falkhaus ist durch Handel nach dem Vorbild seines Onkels zu Wohlstand gekommen. Nachdem ihm seine Tante ihr Gut „Treulust“ vererbt hat, kann er es sich erlauben, aus dem gleichförmigen Arbeitsalltag für eine gewisse Zeit auszusteigen und seine lange geplante Italienreise zu verwirklichen. In Meran will er seinen Freund „Paganini“, von dem er lange nichts mehr gehört hat, besuchen, doch man teilt ihm mit, er sei in die Nähe von Riva am Gardasee gezogen. Falkhaus ändert daraufhin seinen Reiseplan. Auf seiner Fahrt hat das Erlebnis der Gebirgsnatur einen „wohltätigen Einfluss“ auf ihn, er vergisst das „gleichmäßige Einerlei“ der Landwirtschaft und das „ewige Betrachten des Getreidewachsens“. Auch macht er sich Gedanken über die Menschen, die über Einzelheiten das Wesentliche vergessen, während doch das Gegenwärtige, wie die Weltgeschichte zeige, das Vorübergehende sei.[7] Da in Riva der Name Rikar unbekannt ist, sucht Falkhaus die Umgebung ab. Er heuert den Fährmann Gerardo an und sucht die Siedlungen am Seeufer ab. Schließlich erkennt ein Hirtenjunge nach der Personenbeschreibung den Freund und zeigt ihm den Weg durch eine Schlucht zum Berghaus des Hieronimus Rüdheim, anschließend führt der Steig zur Hochfläche und dann in ein Tal, in dem das einsame Landgut Rikars liegt. Falkhaus wird freundlich aufgenommen und zu einem langen Aufenthalt eingeladen.

Das Haidehaus

Nach und nach erfährt Falkhaus das Schicksal der Familie. Nach dem Verlust des Vermögens blieb Rikar nur die Zuflucht zum heruntergekommenen Berghof des Großvaters. Da er zu krank war, um arbeiten zu können, musste er, um das Leben bestreiten zu können, alle Wertgegenstände verkaufen. Seine Frau Victoria versuchte die begabte Geigenspielerin Camilla zu überreden, Konzerte zu geben, aber das introvertierte, nur für sich selbst spielende Mädchen hatte Hemmungen, öffentlich aufzutreten. In dieser Situation rettete die tatkräftige Tochter Maria die Familie. Sie verwandelte mit Unterstützung des in modernen Anbaumethoden erfahrenen Nachbarn Alfred Mussar das kleine Landgut in eine Pflanzenwirtschaft: Bodenverbesserung, Gewächshäuser, Gemüse-, Wein- und Obstanbau, Veredelung, Blumenzucht. Mit Maultieren transportierte man die Früchte, Setzlinge und Samen in das Umland und verkaufte sie. Rikar wurde wieder gesund und konnte mitarbeiten. Da sich die gute Qualität herumsprach, kam die Familie allmählich in den letzten sechs Jahren zu Wohlstand und renovierte, erweiterte und verschönerte das Haus und die Gartenanlage.

Falkhaus ist von dieser großen Gärtnerei und dem Pioniergeist Marias beeindruckt Auf Wanderungen mit der Familie durchs kahle Gebirge wird ihm deren Ausnahmesituation am Rand der Gesellschaft bewusst: „Welche Einsamkeit! Wie eine Insel lag das weiße übertünchte Haus mit dem Grün seiner Bäume und Gemüse in dem allgemein grau blau und violett duftenden Grunde […] Und über das Ganze war ein so tiefes Schweigen ausgebreitet, dass gerade die Feierlichkeit der Öde durch dieses menschliche Haus eher vermehrt, als vermindert wurde.“[8]

Die Schwestern

In dieser finanziell guten Situation trifft der Erzähler die Familie an. V.  die beiden Schwestern beeindrucken ihn und erinnern ihn an seine eigene gespaltene Persönlichkeit: Camillas bleiches Gesicht, ihre sanften weichgebildeten Wangen. In ihren großen Augen lag „Schwärmerei, wo nicht gar Schwermut und Leiden“. Dagegen hat die ca. 25-jährige Maria von der Arbeit im Freien ein gebräuntes Gesicht und feste Wangen. Ihre Augen haben den „Glanz der Ruhe oder […] der Zufriedenheit und Ehrlichkeit.“[9] Dieser Kontrast spiegelt sich bei den Eltern und ihren getrennten Bereichen im Haus. Camilla wohnt mit der Mutter zusammen, Maria mit dem Vater. Camillas Faszination von der Musik geht zurück auf einen Besuch Im Mailänder Dom. Sie erhielt dann Gegenunterricht und Victoria erkannte ihre große Begabung. Sie teilt ihre Vertiefung in die „himmlische[-] Kunst“. Zu Maria fühlt sie dagegen, anders als ihr Mann, keine Wesensverwandtschaft. Rikar beobachtet besorgt Camillas Kräfteverlust und warnt seine Frau, dass sich die Tochter im Violinspiel aufzehrt und ihre Gesundheit darunter leidet. Sie entgegnet ihm, nicht die Musik sei die Ursache für die zunehmende Sensibilisierung, sondern ihre Anlage, ihre Neigung zu einem „tiefe[n] innere[n] Leben“. Verstärkt würde dies durch die Entwicklungsjahre des Mädchens. Ihre Musik sei der Ausdruck dieser Persönlichkeit.

