Werkgerechtigkeit
Werkgerechtigkeit ist ein zentraler theologischer Begriff aus der lutherischen Rechtfertigungslehre. Sie steht für die Ansicht, man könne vor Gott gerechtfertigt sein, wenn man gute Werke tut.[1]
Geschichte
Alte Kirche
Die voraugustinischen Kirchenväter erheben die Rechtfertigung nicht ausdrücklich zum Gegenstand dogmatischer Reflexion. Zwar sprechen sie (in Aufnahme paulinischer Terminologie) davon, dass der Mensch aus Glauben, ohne Werke, aus Gnade gerechtfertigt werde. Gleichwohl betonen sie – oft aus seelsorgerlichen Gründen – die Bedeutung des Handelns des Menschen für die Erlangung seines Heils. Eine differenzierte Verhältnisbestimmung beider Aussagen erfolgt kaum.[2]
Bei Augustinus und hier v. a. in dessen Spätwerk wird die Rechtfertigungslehre im Rahmen der Gnadenlehre zum zentralen und rezeptionsgeschichtlich bedeutsamen Thema. Augustinus betont, dass der Mensch allein durch Gnade gerecht wird, nämlich durch die Gerechtigkeit Gottes. Der Mensch ist umfassend auf Gottes Gnade angewiesen, weil er nicht nur in einzelnen Taten sündigt, sondern als ganzer Mensch unter der Macht des peccatum originale, d. h. unter der Erbsünde steht, die durch den biologischen Zeugungszusammenhang vererbt wird.[2]
Reformation
Nach Martin Luthers (auch Zwinglis und Calvins) Lehre von der Rechtfertigung folgen die guten Werke aus dem Glauben.[3][4] Sie sind die Früchte des Glaubens.[3][5] Sie werden nicht getan, um die Rechtfertigung zu erlangen oder zu bewähren: »Gute fromme Werke machen nimmermehr einen guten frommen Mann, sondern ein guter frommer Mann macht gute fromme Werke«.[3][6] Erst müsse die Person durch den Glauben gut sein, dann können es auch die Werke sein.[3] Luther lehnte aufgrund seiner Theologia crucis[7] Werkgerechtigkeit ab[8] (z. B. in vielen Predigten)[9] und betonte die Rechtfertigung aus der Gnade Gottes[10] im Glauben an den erlösenden Tod und die Auferstehung Jesu Christi.[11][12]
Juden und Papstgläubigen warf Luther Werkgerechtigkeit als Fehler vor.[13] Als Hauptvertreter dieser Werkgerechtigkeit zählte Luther in frühen exegetischen Werken oft Papsttum, Judentum und Islam miteinander auf.[14] Für ihn missbrauchten diese Gruppen wie auch die „Schwärmer“ Gottes Gesetz zur Selbstrechtfertigung, spiegelten damit die Gefährdung aller Gläubigen und bedrohten deren endzeitliche Heilsgemeinschaft.[15] Seine Kritik an der Selbstrechtfertigung zielte zuerst auf die Christen selbst, nicht erst auf die Andersgläubigen.[16]
Konfessionen
Die mitgliederstärksten Bekenntnisgruppen,[17] die katholische Kirche und die protestantische Kirchen, lehren (z. B. durch die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre), dass der Mensch nicht aufgrund seiner guten Werke vor Gott gerechtfertigt werde, sondern durch Gottes Gnade.
