Wissenschaftsdidaktik

Die Wissenschaftsdidaktik beschäftigt sich mit der Frage, wie (Fach-)Wissenschaften gelehrt und gelernt werden können. Sie ist eine besondere Form der Didaktik für Hochschulen, in der die Wissenschaft selbst zum Thema gemacht wird, weswegen sie auch als Metawissenschaft bezeichnet wird. Im deutschsprachigen Raum ist diese Form von Didaktik weitaus weniger bekannt und verbreitet als Hochschuldidaktik. Erste Überlegungen zur Wissenschaftsdidaktik stammen aus der Zeit der deutschen Hochschulreformen in den 1960er und 1970er Jahren, sind aber weitgehend folgenlos geblieben. Seit den 2010er Jahren wird wieder stärker an dem Thema gearbeitet, wie insbesondere mehrere von Gabi Reinmann und Rüdiger Rhein herausgegebenen Sammelbände Wissenschaftsdidaktik zeigen.[2] Noch hat sich die Wissenschaftsdidaktik allerdings weder auf eine klare Definitionen noch auf eindeutige Abgrenzungen zu anderen Formen von Didaktik verständigt.

Denkfigur des didaktischen Dreiecks – bezogen auf Wissenschaftsdidaktik (Reinmann, 2022, S. 280)[1]

Begriff

In der Wissenschaftsdidaktik wird Wissenschaft selbst zum Gegenstand der akademischen Auseinandersetzung. Sie rückt die Vermittlung von Forschung, (Hochschullehre-)Lehre und Studieren bzw. Studium in den Fokus der Aufmerksamkeit. Wissenschaftsdidaktik kann als eine kritische Reflexion über Wissenschaft selbst in Zusammenhang mit ihrer Mitteilung und Kommunikation betrachtet werden, die sich an Studierende als Spezialfall, aber auch an andere Zielgruppen wie z. B. das Fachkollegium oder auch Laien aus der interessierten Öffentlichkeit richtet.[3] Diese Perspektive geht auf Hartmut von Hentig und Ludwig Huber zurück, die sich im deutschsprachigen Raum in den 1970er und 1980er Jahren erstmalig mit dem Begriff beschäftigten. Ihnen zufolge befasst sich Wissenschaftsdidaktik mit dem der Wissenschaft inhärenten didaktischen Moment, das sich aus dem engen Verhältnis zwischen Erkenntnis und Kommunikation ergibt.[4]

Wissenschaftsdidaktik ist von der Einsicht geleitet, dass ein Nachdenken über die Vermittlung und für den Erwerb wissenschaftlicher Erkenntnis und Haltung unmittelbar mit der wissenschaftlichen Arbeit verbunden ist (Didaktik als Bestandteil von Wissenschaft). Dabei muss die didaktische Reflexion immer auch aus einer fachspezifischen Perspektive betrachtet werden.[5]

Nach Ludwig Huber ist Wissenschaftsdidaktik deswegen der Teil der Wissenschaft, der sich mit der Vermittlung und Reflexion von wissenschaftlichem Wissen beschäftigt. Er versteht darunter

„die systematische Reflexion und Erforschung der Ziele und Bedingungen sowie der Strukturierung der Wissenschaften im Hinblick auf ihre verschiedenen Funktionen, denen sie dienen; sie untersucht im besonderen die Rückwirkung der Vermittlungsstrukturen auf die Orientierung und Strukturierung der Forschung selbst […] und die Möglichkeiten der Verständigung der Wissenschaften untereinander.“[6]

Vor diesem Hintergrund hat die Wissenschaftsdidaktik (mindestens) eine Doppelfunktion: Einerseits untersucht sie den Einfluss des Wissenschaftssystems auf Lehre, Forschung und Studieren. Andererseits geht es ihr um die Vermittlung in die und Funktion für die Gesellschaft und Fachgemeinschaft.

Fragen rund um die Vermittlung sind Ludwig Huber zufolge eigentlich Fragen an das Fach, „als Fragen, die zur Reflexion und Diskussion seiner Grundlagen, seiner Strukturen und Praktiken und letztlich seines Sinns herausfordern.“[7]

Die Wissenschaftsdidaktik betrachtet die Hochschuldidaktik als Wissenschaft und greift auf verschiedene disziplinäre Grundlagen zurück[8], darunter Wissenschaftsphilosophie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftsgeschichte, Wissenssoziologie, Pädagogik, aber auch speziellere Felder wie etwa die Diskursanalyse.