Otto beurteilt Camilla, ähnlich wie der Vater, als Gefährdete. Ihr nächtliches Violinspiel erinnert ihn an das Theresa Milanollos und es kommt ihm vor wie das eines jungen Menschen mit der Erfahrung eines alten: Glut der Leidenschaft, Schmerz, Sehnsucht, Klage aus einem schreienden Herz eines wirklichen bitteren, erfahrenen Lebens. Der Erzähler denkt „Du armes, armes Kind! Was musst du gelitten haben, dass du diese Dinge verstehst, und sie mit der einzigen Stimme, die dir Gott in so reichlichem Maße gegeben hat, ausdrücken kannst!“[10] Mit Maria teilt Otto dagegen das Interesse an ihrem Gartenbau. Sie zeigt ihm ihre Anpflanzungen, gibt ihm Anregungen für seine Landwirtschaft und er ist von ihrer Tatkraft beeindruckt.

Alfred Mussars Natur-Kultur-Philosophie

Der Nachbar Alfred Mussar kehrt von einer Reise zurück und überreicht den Familienmitgliedern großzügige Geschenke. Otto wird sofort in den Freundschaftsbund einbezogen und hört gerne Mussars Naturphilosophie an: Dieser sieht in der Natur die Sprache Gottes zu den Menschen. Er lebt „in der Gesellschaft mit seinen Pflanzen […], die seinen Geist zum Himmel leiten, und seinem Leibe die einfachste, edelste und keuscheste Nahrung gewähren. Brot, das einfachste aller Dinge, das weltverbreitetste, ist das Symbol und das Zeichen aller Nahrung der Menschen geworden.“ Die aus Gräsersamen kultivierten Getreidepflanzen sind seiner Meinung nach „das auserlesenste und unbezwinglichste Heer“, um nicht nur „den bunten Schmelz und die Kräutermischung der Hügel [zu] verdrängen.“, sondern um einmal die Welt zu erobern. Die Erde und die Menschen würden sich verändern, „wenn zuerst die Cedern vom Libanon, aus denen man Tempel baute, dann die Ahorne Griechenlands, die die klingenden Bogen gaben, dann die Wälder und Eichen Italiens und Europas und endlich der unermessliche Schmuck und Wuchs, der jetzt an dem Amazonasstrome steht, folgen und verschwinden wird.“ Es werde „unendliche Wandlungen auf der Welt [geben], alle werden sie nötig sein, und alle werden sie, eine auf die andere, folgen.“[11]

Maria – Alfred – Camilla

Gegen Ende seines Aufenthalts erlebt Falkhaus eine plötzliche Störung innerhalb der friedlichen Familie. Er beobachtet mit feinem Gespür, dass Camilla, obwohl sie dies verbirgt, Alfred liebt. Auch Maria kennt die Gefühle ihrer Schwester und sie weist Alfred Werbung zurück, weil Camillas zartes Gemüt den Schmerz nicht ertragen hätte. Sie jedoch, gesteht sie Otto, sei stark genug, den Verzicht zu ertragen. Alfred akzeptiert ihre Entscheidung, die an seiner Freundschaft mit der Familie nichts ändern und ihre Kontakte nicht verringern wird. Nach der Beruhigung der Situation verabschiedet sich Falkhaus von den Gastgebern und Victoria Rikar lädt ihn zu einem weiteren Besuch ein.

