Geschlechtsangleichende Maßnahme

Geschlechtsangleichende Maßnahmen sollen dazu führen, die Identität einer Person so weit wie möglich und gewünscht an das erlebte Geschlecht anzupassen. Dieser Vorgang wird als Transition bezeichnet. Sie umfasst Gesundheitsdienstleistungen zur Veränderung der geschlechtsspezifischen körperlichen Eigenschaften und dient der Behandlung von Dysphorien, die ihre Ursache in einer bestehenden Genderinkongruenz haben.[1] Die Transition umfasst aber auch soziale und juristische Maßnahmen bis hin zur Änderung des Kleidungsstils.[2]

In seltenen Fällen wird nach durchgeführten Maßnahmen zur Transition das Vorgehen bedauert. Einzelne Personen brechen den Vorgang ab oder wünschen eine Umkehrung des Prozesses. Für diese Situation wurde der Begriff Re-Transition oder Detransition geprägt.[3]

Varianten

Zu den somatischen geschlechtsangleichenden Maßnahmen gehören Therapien wie die Gabe von Geschlechtshormonen (siehe auch Endokrinologie und Hormonersatztherapie) oder die Unterdrückung der Hormonbildung, ggf. die Epilation von Gesichts- und Körperbehaarung oder Haartransplantationen sowie operative Eingriffe, siehe geschlechtsangleichende Operation.[4]

Intersexualität

Bei intersexuellen Menschen (Personen mit nicht eindeutig weiblichen oder männlichen körperlichen Geschlechtsmerkmalen) können medizinische Maßnahmen ergriffen werden, um den Körper an das gefühlte oder vermutete Geschlecht anzupassen. Dies kann von einem Ausgleich eines anomalen Hormonspiegels über „kleinere“ Eingriffe wie dem Verkleinern der Klitoris, bis zur kompletten Umgestaltung des Genitalbereiches mit Mitteln der plastischen Chirurgie reichen.

Vor allem in der Vergangenheit wurde die Entscheidung zu einer solchen Maßnahme im Kindesalter häufig von den Eltern getroffen, ohne die persönliche Entwicklung des Kindes abzuwarten. Da das Entfernen rudimentärer männlicher Geschlechtsteile (also die Operation zur Frau) die chirurgisch einfachere Maßnahme ist, wurde sie häufiger gewählt, ohne dass sie im Einzelfall die der Situation des Kindes angebrachtere gewesen wäre. Der Deutsche Ethikrat spricht sich auf Basis der UN-Kinderrechtskonvention gegen solche medizinisch nicht notwendigen Operationen an nicht-einwilligungsfähigen Kindern aus.[5] Auch eine 2016 verabschiedete AWMF-Leitlinie empfiehlt einen restriktiven Umgang mit operativen Eingriffen bei nicht-einwilligungsfähigen Kindern; das elterliche Sorgerecht ermögliche demnach nur eine Einwilligung in medizinisch notwendige Operationen, nicht jedoch in kosmetische Eingriffe.[6] Am 22. Mai 2021 trat in Deutschland ein grundsätzliches Verbot geschlechtsangleichender Maßnahmen bei nicht einwilligungsfähigen intersexuellen Kindern in Kraft.[7]

Genderinkongruenz

Bei transgeschlechtlichen Menschen (Menschen, welche sich mit ihren primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen nicht oder nicht vollständig identifizieren) werden diese Maßnahmen durchgeführt, um eine Anpassung des Körpers an das empfundene Geschlecht durchzuführen. Diese Maßnahmen finden auf ausdrücklichen Wunsch der betreffenden Personen und im Allgemeinen nach ausführlichen Begutachtungen statt.

Umstritten hier ist oft noch, ob diese Maßnahmen allen zugutekommen sollen, die sie benötigen, oder nur Menschen, welche die Definition von „Transsexualismus“ im ICD-10 vollständig erfüllen. Die Tendenz, sowohl unter transgeschlechtlichen Menschen selbst als auch Behandlern, geht zunehmend zu ersterem. Folglich wurde in der 11. Version des ICD die Diagnose „Störungen der Geschlechtsidentität“, welche „Transsexualismus“ beinhaltete, ersetzt durch die Fachbezeichnung Genderinkongruenz. Der ICD-11 trat ab 1. Januar 2022 in Kraft. Zusätzlich ist die Diagnose nicht mehr als psychische Störung eingeordnet, sondern als „Zustandsform der sexuellen Gesundheit(condition of sexual health). Unterschieden wird nach dem Lebensalter[8]:

  1. HA60: Genderinkongruenz in der Jugend oder im Erwachsenenalter (gender incongruence of adolescence or adulthood)
  2. HA61: Genderinkongruenz im Kindesalter (gender incongruence of childhood)

Recht

Seltener werden auch juristische Maßnahmen zu den geschlechtsangleichenden Maßnahmen gerechnet, also die Anpassung von Vornamen und/oder Personenstand an ein anderes Geschlecht:

  • In Deutschland (siehe Transsexuellengesetz), ist eine Änderung nach dem Personenstandsgesetz (§ 45b PStG) möglich.
  • In Österreich fehlt es nach Aufhebung der beiden Transsexuellenerlässe an umsetzungsrechtlichen Vorschriften, die Änderung des Personenstands begründet sich auf das Personenstandsgesetz (Österreich), die Namensänderung auf das Namensänderungsgesetz (NÄG) in Verbindung mit den namensrechtlichen Bestimmungen des PStG.

