Wer hat Angst vor Braunau?
Wer hat Angst vor Braunau?, Untertitel Ein Haus und die Vergangenheit in uns,[2] (engl. Titel: Who is afraid of Hitler´s town? A house and the past within us" [3] ) ist ein österreichischer Dokumentarfilm aus dem Jahr 2023 von Günter Schwaiger. Für das Drehkonzept und die Produktion zeichneten Julia Mitterlehner und Schwaiger verantwortlich.[4] Premiere war auf dem Filmfestivals Der neue Heimatfilm am 23. August 2023 in Freistadt, wo der Film im Dokumentarfilmwettbewerb[5][6][7] als Eröffnungsfilm lief und den Publikumspreis gewann.[8] Er kam am 1. September 2023 in Österreich in die Kinos.[4]
Inhalt
Regisseur Günter Schwaiger hatte sich vor Beginn der Arbeiten zum Film 2018 gefragt, warum in Österreich noch nie ein Film über die oberösterreichische Stadt Braunau am Inn, den Geburtsort von Adolf Hitler und das dortige Adolf-Hitler-Geburtshaus gedreht wurde. Am 14. Dezember 2016 war vom österreichischen Parlament ein Gesetz zur Enteignung der bisherigen Besitzerin verabschiedet worden. Das Gebäude ging in den Besitz der Republik Österreich über.[4][9]
In den folgenden fünf Jahren verfolgte Günter Schwaiger die Entwicklungen rund um die Nachnutzung des Gebäude. Im Film lässt er Bürger der Stadt zu Wort kommen, unter anderem Polizeibeamte vor Ort, die ehemalige SPÖ-Vizebürgermeisterin Lea Olczak und die Geschichtslehrerin Annette Pommer. Sie berichten unter anderem von negativen Reaktionen, wenn sie im Gespräch ihre Heimatstadt erwähnten. Der Weg führt Schwaiger schließlich auch in die eigene Familiengeschichte.[4][10]
Kontroverse
Bei den Recherchen zum Film stieß der Historiker Florian Kotanko auf einen Zeitungsartikel in der Neuen Warte am Inn vom 10. Mai 1939,[7][11] in dem sich Hitler eine administrative Nutzung des Gebäudes gewünscht haben soll. Mit den Plänen, in dem Haus eine Polizeiinspektion einzurichten, würde laut Kotanko im Prinzip Hitlers Wunsch entsprochen.[7][10][12]
Der Historiker Oliver Rathkolb, Mitglied der Kommission zum Umgang mit dem Geburtshaus Hitlers, ist der Ansicht, es sei nicht belegt, dass es diese Aussage Hitlers wirklich gegeben habe, da es sich lediglich um eine Zeitungsmeldung handle.[7][10] Er nannte Schwaigers Schlussfolgerungen gegenüber der Austria Presse Agentur absurd. Es sei kein Dokument, sondern eine aufgebauschte Zeitungsmeldung. Es mache ihn sprachlos, dass eine Poliziestelle als Einrichtung des Innenministeriums mit einer NSDAP-Kreisleitung verglichen würde.[13][14]
Der Leiter des Archivs der Stadt Braunau, Florian Kotanko, der im Film prominent zu Wort kommt, sagte hingegen: „Dass es sich bei einem Artikel aus einer Zeit, in der die NSDAP bereits alles kontrollierte und in dem der Name Hitler vorkommt, um das Produkt eines Schriftleiters handelt, kann ich nicht glauben.“ Auch für Schwaiger klingt das „unwahrscheinlich“. Beide machten in der Pressekonferenz mehrmals klar, dass man Kreisleitung und Polizei keinesfalls gleichsetzen wolle.[15]
Produktion
Die Dreharbeiten fanden an 60 Drehtagen von Juli 2020 bis August 2022 in Braunau am Inn statt.[4]
Produziert wurde der Film von der Dim Dim Film OG (Produzenten Julia Mitterlehner und Günter Schwaiger). Unterstützt wurde der Film vom Österreichischen Filminstitut, Filmstandort Austria (FISA), vom Land Oberösterreich und dem Land Salzburg, dem Zukunftsfonds der Republik Österreich, sowie der Stadt Salzburg.[4]
Die Kamera führte Günter Schwaiger, der die Montage gemeinsam mit Martin Eller verantwortete. Die Musik schrieb Roland Hackl, den Ton gestalteten Stefan Rosensprung, Julia Mitterlehner und Design Menura Film.[4]
Rezeption
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung[16] lobt Hannes Hintermeier den Film und nennt ihn eine „Filmdokumentation mit politischem Sprengsatz“. Schwaigers Film gehe behutsam vor, um das unsagbare Etwas ans Licht zu befördern.
