Vorsehung
Der Begriff Vorsehung bezeichnet allgemein eine höhere Macht, die das Schicksal der Menschen und den Lauf der Weltgeschichte beeinflusst. Die genauen Beschreibungen der Vorsehung sind u. a. aufgrund verschiedener Gottesvorstellungen unterschiedlich und teilweise widersprüchlich.
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Der Heidelberger Katechismus (Antwort 27) versteht unter der Vorsehung Gottes:
Die allmächtige und allgegenwärtige Kraft Gottes (Apg 17,25–28 ), durch die er Himmel und Erde samt allen Kreaturen, gleichwie mit seiner Hand, noch immer erhält (Hebr 1,3 ) und so regiert, dass Laub und Gras, Regen und Dürre, fruchtbare und unfruchtbare Jahre, Essen und Trinken (Jer 5,24 ; Apg 14,17 ), Gesundheit und Krankheit (Joh 9,3 ), Reichtum und Armut (Spr 22,2 ), überhaupt alles, nicht aus Zufall, sondern von seiner väterlichen Hand uns zukommt.[1]
Vorsehung im Christentum
Die Vorsehung (lat. providentia) kommt dem allmächtigen und allwissenden Gott zu, insofern er den Verlauf des Welt- und Heilsgeschehens ordnet und gegebenenfalls schon im Voraus weiß. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen: gemäß den Naturgesetzen, durch Wunder, durch zuvorkommende Gnade, durch Mitwirkung mit dem freien Willen vernunftbegabter Geschöpfe oder durch Zulassung der Sünde, auch wenn diese das aktive Mitwirken Gottes ausschließt.
„Es gibt in der Verkündigung Jesu eine Lehre, die das Ganze des Daseins umfaßt und es jeweils auf den einzelnen Menschen ausrichtet: die Botschaft von der Vorsehung. Danach wird, was immer in der Welt ist und vor sich geht, durch die Liebe, Weisheit und Macht des Vaters zum Heil des glaubenden Menschen gelenkt.“
Die augustinische Lehre von der Prädestination oder Vorherbestimmung handelt davon, welche Menschen dafür vorgesehen sind das ewige Leben zu erreichen. Die Prädestination des Menschen war zu keiner Zeit Teil der römisch-katholischen Glaubenslehre, weil die Vorherbestimmung den freien Willen des Menschen letztlich widerspricht, während die Vorsehung dem freien Willen des Menschen breiten Raum lässt. Seit der Neuzeit greift vor allem die protestantische Rechtfertigungslehre diese Idee auf.[2]
Im Bezug auf Ereignisse, die man als Übel erlebt, obwohl man sich Gott darin doch unterwirft, ist der geradezu volkstümliche[3] Begriff vom unerforschlichen Ratschluss für die Vorsehung gebräuchlich. Das gilt in diesem Zusammenhang auch für die Zulassung der Sünde, der conditio humana, oder Unglücks- bzw. Todesfälle.
„Nicht daß es dem Menschen in der Zeit wohlergehe, bildet den eigentlichen Sinn der Vorsehung, sondern daß ‚das Reich Gottes‘ komme und »seine Gerechtigkeit« sich erfülle; die neue Schöpfung und der Mensch der Ewigkeit sich vollenden.“
Die Enzyklika Caritas in veritate von Papst Benedikt XVI. verweist mehrmals auf die Vorsehung und schließt mit einer Aufforderung zum Gebet, die auch das „Sich-Anvertrauen an die göttliche Vorsehung“ umfasst.[4]
Die Providenzkirche in Heidelberg wurde ab 1659 erbaut. Da die Kirche auf Initiative von Kurfürst Karl Ludwig entstand, dessen Leitspruch Dominus providebit (lat. der Herr wird sorgen) lautete, erhielt sie den Namen Providenzkirche.