Häufigkeit

Deutschland

Häufigkeit operativer Maßnahmen zur Transition

Durch die gestiegene gesellschaftliche Akzeptanz wurde eine Auseinandersetzung mit Genderinkongruenz für viele Menschen einfacher. Obwohl weiterhin Hürden im Zugang zum Gesundheitssystem bestehen, haben sich in den vergangenen Jahren vermehrt Betroffene mit dem Wunsch nach geschlechtsangleichende Maßnahmen an spezialisierte Zentren gewandt und auch generell wird eine höhere Anzahl von trans Menschen im Gesundheitssystem behandelt.[9] Nach einer Veröffentlichung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags kam es in den Jahren 2007–2020 zu einer deutlichen Zunahme der Operationen zur Umwandlung der Genitalorgane. Die Zahlen wurden anhand der DRG-Statistik des Statistischen Bundesamtes erhoben. Am stärksten war die Altersgruppe von 25–35 Jahren vertreten.[10]

Über die Häufigkeit pubertätsblockierender Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen liegen der Bundesregierung keine Zahlen vor.

Ebenso fehlen weitgehend Daten zur Detransition.[11] Studien gehen von 1 % – 13 % der Personen aus, die nach vorhergehenden Maßnahmen zur Transition diese wieder rückgängig machen wollen.[12] Wobei nur 24 % ihren Arzt informieren wenn sie eine Detransition machen.[13] Es wird besonders auf die Bedeutung des Erkennens begleitender psychischer Störungen hingewiesen. Liegen diese vor und werden nicht behandelt, so steigt das Risiko des Bedauerns nach vollzogener Transition.[14]

Schweiz

In der Schweiz werden entsprechende Analysen vom Bundesamt für Statistik erhoben.[15]

Situation in den USA

In den Vereinigten Staaten sind geschlechtsangleichende Maßnahmen, wie z. B. auch plastische Operationen, für Transgeschlechtliche seit den 1950er Jahren möglich.

Situation in Großbritannien

Im März 2024 wurde die Abgabe von sogenannten Pubertätsblockern, also die Pubertät verhindernder hormonhaltiger Medikamente, an Kinder gestoppt. Die Medikamente dürfen nur noch in klinischen Studien eingesetzt werden. Es sei nach einer unabhängigen Untersuchung erwiesen, dass zu wenig über die langfristigen Auswirkungen der Medikamente bekannt sei, so der National Health Service.[16]

Gesundheitsdienstleistungen

In Deutschland wird zur Kostenübernahme für therapeutische Leistungen durch die Krankenkasse ein Gutachten des Medizinischen Dienstes (MDS) erforderlich sein. Dieser richtet sich dabei nach der Begutachtungsanleitung „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus (ICD-10, F64.0)“. Bei der Begutachtung ist die Rechtslage zu beachten. Gerade die im ICD-11 vollzogene Entpathologisierung der Genderinkongruenz erleichtert die Zusage der Kostenübernahme nicht. Nach §27 SGB V ist die Kostenübernahme nur zur Erkennung und Behandlungen von Krankheiten möglich.[17] Nach der bisherigen Rechtssprechung des Bundessozialgerichts ist das Vorliegen einer seelischen Störung mit erheblichem Leidensdruck Voraussetzung für eine Übernahme der Kosten durch die gesetzliche Krankenversicherung. Dabei bestimmen Leitlinien der Fachgesellschaften grundsätzlich nicht den Umfang der Leistungsansprüche der Versicherten. Neben den medizinischen Aspekten ist das Wirtschaftlichkeitsgebot in der medizinischen Versorgung zu berücksichtigen.[18][19] Medizinische Basis für dieses Verfahren ist die „S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung im Kontext von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit“.[14] Sie wurde von den medizinischen Fachgesellschaften herausgegeben, unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung e. V. (DGfS) in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband Trans*. Ein Kernpunkt der Empfehlungen in der S3-Leitlinie ist das Ermitteln der Dauer einer eventuell bestehenden Genderdysphorie. Dabei soll der Verlauf dokumentiert werden. Wichtig ist die Frage, ob es schon vor der Pubertät Hinweise auf eine Genderinkongruenz gegeben hat. Bei der Abklärung von Differentialdiagnosen müssen begleitende psychische Störungen ausgeschlossen werden. Für diese Empfehlungen besteht Konsens zwischen den Fachgesellschaften und dem Bundesverband Trans*. Kein Konsens konnte erzielt werden bei dem Prinzip der „Partizipativen Entscheidungsfindung“, wie es von den medizinischen Fachgesellschaften vorgeschlagen wurde. Dieses sieht vor, dass ein Einvernehmen über Notwendigkeit und Reihenfolge der Behandlungsschritte zwischen Behandlungssuchendem und Behandler hergestellt werden muss. Die Gegenposition des Bundesverbandes Trans* zielt darauf ab, dass eine einwilligungsfähige trans Person, die den Umfang und die Folgen der Maßnahme verstanden hat, alleine über die Notwendigkeit und die Reihenfolge von Behandlungsschritten entscheiden können soll.[14][20]

