Erzählzeit

Erzählzeit bezeichnet in der Erzähltheorie die Zeitspanne, die ein Leser für die Lektüre eines Textes, zum Sehen eines Films, Hören eines Hörspiels, Hörbuchs (oder vergleichbaren Vorgängen) braucht. Sie ist die Zeitspanne die zur Reproduktion (Lesen) eines epischen Werkes benötigt wird.[1] Sie stellt formal damit eine Leistungsgröße („Menge“ des Narrativs pro „Zeiteinheit“) dar. Bei Texten wird die Erzählzeit entweder in Durchschnittszeiten für die Lektüre oder in Seiten bzw. Wörtern angegeben. Bei einem Film oder Hörspiel entspricht die Erzählzeit der Länge des Films, bei Dramen der Länge der Aufführung.

Im Gegensatz zur Erzählzeit steht die erzählte Zeit, das ist jener Zeitraum, über den sich die Geschichte inhaltlich erstreckt.

Die Begriffe „Erzählzeit“ und „erzählte Zeit“ wurden 1948 vom Germanisten Günther Müller geprägt.[2][3][4] und (1947)[5]

Ernst Hirt hatte 1923 bereits den Begriff „Erzählezeit“ verwendet.[6][7]

Hingegen ist also die „erzählte Zeit“ jene, die die Geschichte zeitlich strukturiert, die Zeit des Geschehens, der Ereignisse im Unterschied zur „Erzählzeit“. Die „erzählte Zeit“ ist der Zeitraum, den die erzählte Geschichte für sich in Anspruch nimmt. Sie ist die Zeit der Erzählung selbst, also der Zeitraum, den die Geschichte benötigt, um das Narrativ wiederzugeben.[8] Die „Erzählzeit“, auch Zeit des dicours, ist jener Zeitraum, den die Erzählung benötigt, um die Geschichte zu berichten. Dabei ist die Maßeinheit der erzählten Zeit ein explizit genannter und rekonstruierbarer Zeitraum im Erzähltext, während sich die Maßeinheit der Erzählzeit lediglich in der Anzahl der Buchseiten abbilden lässt. Damit wird die Erzählzeit auch von der Buchausgabe und deren Umfang abhängig.

Allgemeines

Zeit stellt eine fundamentale Dimension in der menschlichen Wahrnehmung dar, sie tritt zugleich als kulturelles Orientierungs- und Ordnungsmuster auf.[9] Was Menschen dabei wahrnehmen, ist die chronologische Sukzession von Geschehensmomenten, also die zeitliche Abfolge mit einem Vorher, einem Jetzt und einem Nachher (im Sinne von Vorzeitigkeit – Gleichzeitigkeit – Nachzeitigkeit).[10] Im menschlichen Bewusstseinsstrom wird Zeit als eine kontinuierlich voranschreitende Ordnung wahrgenommen. Darin findet sich die menschliche Vorstellung von Kausalität wieder. Den Menschen wird Zeit bewusst, wenn äußere Faktoren sie in Abschnitte teilen. In narrativen Texten findet sich Zeitlichkeit in:

  • der Zeit des Geschehens (erzählte Zeit); es ist die Zeit der Geschichte (französisch histoire), der Zeitraum, den die Geschichte für sich selbst in Anspruch nimmt.
  • der Zeit der Erzählung (Erzählzeit); es ist die Zeit des Diskurses (französisch discours), es ist der Zeitraum, den die Erzählung benötigt, um die Geschichte zu berichten.
  • der Zeit des Erzählers bzw. die Dauer seines Erzählaktes (Erzählerzeit).[11]

Nach Genette kann das Verhältnis zwischen der Zeit der erzählten Geschichte (erzählte Zeit, histoire) und der Zeit der Erzählung (Erzählzeit, discours) im Sinne von drei Fragen systematisiert werden:

In welcher Reihenfolge?
In welcher Ordnung wird das Geschehen in einer Erzählung präsentiert?
Wie lange?
Welche Dauer beansprucht die Darstellung der Geschehen oder der einzelnen Geschehenselemente?
Wie oft?
In welcher Frequenz wird ein sich wiederholendes oder nicht wiederholendes Geschehen in einer Erzählung dargestellt?[12][13]