Säkularer Gebrauch
Die Vokabel gehört oft auch zum Wortschatz und zur Ideenwelt von Diktatoren und Revolutionären, die sich für ein Werkzeug der göttlichen Vorsehung halten. Es gab zum Beispiel Naziführer, die in diesem Zusammenhang vom Schicksal sprachen. Diese Vorstellung des Schicksalsglaubens wurde durch die katholische Kirche lehramtlich verurteilt.[5] Sie lehrt:
„„Alles aber, was er geschaffen hat, schützt und lenkt Gott durch seine Vorsehung, ‚sich kraftvoll von einem Ende zu anderen erstreckend und alles milde ordnend‘ [ Weish 8,1 ]. ‚Alles nämlich ist nackt und bloß vor seinen Augen‘ [ Hebr 4,13 ], auch das, was durch die freie Tat der Geschöpfe geschehen wird.““
Vorsehung in der antik-römischen Mythologie
In der römischen Mythologie war Providentia die Göttin der Vorsehung, die über dem Kaiser und damit allen Bürgern waltete.
Vorsehung im Islam
Die göttliche Vorsehung ist einer der sechs Glaubensartikel im Islam.
Das arabische Wort Qadar wird normalerweise mit den Wörtern Schicksal oder Bestimmung übersetzt. Trotzdem hat der Mensch nach Ansicht der Mehrheit der Gelehrten einen freien Willen. Er kann frei wählen, ob er sich für oder gegen ein Leben mit Gott entscheidet. Diese Entscheidung hat jedoch im Jenseits Konsequenzen.
Gott ist nach islamischer Auffassung allmächtig und völlig unabhängig (vgl. Sure 112:2). Damit hat er auch die Möglichkeit, in die Zukunft zu sehen. Er weiß bereits, dass ein Ereignis eintreten wird, bevor es überhaupt passiert, denn als die Schöpfung des Menschen begann, wurden alle zukünftigen Geschehnisse bereits in einem Buch niedergeschrieben. So heißt es im Koran:
„Kein Unglück trifft ein auf der Erde oder bei euch selbst, ohne dass es in einem Buch stünde, bevor Wir es erschaffen.“
Die Existenz eines freien Willens des Menschen ist im Islam seit frühester Zeit stark umstritten. In der Sicht der orthodoxen Gläubigen (Dschabrı̄ya) wird mit der Postulierung eines freien Willens Gottes Allmacht geleugnet. Die Gegenseite (Mu’tazila) argumentiert: würde der Mensch nicht frei über sein Schicksal entscheiden können, hätte ein gerechter Gott keine Möglichkeit über ihn zu richten. Zwischenpositionen (Aš'arīya) gestehen dem Menschen beschränkte Handlungsfreiheit zu, bestehen aber darauf, dass alles tatsächliche Geschehen von Gott allein bestimmt sei.
Heutige sich als gläubig bezeichnende Muslime rechnen sich eher der der Vorbestimmungs- als der Freier-Willen-Fraktion zu. Ihr Glaube an die Vorherbestimmtheit ihres eigenen Schicksals und an fehlende eigene Einflussmöglichkeiten bestimmt ihre Handlungsweise oft maßgeblich. Gleichzeitig versuchen Dschihadisten und islamische Extremisten durch eigene Entscheidung ihren Einzug ins Paradies aufgrund eines göttlichen Versprechens zu erreichen. Das ist nur vordergründig widersprüchlich, denn natürlich ist auch die persönliche Entscheidung von Gott längst vorherbestimmt.