Einzelnachweise

  1. ICD-11 für Mortalitäts- und Morbiditätsstatistiken (MMS). Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, abgerufen am 7. Dezember 2022.
  2. Internetredaktion des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Transition. In: Regenbogenportal – Glossar. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2022, abgerufen am 7. Dezember 2022.
  3. Internetredaktion des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Retransition. In: Regenbogenportal:Glossar. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2022, abgerufen am 16. Dezember 2022.
  4. Timo O. Nieder, Peer Briken, Annette Güldenring: Geschlechtsinkongruenz, -dysphorie und Trans*-Gesundheit. In: InFo Neurologie & Psychiatrie. Band 18, Nr. 12, Dezember 2016, ISSN 1437-062X, S. 38–49, doi:10.1007/s15005-016-1788-3 (springermedizin.de [abgerufen am 14. Mai 2023]).
  5. Veröffentlichung der Stellungnahme "Intersexualität". Deutscher Ethikrat, 23. Februar 2012, abgerufen am 28. September 2020.
  6. Leitlinien-Detailansicht: Geschlechtsentwicklung, Varianten der … Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, 22. Juli 2016, abgerufen am 28. September 2020.
  7. Bundesgesetzblatt. Abgerufen am 23. Mai 2021.
  8. Geoffrey M. Reed, Jack Drescher, Richard B. Krueger, Elham Atalla, Susan D. Cochran: Disorders related to sexuality and gender identity in the ICD‐11: revising the ICD‐10 classification based on current scientific evidence, best clinical practices, and human rights considerations. In: World Psychiatry. Band 15, Nr. 3, Oktober 2016, ISSN 1723-8617, S. 205–221, doi:10.1002/wps.20354, PMID 27717275, PMC 5032510 (freier Volltext).
  9. Laurens D'hoore, Guy T'Sjoen: Gender‐affirming hormone therapy: An updated literature review with an eye on the future. In: Journal of Internal Medicine. Band 291, Nr. 5, Mai 2022, ISSN 0954-6820, S. 574–592, doi:10.1111/joim.13441 (wiley.com [abgerufen am 14. Mai 2023]).
  10. Einzelfragen zu geschlechtsangleichenden Operationen. (PDF, 278KB) Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, 17. Oktober 2022, S. 9–10, abgerufen am 16. Dezember 2022.
  11. Einzelfragen zu geschlechtsangleichenden Operationen. (PDF, 278,KB) Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, 17. Oktober 2022, S. 11–12, abgerufen am 15. Dezember 2022.
  12. Jack L. Turban, Stephanie S. Loo, Anthony N. Almazan, Alex S. Keuroghlian: Factors Leading to “Detransition” Among Transgender and Gender Diverse People in the United States: A Mixed-Methods Analysis. In: LGBT Health. Band 8, Nr. 4, Juni 2021, ISSN 2325-8292, S. 273–280, doi:10.1089/lgbt.2020.0437, PMID 33794108, PMC 8213007 (freier Volltext).
  13. Lisa Littman: Individuals Treated for Gender Dysphoria with Medical and/or Surgical Transition Who Subsequently Detransitioned: A Survey of 100 Detransitioners. In: Archives of Sexual Behavior. Band 50, Nr. 8, 1. November 2021, ISSN 1573-2800, S. 3353–3369, doi:10.1007/s10508-021-02163-w.
  14. S3-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: Diagnostik, Beratung, Behandlung. In: AWMF Leitlinienregister. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) e. V., 9. Oktober 2018, abgerufen am 14. Dezember 2022.
  15. Bundesamt für Statistik: Geschlechtsangleichende Operationen in den Spitälern der Schweiz 2019-2022. 26. Oktober 2023 (admin.ch [abgerufen am 30. Oktober 2023]).
  16. England: Gesundheitsdienst stoppt Verschreibung von Pubertätsblockern. 13. März 2024, abgerufen am 13. März 2024.
  17. § 27 SGB 5 – Krankenbehandlung. In: Gesetze im Internet. Bundesamt für Justiz, abgerufen am 18. Dezember 2022.
  18. § 12 SGB 5 – Wirtschaftlichkeitsgebot. In: Gesetze im Internet. Bundesamt für Justiz, abgerufen am 18. Dezember 2022.
  19. Begutachtungsanleitung Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus (ICD-10, F64.0). (PDF, 1,3MB) GKV-Spitzenverband, 31. August 2020, abgerufen am 14. Dezember 2022.
  20. Bundesverband Trans*. Abgerufen am 14. Dezember 2022 (deutsch).
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