4. Reiseziele

Die Italienreise mit den Stationen Venedig, Toskana, Campagna, Rom, Neapel, Sizilien erfüllt nicht Ottos hohe Erwartungen. Seine Eindrücke sind überlagert vom Bild der einfachen, natürlichen, edlen und großmütigen Maria. Er kehrt im Herbst zu seinem Gut „Treulust“ zurück und schickt Geschenke an die Familie Rikar. Im Frühjahr des übernächsten Jahrs bricht er wieder nach Riva auf. Im Haidehaus hat sich inzwischen die Situation geändert: Alfred hat, von Maria ohne Absprache mit der Schwester beeinflusst, Camilla geheiratet und beide wohnen jetzt glücklich in Mussars Haus. Maria erzählt Otto ohne Neid freudig von Camillas gesundheitlicher Erholung und von der gegenseitigen Annäherung des Paares: „Er horcht auf ihre schönen Töne, wenn sie ihr Gefühl ausspricht, und sie wird bei ihm tüchtiger tätig und an den Wirtschaftssorgen teilnahmsvoller.“[12] Trotz dieser Wendung getraut sich Falkhaus nicht, Maria seine Zuneigung zu gestehen, denn er vermutet, dass sie nicht ihn liebt, sondern, „wenn auch ohne Wunsch und Begehr, ein anderes Bild in sich“ trägt. Außerdem wirkt sie zufrieden und kommt durch ihre Aufgaben in der Landwirtschaft mit dem Leben allein zurecht. So reist er enttäuscht ab und will nicht mehr in den Haidehof zurückkehren, obwohl Maria ihn liebevoll dazu einlädt: „Leben Sie wohl, lieber teurer Mann […] und kommen Sie sehr bald wieder.“ Aber er träumt davon, wie schön es wäre, „wenn sie um [ihn] waltete, wenn sie wirtschaftete, schaffte, [ihn] mit dem klaren, einfachen, heiteren Verstande umgäbe, immer und zu jeder Frist freundlich, offen und gut wäre, und in dem edlen starken Herzen [ihn] mit der tiefsten heißesten Gattenliebe trüge.“[13] Offenbar hatte er nur die Möglichkeit einer harmonischen Beziehung und einer gemeinsamen Wirtschaft sehen dürfen: „Ich sollte nur erkennen, was einzig schön und göttlich ist, um es dann auf ewig ferne zu haben.“[5]

5. Nachwort

Der Erzähler schließt die Rahmenhandlung mit dem Nachtrag ab, sein Freund habe inzwischen seine Meinung geändert und hoffe, dass Maria seine Frau wird und sie zahlreiche Kinder haben werden, und prophezeit: „[S]ie werden ein festes, reines, schönes Glück genießen.“[5]

Vergleich mit der Urfassung

In der Urfassung „Die Schwestern“[14] berichtet der anonyme Erzähler von seinen zwei Begegnungen mit Francesko Riccardi in einem Postwagen und in Wien und, in der Haupthandlung, von seinem Besuch bei der Familie des Freundes am Gardasee. Die Personenkonstellation ist, trotz einiger Namensänderungen, dieselbe wie in der zweiten Fassung: Francesko, seine Frau Vittoria, die beiden Töchter, die 24-jährige Maria und die etwas ältere Camilla, sowie der ca. 30-jährige Nachbar Alfred. Im Zentrum stehen Riccardis unterschiedliche Töchter: Die Violinistin Camilla und die Landwirtin Maria. Im Unterschied zur zweiten Fassung entwickelt der Erzähler spontan „eine äußerst heftige Neigung“ zur Künstlerin Camilla: „[I]ch begriff mich selber nicht mehr. Oft war es mit, als müsse ich mich an diese sonderbaren Lippen pressen, und mich zu Tode weinen. Sie war aber auch ganz eigentümlich […] schien sie doch viel älter – ja sie schien sogar verwelkt zu sein, und die großen Augen standen schwermütig in dem verblühenden Angesichte, ihre Bewegungen waren klagend, und doch ging durch ihr Wesen eine solche Unschuld, ja oft Hoheit, als sei sie an einer innern unermesslichen Schönheit verschmachtet, der man sie überliefert hat.“[15] Als er von der komplizierten Dreiecksbeziehung der Schwestern mit dem Nachbarn Alfred Mussar erfährt, reist er ab. Nach langen Reisen durch Südeuropa verändert er sich. Jetzt trauert er nicht mehr Camilla nach, sondern denkt oft an ein „braunes, gesundes, heiteres, großmütiges Mädchen“ und bekennt: „Wenn ich je eine Gattin wähle, so ist es Maria, wenn sie mich will – oder keine andere auf dieser Welt.“[16]

Die zweite um ein Drittel erweiterte Fassung „Zwei Schwestern“ ist um eine Rahmenhandlung (Vorwort und Nachwort des anonymen Herausgebers), ausführliche Schilderungen der Naturlandschaft, der Wanderungen, der Gärtnerei und des Hauses sowie der Biographien der Hauptpersonen ergänzt worden. Während die Urfassung offen endet, heiraten in der zweiten Fassung Alfred und Camilla, wodurch die Hoffnung auf eine Ehe Ottos mit Maria erhalten bleibt. Ein Textvergleich zeigt die stilistischen Änderungen Stifters. Die „weit ausholenden, sich steigernden Satzperiode[n]“ werden in Einzelsätze aufgelöst und wirken dadurch „ruhiger und ausgeglichener“ und weniger „bewegt und lebendig“.[17]