Eine wissenschaftsdidaktische Auseinandersetzung findet in unterschiedlichen Bereichen, Themenfeldern und Forschungszusammenhängen statt:[9][10]

  • Theoretische Grundlagen und historische Entwicklung
  • Reflexion und Praxis der Wissenschaftskritik
  • Verständigung und Aneignung von wissenschaftlichem Handeln
  • Reflexive und forschungsbasierte Praktiken (z. B. Scholarship of Teaching and Learning (SoTL), Design-based Research)
  • Fachspezifische Ansätze und Herausforderungen (z. B. Discipline-Based Educational Research)
  • Abgrenzung von Wissenschaftsdidaktik von anderen verwandten Ansätzen und im internationalen Diskurs der Forschung
  • Wissenschaftsdidaktik auf sich selbst bezogen: Wissenschaftsdidaktik für die Wissenschaftsdidaktik

Abgrenzung zu alternativen Begriffen von Didaktik

Eine pragmatische Sichtweise auf Hochschuldidaktik zielt direkt auf die Verbesserung von Hochschullehre, ohne sich mit deren Kontextbedingungen, Voraussetzungen, Definition und Folgen länger aufzuhalten.

Hochschuldidaktik als Theorie der Bildung und Ausbildung[11] fokussiert die Institution Hochschule. Ihr Thema sind die Prozesse der Hochschullehre, also des Lehrens von Wissenschaft, wobei sie insbesondere zu verstehen versucht, welche Anforderungen und Handlungsmöglichkeiten für die Gestaltung von Lehr-Lernsituationen in der Wissenschaft kennzeichnend sind. Eine besondere Herausforderung liegt beispielsweise darin, dass Lehrende an Universitäten selten und nicht umfassend für die Lehre ausgebildet sind, sondern sich für diese zunächst als Forscher qualifizieren.

Fachdidaktiken beschäftigen sich mit der Vermittlung eines einzigen Fachs, meist eines Schulfachs. Ihr Gegenstand sind fachspezifische Lern- und Lehrprozesse. In der Hochschullehre wird meist von fachspezifischer Hochschuldidaktik gesprochen.[12][13]

Wissenschaftsdidaktik ist stärker mit der wissenschaftlichen Arbeit integriert, da sie die spezielle Perspektive von Wissenschaft aufklärt, vermittelt und reflektiert bzw. kritisiert. Hartmut von Hentig und Ludwig Huber haben betont, dass Wissenschaft immer ein didaktisches Moment besitzt, da sie ohne Mitteilung ihrer Erkenntnissen an andere, ohne Veröffentlichung nicht denkbar ist.[14][7] Darüber hinaus hebt Hartmut von Hentig heraus, dass dabei Erkenntnis und Lernen wechselseitig verbunden sind (z. B. Wissen muss erlernt und gelehrt werden).[14] Wissenschaftsdidaktik als kritische Reflexion über Wissenschaft selbst ist damit mit der Kommunikation an Studierende, Laien der interessierten Öffentlichkeit und Fachkollegium interessiert.[3] Der Gegenstand der Wissenschaftsdidaktik reicht also über die Hochschule hinaus.

Wissenschaftsdidaktische Forschung und Abgrenzung zu anderweitiger didaktischer Forschung

Wissenschaftsdidaktische Forschung kann unter anderem in der (Hochschul-)Bildungsforschung, dem Scholarship of Teaching and Learning (SoTL) und dem Ansatz Design-based Research (DBR) stattfinden. SoTL zielt im Anschluss an Ludwig Huber darauf ab, dass Fachwissenschaftler aller Disziplinen ihre eigene Lehre sowie Zusammenhänge zwischen Forschung, Lehre und Studieren beforschen, reflektieren und theoretisieren, um daraus Schlüsse für die Weiterentwicklung von Hochschullehre, der Hochschuldidaktik und der pädagogischen Hochschulentwicklung im Allgemeinen zu ziehen[3]. Demgegenüber stellt DBR eine Forschungsperspektive in den Bildungswissenschaften und der Erziehungswissenschaft dar, nach der in iterativen Schritten und durch verschiedenartige didaktische Interventionen Lösungen für Problemstellungen in der Lehre entwickelt und in actu getestet werden.[15] Am Ende eines DBR-Projekts können beispielsweise theorie- und/oder empiriebasiert inhaltliche, methodische oder konzeptionelle Veränderungen in der Lehre umgesetzt werden.