In der evangelischen Theologie wird dies zusammengefasst in den Grundsätzen Sola gratia („allein aus Gnade“) und Sola fide („allein durch den Glauben“[18]).[10]
Einen weiteren Gegenentwurf zur Werkgerechtigkeit stellt die Prädestinations-Lehre des Calvinismus dar. Die reformierten Theologen Johannes Calvin und Ulrich Zwingli vertraten ursprünglich die schärfste Form der Prädestinationslehre, d. h. die grundsätzliche Vorherbestimmung jedes einzelnen Menschen entweder zur Seligkeit (ohne eigenen Verdienst) oder zur Verdammnis (ohne eigene Schuld) als „doppelte Prädestination“[18]
Gemeinschaften, denen von lutherischer oder reformierter Seite oft Werkgerechtigkeit vorgeworfen wird, sind u. a. die Quäker, Siebenten-Tags-Adventisten, Mennoniten und Zeugen Jehovas.[19]
Die orthodoxen Kirchen haben ein ambivalentes Verhältnis zur Lehre Luthers. Sie stimmen zwar der Reformation grundsätzlich zu, d. h., dass die katholische Kirche reformbedürftig war, lehnen jedoch den Protestantismus ab, d. h. den sich dort ausprägenden Individualismus, der die Heilsfrage individualisiere und subjektiviere[20] denn „wie bekomme ich einen gnädigen Gott, wie werde ich vor Gott gerecht?“, das waren die zentralen Fragen, die Luther lange Zeit beschäftigt hatten[21] und ihn schließlich zu dem Schluss führten, dass auch Konzilien sich irren können.[22] Luther sei demnach aus orthodoxer Sicht zwar kein Ketzer, aber auch kein Heiliger.[23]
Siehe auch
Literatur
Siehe: Rechtfertigungslehre
Einzelnachweise
- Werkgerechtigkeit, die. In: Duden. Dudenverlag, 2019, abgerufen am 24. November 2019: „Bedeutung – Auffassung, nach der der Mensch durch gute Werke vor Gott gerechtfertigt wird“
- Christiane Tietz: Rechtfertigung – II. Dogmengeschichtlich. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Auflage. Band 4, Mohr-Siebeck, Tübingen 2001, Sp. 103.
- Wolf Krötke: Gute Werke – II. Dogmatisch. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Auflage. Band 3, Mohr-Siebeck, Tübingen 2000, Sp. 1344.
- „vgl. Von den guten Werken, 1520, WA 6, 202–276“
- „vgl. CA 6, BSLK 60“
- „WA 7, 32,5-6“
- Reinhold Bernhardt / David Willis-Watkins: Theologia crucis. In: EKL Evangelisches Kirchenlexikon. 3. Auflage. Band 4. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996, ISBN 3-525-50141-2, S. 734.
- Matthias Viertel: Martin Luther und die Werkgerechtigkeit. In: rundfunk.evangelisch.de. Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik (GEP) gGmbH, 4. Juni 2016, abgerufen am 24. November 2019: „Das andere, also die guten Taten allein und möglichst viel darüber zu sprechen bezeichnete Luther als Werkgerechtigkeit, heute könnte man auch sagen als „Selbstgerechtigkeit“. Damit beschreibt der Reformator das menschliche Ansinnen, durch eigene Verdienste ein privilegiertes Verhältnis zu Gott zu bekommen. Werkgerechtigkeit ist es für Luther, wenn man etwa durch wohltätige Gaben sich eine Verrechnung für schuldiges Verhalten erhofft. Das alles spielt vor Gott keine Rolle, so war sich Luther sicher, vor Gott zählt allein der Glaube und kein noch so großes Opfer und erst recht kein imponierendes Gehabe.“
- A. Niebergall: Predigt. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 5, Mohr-Siebeck, Tübingen 1961, Sp. 522.„Wichtiger jedoch als die Form ist der Inhalt seiner Verkündigung: die iustificatio de fide ist allein Gegenstand der Predigt. Luther führt diesen Grundsatz in seinen Predigten mit einer genialen Monotonie durch. Nahezu jeder Text wird als Absage an die Werkgerechtigkeit und damit an das Papsttum, zugleich im Zusammenhang mit dem gesamten Skopus der Schrift, bes. des NT als eine Zusage der sündenvergebenden und damit die Existenz des Hörers treffenden und verwandelnden Gnade Gottes verstanden. Immer ist es Christus als »Deus praedicatus«, um den es in der Predigt geht;“
- Joachim Schäfer: Rechtfertigungslehre. In: Ökumenisches Heiligenlexikon. 21. Oktober 2018, abgerufen am 24. November 2019: „1513 erkannte Martin Luther bei der Lektüre des Römerbriefes, dass die Rechtfertigung allein aus Glaube, allein aus Gnade – sola fide, sola gratia erfolgt. Die Rechtfertigungslehre wurde zum zentralen Bekenntnis der Reformation, zum Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt: Zwar bleibt der Mensch ein sündiges Wesen, aber durch das Gnadengeschenk macht Gott ihn um Christus willen gerecht (Simul justus et peccator, zugleich gerecht und Sünder). Das Augsburger Bekenntnis und die Konkordienformel schrieben dieses Verständnis gültig fest.“
- Ingolf U. Dalferth: Glaube. In: EKL Evangelisches Kirchenlexikon. 3. Auflage. Band 2. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1989, ISBN 3-525-50132-3, 3. Systematisch-theologisch – 3.4.3. Luther, S. 196.
