Tyrothricin
Tyrothricin ist ein Gemisch verschiedener antibakteriell wirksamer linearer und cyclischer Polypeptide aus den Gruppen der Gramicidine und Tyrocidine. Sie werden endotoxinartig durch den anaeroben sporenbildenden Bacillus aneurinolyticus (Syn. Bacillus brevis) gebildet. Der Wirkungsbereich umfasst vorwiegend grampositive Bakterien, aber auch einige gramnegative Bakterien und verschiedene Pilzarten, wie beispielsweise Candida albicans.
Strukturformel | |||||||||||||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Strukturformel der Komponente Tyrocidin A | |||||||||||||||||||
Allgemeines | |||||||||||||||||||
Freiname | Tyrothricin | ||||||||||||||||||
Summenformel | vgl. Tabelle | ||||||||||||||||||
Externe Identifikatoren/Datenbanken | |||||||||||||||||||
| |||||||||||||||||||
Arzneistoffangaben | |||||||||||||||||||
ATC-Code | |||||||||||||||||||
Wirkstoffklasse | |||||||||||||||||||
Eigenschaften | |||||||||||||||||||
Molare Masse | vgl. Tabelle | ||||||||||||||||||
Sicherheitshinweise | |||||||||||||||||||
| |||||||||||||||||||
Toxikologische Daten | |||||||||||||||||||
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen. |
Tyrothricin wird den Polypeptid-Antibiotika zugeordnet, der unter anderem auch Actinomycin, Bacitracin und die Polymyxine angehören.
Zusammensetzung
Tyrothricin enthält 50 bis 70 % Tyrocidine und 25 bis 50 % Gramicidine, die insgesamt mindestens 85 % des Wirkstoffs ausmachen.[3] Daneben kommen in kleinen Mengen weitere strukturverwandte Polypeptide vor.
|
Wirkung
Bakteriostatische bzw. bakterizide Wirkung gegen | Hemmdosis in μg/ml |
---|---|
Staphylococcus aureus MSSA | 4 |
Staphylococcus aureus MRSA | 4 |
Staphylococcus haemolyticus | 4 |
Streptococcus pyogenes | 0,5 |
Streptococcus viridans | 1 – 5 |
Enterococcus faecalis | 2 |
Diplococcus pneumonia | 1 |
Corynebakterium spp. | 2 |
Clostridia | 0,1 – 10 |
Candida albicans | 16 |
Candida parapsilosis | 32 |
Tyrothricin ist ein antimikrobielles Polypeptid, das die Zellmembran verschiedener Mikroorganismen irreversibel schädigt.[4] Es ähnelt in seiner Wirkweise sehr den antimikrobiellen Peptiden (oder host defense peptides), wie sie aus Eukaryoten bekannt sind (z. B. Defensin und Cathelicidin). Aufgrund dieser Ähnlichkeit werden sie heute vermehrt auch dieser Gruppe zugeordnet (nicht-ribosomal synthetisierte antimikrobielle Polypeptide).[5]
Als Gemisch zweier aktiver Substanzgruppen wirkt Tyrothricin auf zwei Wegen auf die mikrobielle Zellwand:
- Tyrocidine lagern sich in die Zellmembran von Mikroorganismen ein und zerstören damit deren Funktion. Der genaue Ort und Mechanismus sind bisher unbekannt.
- Gramicidine bilden kationenselektive Kanäle in der Zellmembran, durch die monovalent geladene Kationen (wie z. B. Kalium, Natrium) die Membran passieren können. Hierbei wird unter anderem der Ionengradient zwischen Cytoplasma und extrazellulärem Medium aufgehoben.
Resistenzanalysen zeigen, dass Tyrothricin trotz des jahrzehntelangen Einsatzes eine ungebrochen hohe Wirksamkeit selbst gegen Staphylococcus aureus-Stämme mit multipler Antibiotikaresistenz (MRSA) zeigt.[6][7][8] Es bestehen zudem keine Kreuzresistenzen mit Polymyxin B und Colistin.
Der Grund dieser anhaltenden Wirksamkeit und ausbleibenden Resistenzentwicklung wird in dem direkten und doppelten Angriff auf die Zellmembran von Mikroorganismen vermutet. Um Resistenzen auszubilden, müssten Pathogene die Beschaffenheit und Zusammensetzung ihrer Zellmembranen ändern, ein komplizierter und (im Blick der Evolution) sehr aufwendiger Prozess.[7]
Aufgrund dieser gleichbleibend hohen Wirkung ist Tyrothricin mit seinen aktiven Bestandteilen Gramicidin und Tyrocidin in den letzten Jahren wieder verstärkt in den Blick der Forschung gelangt.[7][5]
In verschiedenen Experimenten wurden dabei auch andere Eigenschaften von Tyrothricin entdeckt, bspw. die Aktivierung des angeborenen unspezifischen Immunsystems oder die Hemmung der Ausschüttung des Tumornekrosefaktors TNF.[9]
Anwendung
Tyrothricin wird ausschließlich lokal eingesetzt. In diesem Zusammenhang wird das Antibiotikum in Form von Halstabletten bei Halsentzündungen und -schmerzen mit Schluckbeschwerden, bei Rachen- und Kehlkopfentzündungen sowie bei Entzündungen der Mundschleimhaut und des Zahnfleisches eingesetzt.[10] Das Peptid wird im Magen-Darm-Trakt zerstört, und es findet keine messbare Resorption bei lokaler Anwendung auf der Haut oder den Schleimhäuten statt.[11]
Darüber hinaus wird Tyrothricin zur lindernden Behandlung von kleinflächigen, oberflächlichen, wenig nässenden Wunden der Haut mit bakterieller Superinfektion mit Tyrothricin-empfindlichen Erregern, wie z. B. Riss-, Kratz-, Schürfwunden, eingesetzt.[12]
Nebenwirkungen
Bei lokalem Einsatz sind im Allgemeinen Überempfindlichkeitsreaktionen gegenüber dem Wirkstoff wie Brennen oder Jucken der Haut oder Schleimhaut beobachtet worden. Es liegen bislang keine Langzeitstudien über die Wirkung bei Schwangerschaft und Stillzeit vor.