In der Zeit nennt Christian Bartlau den Film „eine sehr persönliche Abrechnung mit der österreichischen Geschichtspolitik“.[17]
Christoph Hartner schrieb in der Kronen Zeitung, Günter Schwaigers Fund im Braunauer Archiv und dieser sehr persönliche Film, in dem Schwaiger auch die eigene Familiengeschichte aufarbeite, könnten einen Denkanstoß liefern, wie es in der Causa weitergehen könne. Die Gespräche Schwaigers mit der 100-jährigen Lea Olczak, der ältesten Braunauerin, seien besonders berührend.[18]
Andreas Kepplinger meinte auf subtext.at, dass die 150 Stunden Material so unterschiedlich in Stil, Qualität und Erzählweise seien, dass sie in dieser Zusammenstellung oft nur schwer zusammenpassten. Alleine die 100-jährige Vizebürgermeisterin Lea Olczak, die mit wachem Geist und mahnenden Worten erzählt, was sie als Kind in Braunau erlebt hat, hätte ihren eigenen Film verdient gehabt. Eine klare Linie und eine Reduktion auf weniger Erzählstränge wäre besser gewesen. So seien es fünf Filme in einem Film mit redaktionellen Schwächen geworden.[19]
Die österreichische Jugendmedienkommission erteilte dem Film das Prädikat „Empfehlenswert als Dokumentarfilm ab 14 Jahren.“ Dabei wurde hervorgehoben: „Durch eine differenzierte Schilderung von Zeitzeugen wird die Vergangenheit greifbar gemacht, während Vorurteile gegenüber der Stadt Braunau kritisch beleuchtet werden. Der Film zeigt eindrucksvoll auf, wie die Mitschuld vergangener Generationen die nachfolgenden prägt. Persönliche Lebensgeschichten werden geschickt mit historischen Ereignissen verwoben, wodurch ein emotionales und tiefgehendes Verständnis entsteht. Angesichts schwindender Zeitzeugen wird dieser Film zu einem wichtigen Dokument, das die Bedeutung der Aufarbeitung und Weitergabe der Geschichte betont.“[20]
Julia Schafferhofer befand in der Kleinen Zeitung, dass der berührendste Moment von der fast 100-jährigen Sozialdemokration und Ex-Bürgermeisterin Lea Olczak komme, deren Familie einst polnischen Zwangsarbeitern Unterschlupf gewährte. Sie sprach sich für eine sozial-karitative Nachnutzung des Hauses aus „weil der Hitler dagegen wäre“. Schafferhofer meinte, dass etwas mehr historische Expertise und Gedächtnisforschung dem empathischen Film nicht geschadet hätte. Gleichzeitig habe der Film die Debatte um diesen Ort ist neu entfacht.[21] Colette M. Schmidt schreibt im Standard: "Auf der Suche nach Antworten zu Schuld und verdrängter Geschichte ist dem Filmemacher Günter Schwaiger mit dem Dokumentarfilm über das „Hitler-Haus“ ein vielschichtiges Porträt über Braunau gelungen."[22] In der Tageszeitung Die Presse bezeichnet Rosa Schmidt-Vierthaler den Film als "Plädoyer für Aufarbeitung".[23] Näher mit der Struktur des Filmes beschäftigt sich Sabina Zeithammer im Falter. Sie schreibt, die mehrmalige Fokusveränderung habe sich als charmant-hemdsärmelige Mischung niedergeschlagen: Schwaiger liefere mit ein selbstbewusst improvisiertes Filmmosaik.[24] Weiters ist der Film auch international auf Resonanz gestoßen; beispielsweise beim britischen Guardian[25], der französischen Zeitung Le Figaro[26], der argentinischen Zeitung Los Andes[27], der spanischen Nachrichtenagentur EFE[28], den israelischen Zeitungen Jerusalem Post[29] und Haaretz[30], der Washington Post[31] und der New York Times[32].
Auszeichnungen und Nominierungen
Filmfestival Der neue Heimatfilm 2023
- Auszeichnung mit dem Publikumspreis[33]
Franz-Grabner-Preis 2024
Weblinks
- Wer hat Angst vor Braunau? auf dimdimfilm.com
- Wer hat Angst vor Braunau? auf stream.hofer-filmtage.com
- Wer hat Angst vor Braunau? bei IMDb
- Wer hat Angst vor Braunau? bei crew united
Einzelnachweise
- Alterskennzeichnung für Wer hat Angst vor Braunau? Jugendmedienkommission.
- Wer hat Angst vor Braunau? In: dimdimfilm.com. Abgerufen am 22. August 2023.
- Who is Afraid of Hitler’s Town? A House and the Past Within Us. Abgerufen am 4. April 2024 (englisch).
- Österreichisches Filminstitut. Abgerufen am 22. August 2023.
- Valerie Dirk: "Der neue Heimatfilm" ist zu Hause in der Welt. In: DerStandard.at. 24. August 2023, abgerufen am 25. August 2023.
- Karin Seyringer: „Wer hat Angst vor Braunau?“ in den Kinos: Eine Doku „die uns vielleicht allen gut tut“. In: tips.at. 21. August 2023, abgerufen am 22. August 2023.
- Colette M. Schmidt: "Hitler-Haus"-Diskussion durch Doku über Braunau neu entfacht. In: DerStandard.at. 21. August 2023, abgerufen am 22. August 2023.
- Festival #36 Der Neue Heiatfilm. Filmfestival Freistadt, abgerufen am 28. August 2023.
