Verwandtenheirat

Verwandtenheirat oder Verwandtenehe bezeichnet die Eheschließung zwischen engen Blutsverwandten, wobei sich die Nähe oder der Grad der Verwandtschaft aus der gemeinsamen biologischen Abstammung der Ehepartner ergibt. Als eng verwandt werden Cousins und Cousinen 1. und 2. Grades angesehen, ebenso Onkel und Tanten sowie Neffen und Nichten (siehe dazu auch den Artikel Inzucht beim Menschen und Erbkrankheiten). Weltweit leben mehr als eine Milliarde Menschen in Ländern, in denen Verwandtenheiraten üblich sind, ein Drittel davon zwischen Cousin und Cousine (vergleiche Parallelcousinen- und Kreuzcousinenheirat).[1] Schätzungsweise 20 % der Weltbevölkerung bevorzugen eine Verwandtenehe,[2] geschätzt mehr als 10 % sind mit einem Cousin 2. Grades oder einem engeren Verwandten verheiratet oder sind Nachkommen einer solchen Ehe.[3] In der Türkei wird die Häufigkeit von Verwandtenehen auf 20 bis 30 % geschätzt, in Oman liegt sie um das Zwei- bis Dreifache höher.[4]

Anteil von Verwandtenheiraten einschließlich Cousins 2. Grades (US National Center for Biotechnology Information 2012)[5]

Rechtslage

Deutsches Eherecht

Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) erlaubt Ehen zwischen Cousins und Cousinen aller Verwandtschaftsgrade sowie zwischen Onkel/Tante und Neffe/Nichte – verboten sind nur Ehen zwischen Blutsverwandten gerader Linie (Elternteil→Kind, GroßelternteilEnkelkind) und zwischen Geschwistern (siehe Geschwisterehe). Der § 1307 Verwandtschaft legt fest: „Eine Ehe darf nicht geschlossen werden zwischen Verwandten in gerader Linie sowie zwischen vollbürtigen und halbbürtigen Geschwistern. Dies gilt auch, wenn das Verwandtschaftsverhältnis durch Annahme als Kind erloschen ist“ (Adoption). Der § 1589 Verwandtschaft erklärt die Linie: „Personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in gerader Linie verwandt. Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von derselben dritten Person abstammen, sind in der Seitenlinie verwandt. Der Grad der Verwandtschaft bestimmt sich nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten.“

Eine Ehe, die entgegen dem Verbot geschlossen wurde, ist zwar wirksam, aber aufhebbar (§ 1314 Aufhebungsgründe).

Schweizer Eherecht

Das Eherecht ist in den Artikeln 90 bis 251 des schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) geregelt. Art. 95 verbietet Ehen lediglich „zwischen Verwandten in gerader Linie sowie zwischen Geschwistern oder Halbgeschwistern“. Dennoch geschlossene Ehen sind nach Art. 105 ungültig. Verwandtschaft durch Adoption wird gleich behandelt wie Blutsverwandtschaft; so dürfen beispielsweise Adoptivgeschwister nicht heiraten.

Katholisches Eherecht

Für nahe Blutsverwandte bis zu Cousins und Cousinen 1. Grades ist Eheschließung von der katholischen Kirche verboten (1091 CIC Codex Iuris Canonici). Für bestimmte Verwandtschaftsgrade von Cousin–Cousine kann das Verbot durch eine Sondergenehmigung der Kirche aufgehoben werden (siehe Ehehindernis im kanonischen Recht). Bis 1917 verbot die katholische Kirche Ehen bis einschließlich Cousins und Cousinen im 3. Grad (vergleiche Parallelcousinen- und Kreuzcousinenheirat).

Die spanischen Bourbonen, die sich wie ihre Vorgänger vom PapstKatholische Könige“ nennen ließen, schlossen ab 1765 mit dem Segen der Kirche sowohl Ehen zwischen Cousins und Cousinen 1. Grades wie auch zwischen Onkel und Nichten, mehrfach und über mehrere Generationen (siehe Bourbonische Cousinen- und Nichtenheiraten).