- Christian Gremmels: Arbeit. In: EKL Evangelisches Kirchenlexikon. 3. Auflage. Band 1. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1986, ISBN 3-525-50128-5, S. 239: »Was immer ihr tut, daran arbeitet von Herzen als für den Herrn und nicht für Menschen« (Kol 3,23). Im Glauben an die Auferstehung vollzieht sich die Relativierung und Entdämonisierung der Arbeit, die »nicht vergeblich ist in dem Herrn« (1 Kor 15,58). Obgleich Paulus von sich selbst sagt, er habe mehr als andere gearbeitet (1 Kor 15,10), denkt er »nicht daran, in dieser Arbeit den Grund, die Rechtfertigung ... seines Lebens zu suchen ... Sein Heil kommt von Gott, erschließt sich jenseits der Leistung.« Arbeit ist »Werk, nicht jedoch Werkgerechtigkeit des Menschen« (J.M. Lochman, 115).
- Bernd Buchner: Martin Luther und die Juden – Fragen und Antworten. In: Luther2017.de. Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, abgerufen am 14. Februar 2024.
- Stolle / Siegert 2000, S. 343, Fn. 118
- Hans-Martin Kirn: Israel als Gegenüber der Reformatoren. In: Folker Siegert (Hrsg.): Israel als Gegenüber. Göttingen 2000, S. 293.
- Ekkehard Wohlleben: Die Kirchen und die Religionen. Perspektiven einer ökumenischen Religionstheologie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-56551-8, S. 153.
- Christentum aus religionswissenschaftlicher Sicht. In: REMID. Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V., 27. Mai 2019, abgerufen am 5. Dezember 2019.
- G. Gloege: Dualismus. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 2, Mohr-Siebeck, Tübingen 1958, Sp. 275.„Das neue Verständnis des Paulus und Augustins durch die Reformatoren ließ dualistische Motive aufleben, stärker bei Luther (die großen »exclusivae«: allein der Glaube usw.) als bei Calvin. Immerhin dienen diese der Interpretation der Freiheit und Lebendigkeit Gottes. So bei Luther die Unterscheidungen von Deus absconditus und Deus revelatus, Gesetz und Evangelium ..., den zwei »Reichen« (Regiment), bei Calvin die doppelte Prädestination. Jedoch wurde die Grenze zum Dualismus (Flacius' Erbsündenlehre) deutlich gewahrt.“
- Michael Utsch: Die Zeugen Jehovas – Einschätzung. (pdf) In: Kompakt-Infos – Jehovas Zeugen. Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), Juli 2017, abgerufen am 2. Dezember 2019: „Jehovas Zeugen beeindrucken durch ihr persönliches Engagement, ihre Rastlosigkeit und ihr oftmals glaubwürdiges Auftreten. Aber dies ist nur die eine Seite. Hinter ihrer Fassade erweist sich diese Gemeinschaft sehr schnell als restriktive Organisation, die von den Anhängern blinden Gehorsam erwartet und für kritische Rückfragen, Einwände oder Bedenken keinen Raum hat. Ein durchschnittlicher aktiver Zeuge Jehovas investiert pro Monat etwa 17 Stunden seiner Freizeit in die Missionstätigkeit. Hinzu kommen noch mehrere Stunden pro Woche für Schulungen, Gottesdienste und freiwillige Arbeiten am örtlichen Gemeindehaus. Wenn man sich vor Augen hält, dass jede Zeugin und jeder Zeuge Jehovas am Ende jeden Monats im „Predigtdienstbericht“ akribisch dokumentieren muss, wie viele Stunden im Predigtdienst, bei der Literaturverbreitung, beim Bibelstundenbesuch, bei der Wachtturm-Lektüre oder bei Besuchsdiensten verbracht wurden, kann man sich den inneren Druck ausmalen, unter dem jedes Mitglied steht. Die Wachtturmgesellschaft schuf ein geschlossenes ideologisches System, das jedem Einzelnen seinen Platz zuordnet. Mehr noch: Ein Überleben des Weltendes wird einzig den eigenen Anhängern versprochen, die sich durch fortwährende Beteiligung an den Werbeaktivitäten für die Religionsgemeinschaft zu bewähren haben.“
