US-Depot Gießen
Das US-Depot Gießen war bis Mitte 2007 das zentrale Warenverteilzentrum der amerikanischen Streitkräfte in Europa. Es befand sich am östlichen Rand der mittelhessischen Stadt Gießen zwischen dem Gießener Ring und der Rödgener Straße und umfasste eine Fläche von 200 Hektar.[1]
Geografie
Das Gelände des US-Depot Gießen befindet sich im Nordosten der Stadt Gießen. Das Areal liegt südlich der Wieseckaue und Wieseck und erstreckt sich von der Gießener Oststadt und östlich des Philosophenwaldes bis kurz vor Rödgen. Es befindet sich zudem nördlich der Rödgener Straße. Der Bereich, über den sich das US-Depots erstreckt, liegt ca. 160–170 m ü. NHN.
Das Areal umfasste das Gelände für den Army & Air Force Exchange Service (AAFES), die Marshall-Siedlung und einen separaten, später eingezäunten Bereich, auf dem sich das Sondermunitionslager und andere Waffen, unter anderem die Lance-Raketenstellung befanden.
Geschichte
Das Depot wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gelände des 1929 erbauten Verkehrsflughafen Gießen eingerichtet.[2] Vom Flughafen sind heute nur noch wenige Spuren sichtbar, unter anderem das im Bauhausstil erbaute Empfangsgebäude, das lange Jahre der Militärpolizei gedient hat.[3]
Die Betreibergesellschaft des Depots war der staatliche Army & Air Force Exchange Service (AAFES) mit Hauptquartier in Dallas, Texas. Von hier aus wurden vor allem Zivilgüter wie Nahrung, Kleidung, Möbel, Hi-Fi-Geräte usw. für die Angehörigen der amerikanischen Stationierungsstreitkräfte in die „PX“-Läden (Abkürzung für PostExchange) der US-Army und Air Force in Westeuropa und in Krisengebiete verschickt. Sowohl im Bosnien-Konflikt als auch in den beiden Golfkriegen kam dem US-Depot eine bedeutende strategische Rolle in der Versorgung der Soldaten und deren Angehöriger zu. Auch insbesondere im Kalten Krieg war das Gießener US-Depot aufgrund des dort errichteten Sondermunitionslagers strategisch relevant.
Die Stationierung von US-amerikanischen Waffen in Gießen stieß auf Seiten der Friedensbewegung im Zuge des Kalten Krieges auf heftige Kritik, die in Protesten bei US-Militärparaden in Gießen im Rahmen des Unabhängigkeitstags der USA und mehrtägigen Blockaden einiger Zufahrtswege des US-Depots gipfelten. Größere öffentliche Aufmerksamkeit erhielt das US-Depot zudem, als Raketen für das Patriot-System und weiteren Waffen(-Systeme) auf Anordnung des US-Präsidenten Ronald Reagan auf dem Gelände des US-Depots stationiert wurden, was bei Teilen der Gießener Bevölkerung auf Ablehnung stieß. Forderung der Friedensbewegung war unter anderem der Abzug der US-Truppen aus Gießen und die Demilitarisierung des US-Depots. Die Forderung wurde durch die ausgehende Gefahr von stationierten Waffen für Gießen begründet, da die Stadt so ein mögliches Ziel für einen sowjetischen Angriff würde.[4]
Am Nordrand des Geländes befanden sich von 1974 bis 1988 eine Lance-Raketenstellung und das auch als „NATO Site #4“ bekannte Sondermunitionslager Gießen, welches taktische Atomsprengköpfe für die Lance-Raketen in gut gesicherten Bunkern bereithielt.
