Spitze (Stoff)
Im Zusammenhang mit Textilien und Kleidung ist Spitze ein Sammelbegriff für sehr unterschiedliche dekorative Elemente, die nur aus Garn oder aus Garn und Stoff bestehen. Allen Erscheinungsformen der Spitze ist gemeinsam, dass sie durchbrochen sind, d. h. zwischen den Fäden werden Löcher unterschiedlicher Größe gebildet, so dass sich ein Muster ergibt. Daher ist z. B. ein nur mit einem Motiv bestickter Stoff keine Spitze.
Das Wort Spitze leitet sich vom althochdeutsch spizza, spizzi, mittelhochdeutsch spitze ab, was „Garngeflecht“ bzw. „in Zacken auslaufende Borte“ bedeutet.[1]
Meistens wurden und werden Spitzen als Randverzierung an Kleidungsstücken verwendet; es gibt aber auch „entre-deux-Spitzen“ als Einsatz zwischen zwei Stoffstücken, flächige Spitzenstoffe (sog. Plains) und vor allem seit Ende des 19. Jahrhunderts eigenständige, von Kleidung unabhängige Objekte aus Spitze, z. B. als Fensterdekoration wie Macramés, Florentiner oder als Tischwäsche.
Heute werden Spitzen für die Bekleidung hauptsächlich für Dessous, Nachtwäsche, Damenoberbekleidung, Brautkleider und Trachten verwendet. Außerdem findet Spitze Verwendung bei der Fertigung von Tischwäsche, Gardinen und liturgischen Gewändern. Die Region um Plauen bildet das deutsche Zentrum maschinengestickter Spitze (siehe Plauener Spitze), während die Region um St. Gallen als Schweizer Textilzentrum gilt (siehe St. Galler Spitze).
Es werden zwei Arten von echten Spitzen unterschieden: Die Nadelspitze und die Klöppelspitze. Technisch gesehen hat sich die Nadelspitze aus der Durchbrucharbeit entwickelt, die Klöppelspitze aus dem Geflecht.
Die Herstellung von Spitze wurde sowohl für Kroatien und Zypern als auch für Frankreich als immaterielles Kulturerbe der Menschheit anerkannt.
Geschichte
Die ersten Nadelspitzen (Reticella) wurden im 15. Jahrhundert in Norditalien gefertigt und erlangten im Verlauf des 16. Jahrhunderts weite Verbreitung. Im 17. Jahrhundert entwickelte sich daraus die Nadelspitzen-Technik, die zunächst in Venedig und Mailand gepflegt wurde. Spitzen wurden an Ärmelmanschetten angesetzt und dienten als Kragen für Männer und Frauen. Der aufwendigen Herstellung wegen waren Nadelspitzen so extrem teuer, dass nur die Reichsten sie sich leisten konnten. Ihre Beliebtheit beim französischen Adel sorgte für einen beträchtlichen Kapitaltransfer nach Italien, dem Ludwig XIV. dadurch gegensteuerte, dass er die Spitzenherstellung in Frankreich förderte.
Um 1700/1710 löste die billigere, weil schnellere Klöppeltechnik die Nadelspitze weitgehend ab. Waren die Spitzen anfangs noch dicht gemustert, setzte sich im Verlauf des Jahrhunderts der Tüllgrund mit eingearbeitetem oder appliziertem Muster immer mehr durch. Tüllgrundspitzen waren noch einmal schneller und billiger herzustellen als dicht gemusterte, so dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts sich auch weniger wohlhabende Bürger Spitze zum Sonntagsstaat leisten konnten.
Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts entstand die Häkeltechnik, die in Irland von Heimarbeiterinnen zu höchster Vollendung entwickelt wurde. Occhispitze, die etwa zur gleichen Zeit entstand, spielte nur als häusliche Freizeitbeschäftigung eine Rolle.
Ab Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man Klöppelspitze und Lochspitze auch maschinell fertigen, so dass die traditionellen Spitzentechniken vom Aussterben bedroht waren. Breitere Verwendung besitzen heute praktisch nur noch maschinell gefertigte Spitzen in Form maschineller Bohrspitze (Lochspitze), maschinengestickte Tüllspitze, Ätzspitze oder die gröbere Macramé-Spitze.
Die einst bedeutende ökonomische Bedeutung handgefertigter Spitze existiert heute praktisch nicht mehr. Von wenigen Spezialanfertigungen im Tourismus-, Museums-, Schul-, Schmuck- und Kunstbereich erfolgt die Produktion handgefertigter Spitze heute fast ausschließlich als ökonomisch bedeutungslose Freizeittätigkeit durch Laien. Die Weitergabe der teils äußerst komplizierten Herstellungstechniken erfolgt dabei – zumeist ehrenamtlich – in speziellen Vereinen, Schulen und Kursen verschiedener Bildungseinrichtungen und Museen, neuerdings auch vermehrt via sozialer Medien. Dennoch sind insbesondere komplexere und nur mit extrem hohem zeitlichen Aufwand zu erlernende und herzustellende Formen der Nadel, Nadelspitzen und Kombinatiinsspitze, wie Point de Venise oder Duchessespitze akut vom Aussterben bedroht.