Islamisches Eherecht

Wie in anderen Religionen gelten auch im Islam Inzesttabus und Eheverbote. Eine Besonderheit des Islam ist die Ausweitung des Inzests von der Blutsverwandtschaft auf die Milchverwandtschaft (leiblich nicht verwandte Menschen, die von derselben Frau oder Amme gestillt wurden). Im Koran werden in der 4. Sure an-Nisāʾ („Die Frauen“) in Vers 23 mehrere Verbote aufgezählt, beispielsweise für Onkel-Nichte-Ehen:[6]

„Verboten (zu heiraten) sind euch eure Mütter, eure Töchter, eure Schwestern, eure Tanten väterlicherseits oder mütterlicherseits, die Nichten, eure Nährmütter, eure Nährschwestern, die Mütter eurer Frauen, eure Stieftöchter, die sich im Schoß eurer Familie befinden (und) von (denen von) euren Frauen (stammen), zu denen ihr (bereits) eingegangen seid, – wenn ihr zu ihnen noch nicht eingegangen seid, ist es für euch keine Sünde (solche Stieftöchter zu heiraten) – und (verboten sind euch) die Ehefrauen eurer leiblichen Söhne. Auch (ist es euch verboten) zwei Schwestern zusammen (zur Frau) zu haben, abgesehen von dem, was (in dieser Hinsicht) bereits geschehen ist. Allah ist barmherzig und bereit zu vergeben.“

Übersetzung: Rudi Paret (1966)

Einer Untersuchung des australischen Centre for Comparative Genomics zufolge werden in manchen islamischen Ländern dennoch mehr als die Hälfte der Ehen zwischen nahen Verwandten geschlossen. In Deutschland war 2010 etwa jede vierte türkischstämmige Frau mit einem Verwandten verheiratet, wobei allerdings nicht nach dem Grad der Verwandtschaft gefragt wurde.[7]

Nach einer Studie der britischen Fachzeitschrift Reproductive Health Journal von 2009 über Verwandtenehen in der arabischen Welt werden 25 bis 30 % aller Ehen zwischen Cousins und Cousinen 1. Grades geschlossen, insgesamt 20 bis 50 % zwischen Blutsverwandten. Die Bereitschaft dazu steigt in Ländern wie Jemen, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten, sinkt aber in Jemen, Jordanien und Tunesien mit wachsendem Bildungsstand der Frauen (nicht so bei Männern). Zu unterschiedlichen Scheidungsraten von blutsverwandten Ehen gegenüber nicht verwandten Paaren gibt es bisher keine Studien.[8]

Im Jahr 2008 wies der britische Umweltminister Phil Woolas (später Minister of State for Borders and Immigration unter Premierminister Gordon Brown) darauf hin, dass in der pakistanischen Gemeinde in Großbritannien immer noch 55 % aller Ehen zwischen Cousins und Cousinen geschlossen werden, benannte aber keine Verwandtschaftsgrade. Deren Nachkommen wiesen laut einer medizinischen Studie 30 % aller genetischen Missbildungen bei britischen Neugeborenen auf. 3 % aller Neugeborenen haben pakistanische Eltern, ihr Risiko ist also zehnmal höher (siehe Erbkrankheitsrisiken). Woolas warnte vor „Inzucht in der islamischen Gemeinde“.[9] Im Mai 2011 wies der Professor Steve Jones, einer der bekanntesten britischen Genetiker und Wissenschaftler, ebenfalls darauf hin. Laut Jones ist in der Stadt Bradford, wo viele Pakistani leben, das Problem besonders groß.[10]

Siehe auch

Literatur

Neueste zuerst:

  • Hanan A. Hamamy: Consanguineous Marriages. Preconception Consultation in Primary Health Care Settings. In: Journal of Community Genetics. Heft 3, Juli 2012, S. 185–192 (englisch; PMC 3419292 (freier Volltext); Professorin für Humangenetik an der Stiftung für Medizinische Ausbildung und Forschung in Genf).
  • Hanan A. Hamamy u. a.: Consanguineous Marriages, Pearls and Perils: Geneva International Consanguinity Workshop Report. In: Genetics in Medicine. Band 13, Nr. 9, Department of Genetic Medicine and Development, Universität Genf September 2011, S. 841–847 (englisch; online auf nature.com).
  • Alan H. Bittles, M. L. Black: Consanguineous Marriage and Human Evolution. In: Annual Review of Anthropology. Jahrgang 39, 2010, S. 193–207 (englisch; online auf annualreviews.org; Professoren am Centre for Comparative Genomics der Murdoch-Universität im australischen Perth).
  • Ghazi O. Tadmouri u. a.: Consanguinity and Reproductive Health among Arabs. In: Reproductive Health Journal. Jahrgang 6, Nr. 17, BioMed Central, London 2009 (englisch; PMC 2765422 (freier Volltext); Populationsgenetiker und Assistant Director des Centre for Arab Genomic Studies in Dubai).
  • Alan H. Bittles: When Cousins Marry. In: Annals of Human Biology. Jahrgang 22, Nr. 4, Proceedings of the Australasian Society for Human Biology, 1995, S. 359–376 (englisch; beschränkter Zugang: doi:10.1080/03014469500004042).