Nach islamischer Überlieferung muss es Ereignisse gegeben haben, welche von Gott vorherbestimmt waren. Ein Beispiel für ein solches Ereignis ist die Verbannung des Menschen aus dem Paradies. So heißt es bei Muslim:
„Abu Huraira berichtete, dass Gottes Gesandter sagte: Es gab einst einen Streit zwischen Adam und Moses. Moses sagte zu Adam: Du bist unser Vater. Du hast uns Schaden zugefügt und warst der Grund für unsere Verbannung aus dem Paradies. Darauf sagte ihm Adam: Du bist Moses. Gott erwählte dich und schrieb für dich mit Seiner eigenen Hand das Buch (Torah). Trotzdem gibst du mir die Schuld für eine Tat, die Gott bereits 40 Jahre vor meiner Schöpfung bestimmt hat.“
Dies zeigt, dass nach islamischem Glauben wichtige Ereignisse in der Menschheitsgeschichte bereits vorherbestimmt sind. Zusammenfassend soll hier noch von einer Allegorie Alis, dem Sohn des Abu Talib, berichtet werden. Er verglich den menschlichen Lebensweg mit der Reise eines Schiffs. Dieses Schiff fährt von einem Ort zum anderen, der Mensch hat darauf keinen Einfluss. Dies ist die göttliche Vorherbestimmung. Jedoch kann sich der Mensch in dem Schiff frei bewegen, hat somit freien Willen.
Vorsehung im Nationalsozialismus
Für Adolf Hitler und den von ihm gegründeten und geführten Nationalsozialismus spielte der Bezug auf die sogenannte Vorsehung eine zentrale Rolle, um sowohl seine Taten zu rechtfertigen wie auch überlebte Attentate für sich als Bestätigung durch die Vorsehung zu werten.[6]
Siehe auch
Literatur
Einführung
- Hermann Deuser, Johann Maier: Vorsehung I. Systematisch-theologisch II. Judentum. In: Theologische Realenzyklopädie. 35 (2003), S. 302–327.
Quellen und historische Überblicke
- Wolfgang Schrage: Vorsehung Gottes? Zur Rede von der providentia Dei in der Antike und im Neuen Testament. Neukirchener Verl., Neukirchen-Vluyn 2005, ISBN 3-7887-2088-3.
- John Alvis: Divine Purpose and Heroic Response in Homer and Virgil. The Political Plan of Zeus. Rowman & Littlefield, Lanham u. a. 1995 ISBN 0-8476-8014-2.
- Lucius Annaeus Seneca: De providentia = Über die Vorsehung, in: De otio. Lateinisch/deutsch. Reclam, Stuttgart 1996.
- Ursel Wicke-Reuter: Göttliche Providenz und menschliche Verantwortung bei Ben Sira und in der frühen Stoa. Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 298. de Gruyter, Berlin u. a. 2000 ISBN 3-11-016863-4.
- Peter Frick: Divine Providence in Philo of Alexandria. TSAJ 77. Mohr Siebeck, Tübingen 1999, ISBN 3-16-147141-5.
- Hendrik S. Benjamins: Eingeordnete Freiheit. Freiheit und Vorsehung bei Origenes. Vigiliae Christianae Supplements 28. Brill, Leiden u. a. 1994 ISBN 90-04-10117-9.
- Hildegard Cancik-Lindemaier: Vorsehung II: Religionsgeschichtlich (griechisch und römisch), in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Tübingen 2001, Bd. 8, Sp. 1213–1214.
- Katharina von Siena: Gottes Vorsehung. Hrsg., eingeleitet u. übers. von Louise Gnädinger. Serie Piper 527: Texte christlicher Mystiker. Piper, München u. a. 1989 ISBN 3-492-10527-0.
- Jörg O. Fichte (Hrsg.): Providentia – Fatum – Fortuna. Das Mittelalter 1.1996,1. Akad.-Verl., Berlin 1996.
- Horton Davies: The Vigilant God. Providence in the Thought of Augustine, Aquinas, Calvin and Barth. Lang, New York u. a. 1992
- Stefan Gnädinger: Vorsehung: Ein religionsphilosophisches Grundproblem bei Johann Gottlieb Fichte. Pontes 14. LIT-Verl., Münster 2003, ISBN 3-8258-6581-9.
- Johannes Köhler: Vorsehung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 2001, Bd. 11, Sp. 1206–1218.
