Wāʿiẓ
Ein Wāʿiẓ, (arabisch واعظ ‚(Mahnender) Prediger‘) auf türkisch auch Vaiz, ist die ab dem 10. Jahrhundert entstandene Bezeichnung für einen islamischen Prediger.
Etymologie
Das Wort wird abgeleitet von der arabischen Wurzel w-ʿ-ẓ, die ihrerseits mit der hebräischen Wurzel y-ʿ-ṣ verwandt ist, wo das Wort ’’yoʿeṣ’’ den Berater eines Königs, meist in weltlichen Angelegenheiten, bezeichnet; der religiöse Charakter fehlt dort jedoch gänzlich. In der arabischen Sprache bedeutet die Wurzel وعظ soviel wie ‚Warnung, Predigt, Paränese‘.[1][2] Sofern diese Wurzel im Koran Verwendung findet, ist damit immer eine Ermahnung gemeint, zum Beispiel:[3][4]
«قَالَ يَـٰنُوحُ إِنَّهُۥ لَيْسَ مِنْ أَهْلِكَ ۖ إِنَّهُۥ عَمَلٌ غَيْرُ صَـٰلِحٍ ۖ فَلَا تَسْـَٔلْنِ مَا لَيْسَ لَكَ بِهِۦ عِلْمٌ ۖ إِنِّىٓ أَعِظُكَ أَن تَكُونَ مِنَ ٱلْجَـٰهِلِينَ»
„Gott (w. Er) sagte: Noah! (Nein!) Er gehört nicht zu deiner Familie. Das (d.h. daß du dich bei mir für ihn einsetzt) ist nicht recht gehandelt. Bitte mich nicht um etwas, worüber du kein Wissen hast! Ich ermahne dich: Sei doch kein Tor!“
«قُلْ إِنَّمَآ أَعِظُكُم بِوَٰحِدَةٍ ۖ أَن تَقُومُوا۟ لِلَّهِ مَثْنَىٰ وَفُرَٰدَىٰ ثُمَّ تَتَفَكَّرُوا۟ ۚ مَا بِصَاحِبِكُم مِّن جِنَّةٍ ۚ إِنْ هُوَ إِلَّا نَذِيرٌ لَّكُم بَيْنَ يَدَىْ عَذَابٍ شَدِيدٍ»
„Sag: Ich ermahne euch zu einem allein: Tretet zu zweit oder einzeln vor Gott und denkt hierauf nach! Euer Landsmann (d.h. Mohammed) ist (doch) nicht besessen (w. hat keinen Dschinn (in sich)). Er ist nichts als einer, der euch vor einer schweren Strafe warnt.“
Aufgaben
Im Gegensatz zum Chatib, dessen Aufgabe darin besteht, im Rahmen des Freitagsgebets eine Predigt zu halten, konnte ein Wāʿiẓ zu jede Zeit und an jedem Ort tätig werden. Versammlungen, in denen solche (ermahnenden) Reden gehalten wurden, nannte man ’’madschlis al-waʿẓ’’ oder auch ’’madschlis al-dhikr’’ (das Wort Dhikr, dass sich von der Wurzel dh-k-r ableitet, hat eine ähnliche Bedeutung, jedoch ist bei diesem Wort der Bezug zur Ermahnung schwächer ausgeprägt).[2]
Die Anwesenheit eines wā‘iẓ, der oft einen Stock haltend auf einem Stuhl saß, zog vielfach große Massen an, auch die Herrschenden nahmen an solchen Veranstaltungen teil, jedoch waren die Ansprachen immer an die Allgemeinheit adressiert. Ab dem 11. Jahrhundert wurden die Aufgaben des Wāʿiẓ institutionalisiert. Nizām al-Mulk führte dies erstmals an der Nizāmīya in Bagdad vor. Gerade dort wurden das das Amt und die Würde des wā‘iẓ oft instrumentalisiert im Konflikt zwischen unterschiedlichen Schulen oder Anschauungen.
Themen der Predigten waren oft die Gefahren des weltlichen Lebens, die Bedrohung durch den Tod oder die Schwäche der Seele; diese Ermahnungen sollten zur Selbstreflexion und zur Selbstermahnung anregen. Kritisiert wurde die oft exzessive Nutzung von Poesie in solchen Predigten neben den kanonischen islamischen Quellen (Koran und Ahadith). Die Predigten, genannt als ʿiẓa (عظة), sind oft in der literarischen Gattung der Reimprosa gehalten und auch schriftlich überliefert worden.
Literatur
- Angelika Hartmann: Islamisches Predigtwesen im Mittelalter: Ibn al-Gawzi und sein „Buch der Schlussreden“. In: Saeculum, 38, (1987), S. 336–66
- G. Makdisi: The rise of humanism in classical Islam and the Christian West. Edinburgh 1990, S. 182–200
- W. Radtke in: Encyclopaedia of Islam 2nd edition, Band XI, Brill, Leiden 2002, S. 56.
Einzelnachweise
- Hans Wehr: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. 5. Auflage. Harrassowitz, Wiesbaden 1985, ISBN 3-447-01998-0, S. 1416.
- Fr. Dieterici: Arabisch-Deutsches Handwörterbuch zum Koran und Thier und Mensch vor dem König der Genien. J.C. Hinrich’sche Buchhandlung, Leipzig 1894, S. 57 und S. 178.
- Website von Corpus Coranicum. Abgerufen am 19. Juni 2022.
- Website von Corpus Coranicum. Abgerufen am 19. Juni 2022.