Historische Entwicklung des Wissenschaftsdidaktik-Verständnisses

Eine wissenschaftsdidaktische Auseinandersetzung hat verschiedene historische Vorläufe, wie z. B. die Hodegetik. Unter Hodegetik wird die Lehre von der Anleitung zum Universitätsstudium und Universitätsleben verstanden.[16]

Darüber hinaus wurde bereits von Hartmut von Hentig in seinem Text Das Lehren der Wissenschaft darauf hingewiesen, dass Wissenschaft im Prozess der Erkenntnisgewinnung stets auch auf verschiedene weitere Aspekte angewiesen ist:[17]

  1. Erkenntnis wird zu Wissenschaft durch Mitteilung.
  2. Ob die Mitteilung gelingt hängt von der Verständlichkeit ab
  3. Wissenschaft ist standpunktabhängig: „Gewißheit heißt in der Wissenschaft nicht: für die Ewigkeit, sondern für alle, die heute daran zweifeln könnten.“[14]
  4. Erkenntnisbildung in der Wissenschaft steht in einem gewissen Zusammenhang und sucht potentiell Vollständigkeit.
  5. Sie ist arbeitsteilig organisiert und ist gekennzeichnet durch gewisse Formen von Spezialisierung.
  6. Wissen sollte „im rechten Augenblick der rechten Person verfügbar“[14] sein.
  7. Wissenschaft lebt von ihrer Unabschließbarkeit und Kontinuität.

Einrichtungen

An einer Weiterentwicklung wissenschaftsdidaktischer Forschung sind verschiedene Einrichtungen beteiligt:

Literatur

  • Hartmut von Hentig: Wissenschaftsdidaktik. In: ders. (Hrsg.): Referate und Berichte von einer Tagung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld am 11. und 12. April 1969. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1970, S. 11–40.
  • Ludwig Huber: Das Problem der Sozialisation von Wissenschaftlern. Ein Beitrag der Hochschuldidaktik zur Wissenschaftsforschung. In: Neue Sammlung. 14, Nr. 1, 1974, S. 2-–33.
  • Ludwig Huber: Fachkulturen. Über die Mühen der Verständigung zwischen den Disziplinen. In: Neue Sammlung. 31, Nr. 1, 1991, S. 3–24.
  • Tobias Jenert, Ingrid Scharlau: Wissenschaftsdidaktik als Verständigung über wissenschaftliches Handeln. Eine Auslegeordnung. In: Gabi Reinmann, Rüdiger Rhein (Hrsg.): Wissenschaftsdidaktik I: Einführung . 1. Aufl. transcript, Bielefeld 2022, S. 155–179 https://doi.org/10.14361/9783839460979
  • Gabi Reinmann: Was macht Design-Based Research zu Forschung? Die Debatte um Standards und die vernachlässigte Rolle des Designs. In: EDeR – Educational Design Research. 6, Nr. 2, 2022, S. 1–22. https://doi.org/10.15460/eder.6.2.1909
  • Gabi Reinmann, Rüdiger Rhein (Hrsg.): Wissenschaftsdidaktik I: Einführung. 1. Aufl. transcript, Bielefeld 2022. https://doi.org/10.14361/9783839460979
  • Gabi Reinmann, Rüdiger Rhein: Wissenschaftsdidaktik II: Einzelne Disziplinen. 1. Auflage. transcript, Bielefeld 2023, ISBN 978-3-8376-6295-5, doi:10.14361/9783839462959.