Das US-Depot war mit seinen über 500 Beschäftigten einer der wichtigsten Arbeitgeber im Niedriglohnsektor im Landkreis Gießen, jedoch stellte die Anwesenheit der US-Soldaten in Gießen für die Stadt einen vergleichsweise geringen Wirtschaftsfaktor dar, da die meisten von den US-Soldaten benötigten Güter wie Lebensmittel, Sportgeräte etc. aus den USA importiert wurden.[5]
Zwischenzeitlich wurde auf dem westlichen Teil des US-Depots zwecks eines Übungsmanövers der NATO ein provisorischer Flughafen durch die US-Army errichtet, der zu Start und Landung vor allem großer Transportflugzeuge, wie zum Beispiel der C-130 Hercules dienen sollte. Jedoch kam es lediglich 1981 durch eine Landung einer Transall C-160 zum Transport eines Tanklöschfahrzeugs zu einer tatsächlichen Nutzung des provisorischen Flughafens.[6]
Das US-Depot wurde Ende August 2007 geschlossen. Die offizielle Schließungszeremonie fand im Beisein verschiedener Lokalpolitiker am 28. September 2007 statt[7]. Weiter genutzt wurde ein ziviler Teil mit einer Fläche von 54 Hektar.[1] Der zivile Teil des AAFES-Betriebs wurde zum 31. März 2017 in Gießen komplett eingestellt und an den neuen Standort in Germersheim verlegt. Von der Schließung Ende März 2017 waren etwa 400 Arbeitnehmer betroffen.[1]
Nachnutzung
Die Liegenschaft wurde an das Bundesvermögen zurückgegeben und von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima) verwaltet. Sie verkaufte 2008 der Stadt Gießen das Gelände und Gebäude der ehemaligen amerikanischen Grundschule; dort zog 2012 die Helmut-von-Bracken-Schule ein.[8]
Der nördliche Bereich des US-Depots, auf dem sich die Lance-Raketenstellung, sowie das Sondermunitionslager Gießen befanden, ist heute Teil des Nationalen Naturerbes und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Um einer zu starken Überwucherung des Geländes entgegenzuwirken, werden über den Sommer Rinder und Schafe auf dem Gebiet angesiedelt. Dieses nördliche Areal ist heute zudem Heimat seltener Tierarten und von großer Bedeutung für den Artenschutz, weshalb dieses auch in Zukunft nicht bebaut werden wird.[9]
Ende 2013 erstand das Gießener Immobilienunternehmen Revikon GmbH unter der Geschäftsführung von Daniel Beitlich und Martin Bender Teile des US-Depots für eine mittlere zweistellige Millionensumme in Euro von der Bima. Insgesamt übernahm das Unternehmen rund 69 Hektar. Gemeinsam mit der Stadt Gießen und weiteren unternehmen plante das Unternehmen die Nutzung des Geländes durch Logistik, produzierendem Gewerbe und Büros.[10][11] 2019 plante der Otto-Handelskonzern, auf einem Teil des Geländes ein Logistikzentrum zu bauen, das 2022 in Betrieb gehen sollte. Nachdem Otto im April 2020 seine Absicht aufgegeben hatte, wurde im Mai 2020 die Logistikgruppe VGP als neuer Investor für das Logistikzentrum präsentiert.[12][13] Nun wird der durch VGP erbaute Logistikpark seit 2021 durch den Online-Versandhändler Zalando bezogen, um dort ein Verteilungszentrum zu errichten, welches sich derzeit noch im Bau befindet und laut Angaben des Konzerns 2023 in Betrieb genommen werden soll.[14][15]
Infolge eines erhöhten Flüchtlingsstroms 2012 wurden einige Gebäude des Areals zu einer Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert, die bis heute genutzt wird und Standort der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen ist.[16] Als Geschäftsführer von Revikon äußerte Daniel Beitlich, die Nutzung des Geländes des Gießener US-Depots zur Unterbringung von Asylbewerbern sei keine Dauerlösung. Eine logistische Nutzung des Areals werde somit blockiert. Aufgrund der direkt neben den dortigen Gebäuden verlaufenden Bahngleisen ließe sich der Bereich für logistische Zwecke besonders gut verwenden.[17]
2021 erwarb der Bauträger S+S Grundbesitz GmbH Grundstücke am Südrand des Geländes, um dort im Rahmen des Projekts „Monroe Quartier“ eine rund 3 Hektar große Neubausiedlung zu realisieren, in welcher laut Angaben des Unternehmens in Zukunft 328 Wohnungen Platz finden werden.[18]
Des Weiteren werden heute regelmäßig Führungen auf dem US-Depot angeboten.