- Republik Österreich: Bundesgesetzblatt I Nr. 4/2017 (NR: GP XXV RV 1250 AB 1389 S. 157. BR: AB 9713 S. 863.) – Bundesgesetz über die Enteignung der Liegenschaft Salzburger Vorstadt Nr. 15, Braunau am Inn. 13. Januar 2017, abgerufen am 19. Februar 2021.
- Braunau: Kritik an Nutzungsplänen von Hitlers Geburtshaus. In: zeit.de/dpa. 21. August 2023, abgerufen am 22. August 2023.
- Das Geburtshaus des Führers. In: Neue Warte am Inn, 10. Mai 1939, S. 3 (online bei ANNO). Zitat: „Das Geburtshaus des Führers: Der Führer hat sein Geburtshaus der Kreisleitung Braunau zur Verfügung gestellt. Über seinen Wunsch ist es zu Kanzleien der Kreisleitung umzubauen“
- Geschichte - Braunau am Inn: Kritik an Nutzung des Hitler-Hauses als Polizeiinspektion. In: sueddeutsche.de/dpa. 21. August 2023, abgerufen am 22. August 2023.
- Doku stellt Nachnutzungspläne für Hitler-Geburtshaus infrage. In: science.apa.at. 21. August 2023, abgerufen am 22. August 2023.
- Erneut Debatte über Hitlers Geburtshaus. In: ORF.at. 21. August 2023, abgerufen am 22. August 2023.
- Julia Brader: Innenministerium komme Wunsch Hitlers nach: Regisseur kritisiert Nachnutzungspläne von Geburtshaus. 21. August 2023, abgerufen am 28. August 2023.
- Hannes Hintermeier: Adolf Hitler: Dokumentarfilm über Braunau und das Geburtshaus. In: FAZ.NET. 21. August 2023, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 28. August 2023]).
- Christian Bartlau: Geburtshaus von Adolf Hitler: Ein unscheinbarer Bau in Zahnbelag-Gelb. In: Die Zeit. 28. August 2023, abgerufen am 28. August 2023.
- Christoph Hartner: So erfüllt Österreich den Wunsch von Adolf Hitler. 20. August 2023, abgerufen am 28. August 2023.
- Andreas Kepplinger: Wer hat Angst vor Braunau? In: subtext.at. 25. August 2023, abgerufen am 27. August 2023.
- Filmdatenbank der Jugendmedienkommission. Abgerufen am 28. August 2023.
- Julia Schafferhofer: Das „braune Haus“ in Braunau und welche Filme sich (nicht) lohnen. In: Kleine Zeitung. 31. August 2023, abgerufen am 1. September 2023.
- Colette M. Schmidt: Dokumentarfilm: Die belastete Stadt mit dem "Hitler-Haus". In: Der Standard. Abgerufen am 2. September 2023 (österreichisches Deutsch).
- Rosa Schmidt-Vierthaler: Die „Angst vor Braunau“ als Plädoyer für Aufarbeitung. In: Die Presse. 31. August 2023, abgerufen am 2. September 2023.
- Sabina Zeithammer: „Hinter die Familienfassade der Österreicher schauen“. In: Falter. Abgerufen am 2. September 2023.
- Agence France-Presse: Hitler’s birth house in Austria to be turned into police station. In: The Guardian. 22. August 2023, abgerufen am 6. September 2023.
- La maison de Hitler bientôt transformée en poste de police. 21. August 2023, abgerufen am 4. April 2024 (französisch).
- Austria convertirá la casa natal de Hitler en un puesto de Policía y centro de formación en DDHH. In: Los Andes. 21. August 2023, abgerufen am 6. September 2023 (spanisch).
- javagrval: La casa de Hitler como símbolo de los problemas de Austria para confrontar su pasado nazi. 24. August 2023, abgerufen am 4. April 2024 (europäisches Spanisch).
- Toby Axelrod: Austria’s plans for Hitler’s birth house stir controversy. In: The Jerusalem Post. Abgerufen am 6. September 2023 (englisch).
- Liam Hoare: The battle over Austrian plans to turn Hitler’s first home into a police station. In: Haaretz. 21. September 2023 (haaretz.com [abgerufen am 4. April 2024]).
- Ellen Francis: Hitler’s birth house will become a police station to keep neo-Nazis away. In: Washington Post. 3. Oktober 2023, ISSN 0190-8286 (washingtonpost.com [abgerufen am 4. April 2024]).
- https://www.nytimes.com/2023/11/19/world/europe/austria-germany-hitler-birthplace.html
- Oskar Fleischanderl: Der Neue Heimatfilm 2023: Die Gewinnerfilme. In: subtext.at. 29. August 2023, abgerufen am 29. August 2023.
- Franz-Grabner-Preis: Die Nominierungen 2024. In: ots.at. 19. März 2024, abgerufen am 19. März 2024.
- Braunau-Projekt erhält einen Dokupreis der Diagonale. In: Salzburger Nachrichten/APA. 6. April 2024, abgerufen am 7. April 2024.