- Heiko Schulz: Eschatologische Identität. Eine Untersuchung über das Verhältnis von Vorsehung, Schicksal und Zufall bei Sören Kierkegaard. Theologische Bibliothek Töpelmann 63. de Gruyter, Berlin u. a. 1994 ISBN 3-11-014093-4.
- Arnulf von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart 1999.
- Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Schwabe, Basel 2006, ISBN 3-7965-2214-9, S. 382–399 (Vorsehung in der Geschichtsphilosophie).
- William Lane Craig: The Problem of Divine Foreknowledge and Future Contingents from Aristotle to Suarez. Brill’s Studies in Intellectual History 7. Brill, Leiden u. a. 1988 ISBN 90-04-08516-5.
- Jacob Viner, The Role of Providence in the Social Order. An Essay in Intellectual History. Jayne Lectures for 1966, Philadelphia 1972.
- Merk (Hrsg.), Die Synode von Dordrecht. 1. Auflage, Siegen 2019. ISBN 978-3-948475-08-6.
Aktuelle philosophische und theologische Diskussion
- Theodor Schneider, Lothar Ullrich (Hrsg.): Vorsehung und Handeln Gottes. Quaestiones disputatae 115. Herder, Freiburg i.Br. u. a. 1988 ISBN 3-451-02115-3.
- John Sanders: The God Who Risks. A Theology of Providence. InterVarsity Press, Downers Grove 1998, ISBN 0-8308-1501-5.
- Richard Swinburne: Providence and the Problem of Evil. Clarendon Press, Oxford u. a. 1998 ISBN 0-19-823799-5 (analytische Religionsphilosophie)
- Arnulf von Scheliha: Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1999 ISBN 3-17-015574-1.
- Richard Kocher: Herausgeforderter Vorsehungsglaube. Die Lehre von der Vorsehung im Horizont der gegenwärtigen Theologie. EOS-Verl., St. Ottilien 2. Aufl. 1999 ISBN 3-88096-985-X.
- Reinhold Bernhardt: Was heißt „Handeln Gottes“? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung. Gütersloher Verlagshaus Kaiser, Gütersloh 1999, ISBN 3-579-00403-4.
- Hans Christian Schmidbaur: Gottes Handeln in Welt und Geschichte. Eine trinitarische Theologie der Vorsehung. Münchener theologische Studien 2/63. EOS-Verl., St. Ottilien 2003, ISBN 3-8306-7175-X.
- Lehner, Ulrich L., Kants Vorsehungskonzept auf dem Hintergrund der deutschen Schulphilosophie und -theologie (Leiden: 2007) (Kant’s Concept of Providence and its background in German School Philosophy & Theology) 18.
- Kempf, Larsen: Schicksal, Vorsehung und Kontingenz als politische Motive, in: Zeitschrift für Politik Nr. 1/2012, München 2012.
Allgemeinverständlich
- Klaus Berger: Wer bestimmt unser Leben? Schicksal – Zufall – Fügung. Quell-Verlag, Stuttgart 2002, ISBN 3-579-03311-5.
Weblinks
- Hugh J. McCann: Divine Providence. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
- Linda Zagzebski: Foreknowledge and Free Will. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
Einzelnachweise
- Heidelberger Katechismus – Frage 27. Abgerufen am 30. Dezember 2020.
- Zum Verhältnis von Vorherbestimmung und Vorsehung nach heutigem calvinistischen Verständnis siehe Website des Calvinistischen Bundes.
- „Der unerforschliche Ratschluß, ihr wißts es scho“ im Brandner Kaspar
- Vgl. W. Palaver: Das Handeln Gottes im Drama der Geschichte. Überlegungen zum Verhältnis von Vorsehung und Politik, in: Handeln Gottes. Beiträge zur aktuellen Debatte. Freiburg i. Br. u. a. 2014. S. 443–470, hier 451.
- Mit brennender Sorge 11
- Vorsehung und Religiosität. Der Theologe Rainer Bucher analysiert Hitlers Gottverständnis, Deutschlandfunk, 10. März 2008.