Diskussionen und Bibliographien zur Wissenschaftsdidaktik

Einzelnachweise

  1. Gabi Reinmann: Wissenschaftsdidaktik und ihre Verwandten im internationalen Diskurs zur Hochschulbildung. In: Wissenschaftsdidaktik I. transcript Verlag, 2022, ISBN 978-3-8394-6097-9, S. 280, doi:10.1515/9783839460979-013 (degruyter.com [abgerufen am 16. Juli 2023]).
  2. Webseite der Buchreihe beim transcript Verlag. Abgerufen am 26. Juni 2023.
  3. Ludwig Huber: SoTL weiterdenken! Zur Situation und Entwicklung des Scholarship of Teaching and Learning (SoTL) an deutschen Hochschulen. In: Hochschulwesen. Forum für Hochschulforschung, -praxis und -politik. Band 66, Nr. 1-2, 2018, S. 3341.
  4. Rüdiger Rhein: Theorieperspektiven zur Grundlegung von Wissenschaftsdidaktik. In: Gabi Reinmann, Rüdiger Rhein (Hrsg.): Wissenschaftsdidaktik I: Einführung. Band 1. transcript, Bielefeld 2022, ISBN 978-3-8394-6097-9, S. 24.
  5. Das ZfW: Wissenschaftsdidaktik an der RUB. In: Ruhr-Universität Bochum. Zentrum für Wissenschaftsdidaktik, 2023, abgerufen am 22. Juni 2023.
  6. Ludwig Huber: Das Problem der Sozialisation von Wissenschaftlern: Ein Beitrag der Hochschuldidaktik zur Wissenschaftsforschung. In: Neue Sammlung. Band 14, Nr. 1, 1974, S. 3.
  7. Ludwig Huber: Fachkulturen: Über die Mühen der Verständigung zwischen den Disziplinen. In: Neue Sammlung. Band 31, Nr. 1, 1991, S. 37.
  8. Hochschuldidaktik als Wissenschaft: Disziplinäre, interdisziplinäre und transdisziplinäre Perspektiven (= Hochschulbildung: Lehre und Forschung). 1. Auflage. transcript, Bielefeld 2023, ISBN 978-3-8376-6180-4.
  9. Wissenschaftsdidaktik I: Einführung (= Wissenschaftsdidaktik). 1. Auflage. transcript Verlag, Bielefeld, Germany 2022, ISBN 978-3-8376-6097-5, doi:10.14361/9783839460979.
  10. Wissenschaftsdidaktik II: Einzelne Disziplinen (= Wissenschaftsdidaktik). 1. Auflage. transcript Verlag, Bielefeld, Germany 2023, ISBN 978-3-8376-6295-5, doi:10.14361/9783839462959.
  11. Ludwig Huber: Hochschuldidaktik als Theorie der Bildung und Ausbildung. In: Ludwig Huber (Hrsg.): Ausbildung und Sozialisation in der Hochschule (= Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Band 10). Klett-Cotta, Stuttgart 1983, ISBN 3-12-932310-4, S. 114138.
  12. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung von Lehre und Studium. Köln 2008.
  13. Isa Jahnke, Johannes Wildt: Fachbezogene und fachübergreifende Hochschuldidaktik. 1. Auflage. wbv, Bielefeld 2011, ISBN 978-3-7639-4851-2.
  14. Hartmut von Hentig: Wissenschaftsdidaktik. In: Hartmut von Hentig (Hrsg.): Referate und Berichte von einer Tagung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld am 11. und 12. April 1969. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1970, S. 1140.
  15. Gabi Reinmann: Die Selbstbezüglichkeit der hochschuldidaktischen Forschung und ihre Folgen für die Möglichkeiten des Erkennens. In: Hochschulbildungsforschung. Springer Fachmedien Wiesbaden, Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-658-20308-5, S. 125–148, doi:10.1007/978-3-658-20309-2_8 (springer.com [abgerufen am 23. Juni 2023]).
  16. Herders Conversations-Lexikon. 1. Auflage. Band 3. Herder’sche Verlagshandlung, Freiburg im Breisgau 1855, S. 321322 (zeno.org).
  17. Hartmut von Hentig: Das Lehren der Wissenschaft. In: Frankfurter Hefte. Band 21, 1966, S. 169.
  18. Wissenschaftsdidaktik. In: Universität Hamburg. Hamburger Zentrum für Universitäres Lehren und Lernen, 2023, abgerufen am 23. Juni 2023.
  19. Das ZfW: Wissenschaftsdidaktik an der RUB. In: Ruhr-Universität Bochum. Zentrum für Wissenschaftsdidaktik, 2023, abgerufen am 23. Juni 2023.
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