In den letzten Jahren beklagte der Bundesforst jedoch das häufige Eindringen von Menschen in das abgesperrte, ehemalige Sondermunitionslager, da es vor allem über die Zeit des Lockdowns im Rahmen der COVID-19-Pandemie als Lost Place beliebt wurde.[19]
Einzelnachweise
- 2016 endet US-Präsenz in Gießen. In: Giessener Allgemeine. 24. Mai 2014, archiviert vom am 20. Januar 2015; abgerufen am 21. Januar 2021.
- Planes, trains, automobiles – 45 years and still moving. Giessen Courier (Giessen MILCOM newspaper), August 15, 1990
- USAREUR Installation Maps, Gießen 1982
- Hessen: Mediathek Hessen - Patriots For Peace? Abgerufen am 5. Juni 2023.
- Das US-Depot als Ort der Mythen: Reportage und Führung. 27. Juli 2015, abgerufen am 5. Juni 2023.
- Das US-Depot als Ort der Mythen: Reportage und Führung. 27. Juli 2015, abgerufen am 5. Juni 2023.
- The U.S. Army Garrison Giessen colors were cased on 28 September 2007 (Memento vom 15. August 2008 im Internet Archive)
- Stadt kauft Bund amerikanische Grundschule ab. In: Gießener Allgemeine. 28. Oktober 2008, abgerufen am 21. Januar 2021.
- Stadt Gießen: Städtebauliches Entwicklungskonzept "Ehemaliges US-Depot Gießen". Abgerufen am 4. Juni 2023.
- Gießener Unternehmen kauft US-Depot und vermarktet es. 6. Dezember 2013, abgerufen am 5. Juni 2023.
- Gießen: Revikon erhält Zuschlag für 69 ha großes US-Depot • THOMAS DAILY. Abgerufen am 5. Juni 2023 (deutsch).
- Früheres Militärgelände: Gießen findet rasch Ersatz für Versandhändler Otto. dpa-Meldung. In: faz.net. 13. Mai 2020, abgerufen am 21. Januar 2021.
- Burkhard Möller: Otto-Nachfolger VGP. Bis zu 1000 Arbeitsplätze im früheren US-Depot. Weitere Infos zu neuen Plänen. In: Gießener Allgemeine. 13. Mai 2020, abgerufen am 21. Januar 2021.
- hessenschau de, Frankfurt Germany: Logistikzentrum mit 1.700 Arbeitsplätzen: Zalando kommt in Gießen ganz groß in Mode. 4. November 2021, abgerufen am 4. Juni 2023 (deutsch).
- Gießen: Zalando zieht ins ehemalige US-Depot – Logistikzentrum geplant. 24. Oktober 2021, abgerufen am 4. Juni 2023.
- Neue Flüchtlingsunterkunft im US-Depot eröffnet. 19. Dezember 2012, abgerufen am 4. Juni 2023.
- Gießener Unternehmen kauft US-Depot und vermarktet es. 6. Dezember 2013, abgerufen am 5. Juni 2023.
- Gießen: Neues Wohngebiet soll an der Rödgener Straße entstehen. 14. März 2022, abgerufen am 4. Juni 2023.
- Grüner Plan für geheimnisumwitterte »Nato Site #4« in Gießen. 21. September 2020, abgerufen am 4. Juni 2023.
Siehe auch
- Sondermunitionslager Gießen
- Ausländische Militärbasen in Deutschland
- Liste der geschlossenen ausländischen Militärbasen in Deutschland