- Marios Begzos: Luther im Licht der orthodoxen Theologie. (pdf) In: 14. Heidelberger Ökumenisches Forum. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 18. Juli 2008, abgerufen am 6. Dezember 2019: „Das wichtigste Erkennungszeichen des Protestantismus ist der Individualismus. Die Betrachtung des Glaubens als Privatsache, die Individualisierung der Heilsfrage, der Subjektivismus und der Individualismus sind grundlegende Charakteristika des Protestantismus.“
- Rechtfertigung allein aus Glauben. In: Glaube & Spiritualität – Was ist evangelisch? – Theologische Unterschiede – Rechtfertigung allein aus Glauben. Evangelische Landeskirche in Baden, abgerufen am 6. Dezember 2019: „„Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Wie werde ich vor Gott gerecht?“ – dies ist die Frage, die Martin Luther so lange Zeit beschäftigte. Für ihn war sie eine sehr persönliche und existentielle Frage. Er stellte sie sich nicht aus rein philosophischem und theologischem Interesse – sondern aus Angst. Aus Angst, vor Gott im Jüngsten Gericht nicht bestehen zu können – und von ihm zur ewigen Verdammnis verurteilt zu werden. Aus Angst, dass alle seine guten Werke, seine Selbstkasteiungen, ja selbst sein Leben als Mönch nicht ausreichen würden, um Gott gnädig zu stimmen.“
- Johannes R. Nothhaas: Schrift oder Kirche? In: Orthodoxie in Deutschland. Thomas Brodehl, abgerufen am 6. Dezember 2019: „Diese Auffassung von Kirche übernahm Martin Luther. Als er nach der Auseinandersetzung um den seelsorgerlichen Missbrauch des Ablasses zu einem öffentlichen Disput mit dem Vertreter der Kirche, Dr. Eck, 1519 in Leipzig geladen war, äußerte er den für die damalige Theologie revolutionären Satz: ‚Auch Konzilien können irren‘.“
- Marios Begzos: Luther im Licht der orthodoxen Theologie. (pdf) In: 14. Heidelberger Ökumenisches Forum. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 18. Juli 2008, abgerufen am 6. Dezember 2019: „Wenn wir nun unseren Gedankengang zur Einschätzung Luthers aus der Sicht der orthodoxen Theologie heute schließen müssen, sind wir noch eine kurze, wenn auch vorläufige und in jedem Fall persönliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage schuldig: Wer ist Luther für die Orthodoxie? Die gegebenen Antworten bieten weiterhin ein ambivalentes Bild. Überaus treffend haben diese Ambivalenz die Organisatoren eines ökumenischen Symposions vor fast fünfundzwanzig Jahren formuliert. Der Textband des Symposions trägt den Titel: ‚Weder Ketzer noch Heiliger. – Luthers Bedeutung für den ökumenischen Dialog.‘ (Tutzing 3.–5. Juli 1981: Regensburg 1982). Ein orthodoxer Theologe würde eine ähnliche Formulierung zur Person Luthers heute ohne weiteres unterschreiben können. Weder Ketzer noch Heiliger.“