Literaturwissenschaft

Das Verhältnis zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit wird als Erzählgeschwindigkeit bezeichnet.[14] (Es bietet sich an, dagegen die Frequenz tiefgreifender Situationsveränderungen mit Jost Schneider als Erzähltempo von der Geschwindigkeit zu unterscheiden, und damit nochmals genau zu differenzieren zwischen zeitlichen Verhältnissen auf der Handlungsebene und zeitlichen Verhältnissen auf der Darstellungsebene.[15]) Aus der Beziehung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit ergeben sich folgende grundsätzliche mögliche Erzählgeschwindigkeiten:

  1. Zeitdeckung; Erzählzeit und erzählte Zeit sind annähernd gleich, decken sich also (im Drama: alle Dialogpassagen; in der Epik: siehe Sekundenstil)
  2. Zeitdehnung; Erzählzeit ist länger als erzählte Zeit (z. B. bei der Wiedergabe von Bewusstseinsströmen)
  3. Zeitraffung; Erzählzeit ist kürzer als erzählte Zeit, „unwichtige“ Zeitabschnitte werden also gekürzt bzw. ganz weggelassen (z. B. in Berichten, Chroniken etc.)

Ein extremes Beispiel für Zeitdehnung ist James JoyceUlysses, dessen erzählte Zeit sich nur über einen Tag erstreckt (nämlich den 16. Juni 1904), diesen jedoch über knapp tausend Seiten dehnt und wegen seiner Komplexität sehr viel Zeit für die Lektüre erfordert. Umgekehrtes Beispiel (also Zeitraffung) ist Thomas Manns Roman Buddenbrooks, der in einer kürzeren Erzählzeit eine erzählte Zeit wiedergibt, die sich über mehrere Generationen erstreckt.

Es gibt in dem besagten Verhältnis auch besondere Phänomene, deren wichtigste folgende sind:

  • Ellipse: Auslassung, Zeitsprung
  • Analepse: Rückblende, Zeitsprung in die Vergangenheit
  • Prolepse: Vorausschau, Zeitsprung in die Zukunft
  • Anachronie: eine Geschichte wird nicht in der Reihenfolge erzählt, in der die Ereignisse zeitlich geschehen

Jüngere Arbeiten haben sich bemüht, die traditionelle Dichotomie einer rekonstruierbaren erzählten Zeit und einer messbaren Erzählzeit[16] genauer zu bestimmen und zu erweitern: Insbesondere in Texten der literarischen Moderne wird gerne mit unterschiedlichen Zeiten und Erzählgeschwindigkeiten gespielt. Durch eine Gegenüberstellung von Systemzeit und Referenzzeit ist es möglich, unterschiedliches Zeiterleben von Figuren innerhalb eines Textes zu analysieren. Dabei kann man eine Eigenzeit eines Charakters zu einer Kollektivzeit in Beziehung setzen; die Kollektivzeit (bzw. die Summe der anderen Zeiten) bildet dann eine Bezugsgröße. Auf diese Weise kann man das Zeiterleben verschiedener Figuren eines Textes miteinander vergleichen. Ergibt sich dabei eine auffällig starke Differenz, so kann man dies dadurch erklären, dass unterschiedliche Zeitbegriffe bzw. unterschiedliche Gegenwartskonzeptionen aufeinander treffen.[17]

Film

In der Filmwissenschaft werden vor allem die formalistischen Begriffe von Fabel (fabula) und Sujet (sjužet) unterschieden.[18]

  • Fabel meint die erzählte Geschichte im Sinne der erzählten Zeit (s. o.)
  • Sujet meint die Präsentation der Geschichte, das Arrangement, den Schnitt.

Das Syuzhet umfasst insgesamt drei Ebenen einer dargestellten Szene:

  • erzählerische Zeit,
  • die erzählerische Logik, d. h. die kausalen Strukturen zwischen den erzählerischen Elementen,
  • erzählerischer Raum.