Interpretation

Im Zentrum der Erzählung, zu der Stifter durch ein Konzert der Schwestern Milanollo 1843 in Wien angeregt wurde, steht die thematische Antithetik von Kunst und Landleben. Darauf weisen bereits der Arbeitstitel „Die Virtuosin“ sowie die Zuordnung zur Künstlerproblematik der ersten drei Studien-Novellen hin. In den „Schwestern“ setzt der Autor „menschliches Sein und Erfahrung der Landschaft […] symbolisch [miteinander] in Beziehung“ und zeigt den Konflikt des „innerlich-empfindsamen und des tätig-häuslichen Menschen“: Die „künstlerische Gefühlsverfallenheit“ der gefährdeten Virtuosen kontrastiert mit der praktischen Tätigkeit „lebensstarker Menschen“.[18] Während die 1. Fassung die Lösungsfrage offen lässt, setzt die 2. Fassung den Schwerpunkt durch die ausführliche Beschreibung der Landwirtschaft und die angedeutete Heirat Ottos mit Maria auf einen pragmatischen Kompromiss, der durch die Annäherung Camillas an Alfred vorbereitet wird.

Stifter baute die Künstlerthematik in die Form der Reisenovelle ein und gestaltete die Landschaft nach Berichten von Freunden und Reisebeschreibungen. Nach vielen mit Unsicherheiten verbundenen Zufällen, kombiniert mit der wirtschaftlichen Bedrohung und inneren Gefährdungen, lässt der Autor seine Protagonisten schließlich zu einem harmonisch schönen Dasein finden. Der Autor glaubte, dass diese Schilderung die reinste, ruhigste, verstandes- und kunstgemäße sei, die er gemacht habe.[19]

Von Interpreten wird auf die Nähe der „Schwestern“ zu anderen Erzählungen, z. B. dem „Waldsteig“ und den „Nachkommenschaften“ oder zum Roman „Nachsommer“ hingewiesen: Gesucht werden die Normen eines vollkommenen Lebens. Den „Wildwuchs der Natur wie die Ungezügeltheit der Gefühle können einsichtige Vernunft, erlerntes Wissen und moralische Kraft, (Geduld und Opfersinn) in die Richtung eines schönen Wachtsums und menschlicher Reife führen. Der Glaube an eine göttliche Lenkung verdrängt die tragische Stimmung früherer Novellen und weist den Menschen mit der Pflege von Boden und Besitz in eine Welt des Maßes.“[20]

Ausgaben und Literatur

Einzelnachweise

  1. in: Iris. Taschenbuch für das Jahr 1846. Hrsg.: Johann Graf Mailáth. 7. Jg. Verlag Heckenast, Pesth. S. 335–444. Werkverzeichnis. http://adalbertstifter.at/Werke.html
  2. in: Studien Bd. 6. Werkverzeichnis.
  3. Adalbert Stifter: „Studien II“. Hrsg.: Max Stefl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1956, S. 419–574.
  4. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Studien II“. Hrsg.: Max Stefl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1956, S. 573.
  5. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Studien II“. Hrsg.: Max Stefl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1956, S. 574.
  6. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Studien II“. Hrsg.: Max Stefl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1956, S. 419.
  7. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Studien II“. Hrsg.: Max Stefl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1956, S. 444 ff.
  8. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Studien II“. Hrsg.: Max Stefl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1956, S. 497 ff.
  9. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Studien II“. Hrsg.: Max Stefl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1956, S. 536.
  10. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Studien II“. Hrsg.: Max Stefl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1956, S. 477 ff.
  11. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Studien II“. Hrsg.: Max Stefl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1956, S. 549 ff.
  12. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Studien II“. Hrsg.: Max Stefl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1956, S. 572.
  13. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Studien II“. Hrsg.: Max Stefl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1956, S. 573.
  14. Adalbert Stifter: „Erzählungen in der Urfassung“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Hrsg.: Max Stefl. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1953, S. 73–164.
  15. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Erzählungen in der Urfassung“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Hrsg.: Max Stefl. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1953, S. 157.
  16. zitiert nach: Adalbert Stifter: „Erzählungen in der Urfassung“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Hrsg.: Max Stefl. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1953, S. 164.
  17. Max Stefl: „Nachwort“, S. 338, 340. In: Adalbert Stifter: „Erzählungen in der Urfassung“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1963. Nachdruck der Ausgabe des Adam Kraft Verlags Augsburg 1953.
  18. Kindlers Literaturlexikon im dtv. DTV München 1974, S. 10419.
  19. Kindlers Literaturlexikon im dtv. DTV München 1974, S. 10419.
  20. Kindlers Literaturlexikon im dtv. DTV München 1974, S. 10419.
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