Einzelnachweise

  1. Hanan A. Hamamy u. a.: Consanguineous Marriages, Pearls and Perils: Geneva International Consanguinity Workshop Report. In: Genetics in Medicine. Band 13, Nr. 9, Department of Genetic Medicine and Development, Universität Genf September 2011, S. 841–847, hier S. 841 (englisch; online auf nature.com): „Approximately 1.1 billion people currently live in countries where consanguineous marriages are customary, and among them one in every three marriages is between cousins.“
  2. Hansjakob Müller u. a.: Medizinische Genetik. Familienplanung und Genetik. In: Schweizer Medizin Forum. Jahrgang 5, Nr. 24, Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, Basel 2005, S. 639–641, hier S. 640 (PDF-Datei; 123 kB, 3 Seiten auf medicalforum.ch): „Ausserhalb von Mitteleuropa sind Ehen unter Verwandten relativ weit verbreitet, bei etwa 20 % der Weltbevölkerung stellen sie sogar die bevorzugte Form der Heirat dar.“ Tabelle 2: Genetische Risiken bei Verwandtenehen: „Verwandte 1. Grades (Vater-Tochter, Bruder-Schwester): 50 % | Cousin–Cousine 1. Grades: 6 % | Cousin–Cousine 2. Grades: 4 % […] Studien haben gezeigt, dass die gemeinsamen Nachkommen von Verwandten höhere genetische Risiken tragen als diejenigen von Nicht-Verwandten. Bei Cousin und Cousine 1. Grades ist das Risiko für körperliche und geistige Behinderungen im Vergleich zum Risiko in der normalen Bevölkerung noch doppelt so gross. […] Die schwere degenerative Nervenkrankheit Tay-Sachs tritt in der ashkenasim-jüdischen Bevölkerung häufiger auf als anderswo. Entsprechend gross ist das Risiko für das Auftreten dieser Krankheit mit autosomal-rezessivem Erbgang bei Paaren dieser Herkunft.“
  3. Alan H. Bittles: Commentary: The background and outcomes of the first-cousin marriage controversy in Great Britain. In: International Journal of Epidemiology. Band 38, Nr. 6, November 2009, S. 1453–1458 (online auf oxfordjournals.org); Zitat: „As detailed on the Global Consanguinity website http://www.consang.net/, consanguineous marriage remains popular in many parts of Asia and Africa and it has been estimated that currently > 10 % of the global population are either married to a partner related as second cousin or closer (F ≥ 0.0156) or are the progeny of such a union.“
  4. Antje Schmelcher: Verwandtenehen: Darüber spricht (und forscht) man nicht. In: FAZ.net. 6. Juni 2011, abgerufen am 25. Mai 2014: „Je traditioneller eine islamische Gemeinschaft lebt, desto mehr Verwandtenehen scheint es zu geben. In der Türkei schätzt man ihre Häufigkeit auf 20 bis 30 Prozent, in Oman liegt sie um das Zwei- bis Dreifache höher, wie der Direktor des Instituts für medizinische Genetik der Berliner Charité, Stefan Mundlos, sagt. Für das kleine Land bedeute das ein immenses Problem, da bei verwandten Eltern das Risiko, Kinder mit angeborenen Krankheiten zu bekommen, doppelt so hoch sei wie bei nicht blutsverwandten Eltern.“
  5. H. Hamamy: Consanguineous marriages : Preconception consultation in primary health care settings. In: Journal of community genetics. Band 3, Nummer 3, Juli 2012, S. 185–192, doi:10.1007/s12687-011-0072-y, PMID 22109912, PMC 3419292 (freier Volltext).
  6. Rudi Paret: Koran Sure 4: Die Frauen. In: koransuren.de. Deutsche Koran Übersetzung, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 19. Februar 2014; abgerufen am 25. Mai 2014 (Paret, 1901–1983, war deutscher Philologe und Islamwissenschaftler, von ihm stammt die in Wissenschaftskreisen maßgebliche Übersetzung des Korans ins Deutsche; die Internetseite bietet den Vergleich zwischen 4 Übersetzungen).
    Siehe auch: Kurt Rudolph: Der Koran – Kapitel 4 – Vierte Sure: Die Frauen. In: Projekt Gutenberg-DE. Abgerufen am 25. Juli 2020 (Quelle: Reclam Verlag 1970).
  7. Cigdem Akyol: Inzest: Cousin und Cousine als Eltern. In: Zeit Online. 23. Juli 2012, abgerufen am 25. Mai 2014: „Am weitesten verbreitet sind Verwandtenehen in Ländern, in denen der Islam praktiziert wird. Mehr als die Hälfte der Ehen wird dort innerhalb einer Familie geschlossen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung des australischen Centre for Comparative Genomics. Eine Gesamtübersicht für Deutschland gibt es nicht. Aber etwa jede vierte türkischstämmige Frau hierzulande ist mit einem Verwandten verheiratet, ergab 2010 eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.“
  8. Ghazi O. Tadmouri u. a.: Consanguinity and Reproductive Health among Arabs. In: Reproductive Health Journal. Jahrgang 6, Nr. 17, BioMed Central, London 2009 (englisch; PMC 2765422 (freier Volltext)): „Arab populations have a long tradition of consanguinity due to socio-cultural factors. […] In some countries like Qatar, Yemen, and UAE, consanguinity rates are increasing in the current generation. […] At present, about 20% of world populations live in communities with a preference for consanguineous marriage [...] Noticeably, many Arab countries display some of the highest rates of consanguineous marriages in the world ranging around 20–50% of all marriages, and specifically favoring first cousin marriages with average rates of about 20–30% […] Consanguineous marriages are generally thought to be more stable than marriages between non-relatives, though there are no studies to compare divorce rates of consanguineous and non-consanguineous marriages among Arabs. […] In Jordan, it was evident that the higher the level of education of the female partner, the lower the consanguinity rate. Only 12% of university educated females would marry their first cousins, whereas 25% of university educated males tend to marry first cousins. Similar trends of lower consanguinity rates among educated women, but not educated men, were noticed in Yemen and Tunisia.“
  9. Serap Çileli: Eure Ehre – unser Leid. Neuausgabe. Books on Demand, Norderstedt 2013, S. 96.
  10. Jonathan Wynne-Jones: Hay Festival 2011: Professor risks political storm over Muslim „inbreeding“. In: The Telegraph. 29. Mai 2011, abgerufen am 25. Mai 2014 (englisch).

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