Das Syuzhet leitet die Wahrnehmung des Zuschauers, dadurch können z. B. Spannung, Überraschung, Neugierde aufgebaut werden. Dabei bedient es sich u. a. der oben genannten Phänomene Ellipse, Analepse, Prolepse und Anachronie.

Computerspiele

Bei Computerspielen mit Dialogsystemen wie Interactive Fiction wird die Erzählzeit ausgesetzt, während der Spieler die Tastatur benutzt. Die Erzählzeit geht weiter, sobald die Eingabetaste betätigt worden ist. Die Ereignisse in der fiktiven Welt entstehen in dem Augenblick, in dem sie erzählt werden.[19]

Siehe auch

  • Bert Egle: Erzählgeschwindigkeit. Überblick. teachSam-Arbeitsbereiche, Fachbereich Deutsch, 9. September 2020

Einzelnachweise

  1. Otto F. Best: Handbuch literarischer Fachbegriffe. Definitionen und Beispiele. (= 6092 Fischer Taschenbuch) Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-436-01486-9, S. 74
  2. Holger Dainat: Müller, Günther. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 18, 1997, S. 395–397.
  3. Müller, Günther ([1948] 1968). „Erzählzeit und erzählte Zeit“, in: ders.:. Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. Darmstadt: WBG, S. 269–286.
  4. Günther Müller: Erzählzeit und erzählte Zeit. In: Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider gewidmet zu ihrem 60. Geburtstag. Herausgegeben von ihren Tübinger Schülern. Mohr, Tübingen 1948, S. 195–212
  5. Günther Müller: Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. Bonner Antrittsvorlesung 1946. Universitäts-Verlag, Bonn 1947
  6. Hirt, Ernst (1923). Das Formgesetz der epischen, dramatischen und lyrischen Dichtung. Teubner, Leipzig.
  7. Time | the living handbook of narratology. Abgerufen am 19. Oktober 2020.
  8. Silke Lahn, Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. J.B. Metzler, Stuttgart 2008, 3., aktual. Aufl. 2016, ISBN 978-3-476-02598-2, S. 19; 145.
  9. Antonius Weixler, Lukas Werner: Zeit. In: Martin Huber, Wolf Schmid (Hrsg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. De Gruyter, Berlin/Boston 2020, ISBN 978-3-11-070915-5, S. 263–277
  10. Silke Lahn, Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. J.B. Metzler, Stuttgart 2008. (3., aktual. Auflage. 2016), ISBN 978-3-476-02598-2, S. 143
  11. Silke Lahn, Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. J.B. Metzler, Stuttgart 2008. (3., aktual. Auflage. 2016), ISBN 978-3-476-02598-2, S. 145
  12. Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. C. H. Beck, München 1999. (11., aktual. u. überarb. Auflage. 2019), ISBN 978-3-406-74283-5, S. 34
  13. Silke Lahn, Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. J.B. Metzler, Stuttgart 2008. (3., aktual. Auflage. 2016), ISBN 978-3-476-02598-2, S. 147
  14. Silke Lahn, Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. J.B. Metzler, Stuttgart 2008, 3., aktual. Aufl. 2016, ISBN 978-3-476-02598-2, S. 19; 145 f.
  15. Jost Schneider: Einführung in die Roman-Analyse. Darmstadt 2003, S. 35 f.
  16. Günther Müller: Erzählzeit und erzählte Zeit. In: Elena Müller (Hrsg.): Morphologische Poetik. WBG, Darmstadt 1968, S. 269–286.
  17. Katrin Stepath: Gegenwartskonzepte. Eine philosophisch-literaturwissenschaftliche Analyse temporaler Strukturen. Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, S. 177–180.
  18. Uwe Nagel: Der rote Faden aus Blut. Erzählstrukturen bei Quentin Tarantino. Schüren, Marburg 1997, S. 17–27.
  19. Marie-Laure Ryan: Narrative and Digitality: Learning to Think With the Medium. In: A Companion to Narrative Theory, edited by James Phelan and Peter J. Rabinowitz, Blackwell Publishing, Malden/Massachusetts and Oxford 2005, paperback edition 2008, ISBN 978-1-4051-1476-9 Inhaltsverzeichnis, pp. 515–528.
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