Bei systemischer Aufnahme kann es zu starken nephro- und neurotoxischen Nebenwirkungen kommen.
Geschichte
Tyrothricin wurde 1939 von dem Franzosen René Jules Dubos bei Brutversuchen mit Bodenproben und Pneumokokken entdeckt[13] und aus Kulturfiltraten von Bacillus brevis isoliert. Die ersten Markennamen waren Tyrosolvin (von Byk Gulden) und Tyrocid (von Grünenthal).[14]
Handelsnamen
Tyrosur (D)[15]
- mit Benzalkoniumchlorid und Benzocain: Dorithricin (D, A)
- mit Cetrimoniumbromid und Lidocain: Lemocin (D, A)
- mit Lidocain und Lysozym: Mebucasol (CH), Sangerol (CH)
- mit Acetylcystein, Phenylalanin, Lidocain und Taurin: Solmucaine (CH)
- mit Dequaliniumchlorid und Lidocain: Tyroqualin (CH)
zahlreiche Generika (A, CH)
Einzelnachweise
- Datenblatt Tyrothricin from Bacillus aneurinolyticus (Bacillus brevis) bei Sigma-Aldrich, abgerufen am 29. Mai 2011 (PDF).
- H. Sous, H. Keller, H. E. Kleine-Natrop, W. Krupe, W. Rothe, H. Muckter: [Experimental basis of the use of a tyrothricin-xanthocillin combination in local therapy of bacterial infections]. In: Arzneimittel-Forschung. Band 7, Nummer 2, Februar 1957, S. 98–103, PMID 13412586.
- European Pharmacopoeia. Edition 8.0, 2015, S. 3502.
- Theodor Dingermann u. a.: Pharmazeutische Biologie – Molekulare Grundlagen und klinische Anwendung. Springer Verlag, Frankfurt/ München 2002, ISBN 3-540-42844-5.
- B. M. Spathelf: Qualitative structure-activity relationships of the major tyrocidines, cyclic decapeptides from Bacillus aneurinolyticus. Dissertation. University of Stellenbosch, 2010, (Kapitel 1.4).
- M. Kretschmar, W. Witte, H. Hof: Bactericidal activity of tyrothricin against methicillin-resistant Staphylococcus aureus with reduced susceptibility to mupirocin. In: European journal of clinical microbiology & infectious diseases : official publication of the European Society of Clinical Microbiology. Band 15, Nummer 3, März 1996, S. 261–263. PMID 8740868.
- M. A. Marques, D. M. Citron, C. C. Wang: Development of Tyrocidine A analogues with improved antibacterial activity. In: Bioorganic & Medicinal Chemistry. Band 15, Nummer 21, November 2007, S. 6667–6677, doi:10.1016/j.bmc.2007.08.007. PMID 17728134. PMC 2706120 (freier Volltext).
- M. Stauss-Grabo, S. Atiye, T. Le, M. Kretschmar: Decade-long use of the antimicrobial peptide combination tyrothricin does not pose a major risk of acquired resistance with gram-positive bacteria and Candida spp. In: Pharmazie. 69(11), Nov 2014, S. 838–841. PMID 25985581.
- M. Flügel: Kationische Peptide – mehr als Antibiotika. In: Deutsche Apotheker Zeitung. Nr. 48, 2013, S. 26.
- Beipackzettel Dorithricin Halstabletten (PDF; 1,8 MB).
- H. E. Voigt, G. Ehlers: Tyrothricin: Renaissance eines Lokalantibiotikums Teil I. In: Der Deutsche Dermatologe. 37(6), 1989, S. 647–650.
- Beipackzettel Tyrosur Gel (Memento vom 13. August 2015 im Internet Archive) (PDF; 112 kB).
- Alfons Metzner: Weltproblem Gesundheit. Imhausen International Company mbh, Lahr (Schwarzwald) 1961, S. 237.
- Karl Wurm, A. M. Walter: Infektionskrankheiten. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 9–223, hier: S. 54.
- ROTE LISTE 2017, Verlag Rote Liste Service GmbH, Frankfurt am Main, ISBN 978-3-946057-10-9, S. 224.