Arten von Spitze/Stickerei (Auswahl)
Reticella-Spitze
Die Reticella-Spitze (italienisch rete ‚Netz‘) ist ab der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts in Italien entstanden. Sie hat sich aus der Durchbrucharbeit entwickelt. Aus einem leinwandbindig gewebten Stoff werden Fäden ausgezogen und die so entstandenen Stege mit Knopflochstich umstickt, die Löcher mit diagonalen Fäden ausgefüllt, die wiederum umstickt werden. Man kann zwischen einem einfachen und einem doppelten Durchbruch unterscheiden. Dabei werden entweder nur Kett- oder Schussfäden aus dem Gewebe gezogen oder Kett- und Schussfäden. Wenn so viele Fäden ausgezogen werden, dass von dem Grundstoff fast nichts übrigbleibt, spricht man von Punto in Aria (ital.: Stickerei in der Luft). Als Muster finden sich Ranken, Blüten und Blätter. Aus der Reticella entwickelte sich die Nadelspitze.
Nadelspitze (französisch: Guipure)
Nadelspitzen sind die vom Arbeitsaufwand her anspruchsvollsten Spitzen. Ihre Herstellung erfordert jahrelange Übung, gute Augen, hochwertiges Garn, viel Licht, eine ruhige Hand und sehr viel Zeit und Geduld.
Die Herstellung von Nadelspitze erfolgt in mehreren Schritten:
Zunächst wird auf einen Karton, Pergament, Architektenpapier oder neuerdings auch direkt auf Papier, dass dann mit durchsichtiger Klebefolie abgedeckt wird, das spätere Muster gezeichnet. In einem Zweiten Schritt wird der Rand dieses 'Kartons' dann rückseitig mit Fassstichen auf einem in mehrere Lagen gelegten Leinen- oder Baumwollstoff befestigt, so dass eine stabile, aber biegsame und leicht nachgiebige Unterlage entsteht. In einem dritten Schritt werden auf der Vorderseite des 'Kartons' über den Linken der Musterzeichnung Fäden, die sog. Trassierfäden mittels durch Karton und Stoffschichten führenden Fassstichen befestigt. Da diese Stiche später wieder entfernt werden müssen, werden sie häufig in einem etwas dünneren Garn, dass in einer von der späteren Spitze abweichenden Farbe eingefärbt ist, ausgeführt. Die Trassierfäden bilden danach das Gerüst der Spitze. In einem vierten Schritt wird dieses Grundgerüst aus Tressierfäden dann in Knopflochstich umstickt. Danach werden in einem fünften Schritt weitere Verbindungsfäden gezogen und die Flächen dazwischen mit ebenfalls aus dem Knopflochstich abgeleiteten Füllstichen (historisch nicht zutreffend heute zumeist 'Brüssler Stich' oder 'brussel stich' genannt) ausgefüllt. In einem sechsten Schritt können dann auf Teile des Grundgitters zusätzliche Tressierfäden gelegt und umstickt werden, oder ganze zusätzliche Lagen von Spitze angearbeitet werden, wodurch eine reliefierte oder sogar dreidimmensionale Oberfläche erreicht wird. In einem siebten Schritt werden die anfangs um die Tressierfäden gelegten Fassstiche mittels eines feinen Messers oder einer Schere rückseitig aufgeschnitten. Danach werden Stofflagen und 'Karton' entfernt und in einem letzten Schritt die Reste der farbig unterschiedlich eingefärbten Fasstiche mittels Fingernägeln oder Pinzette sorgfältig heraus gezupft. Eventuell kann die fertige Nadelspitze nun auch noch zusätzlich bestickt oder anderweitig nachbearbeitet werden.
Historisch entwickelte sich die geschilderte Technik der Nadelspitzenherstellung im frühen 16. Jahrhundert auf Basis der Reticellaspitze und fand insbesondere in und um Venedig breitere Verbreitung. Folgten die in dieser neuen Technik gefertigten Stücke anfangs noch den streng den geometrischen Vorbildern der Reticellaspitze, und würden deren 'leere' Flächen zunächst nur sporadisch mit Füllstichen ausgefüllt, so ermöglichte die veränderte Technik rasch auch die Herstellung größerer gefüllter Flächen mit unterschiedlichen Stichen und Mustern, sowie die Herstellung farblich und in ihrer Textur und Musterung abgesetzter, geschwungener Formen, wie Ranken und Blüten. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war die Technik schließlich so verfeinert worden, dass sich quasi jede zweidimensionale Form, inklusive ganzer Landschafts- und Figurengruppen, abbilden ließ. Auch wurden ab diesem Zeitpunkt diese zweidimensionalen Darstellungen zunehmend um eine weitere, dreidimensionale Elemente ergänzt, indem auf einzelne Partien eine oder mehrere zusätzliche Lagen umstickter Tressierfäden oder ganze zusätzliche Lagen von Nadelspitze „aufgearbeitet“ wurden.
Die Herstellung von Nadelspitzen erforderte dabei deutlich mehr Übung und war sehr viel material- und zeitaufwändiger als jene der vergleichsweise 'einfach' zu erlernen den und herzustellenden Reticellaspitze. Dies führte ab Mitte des 17. Jahrhunderts dazu, dass der Hochadel die teurere und damit auch prestigeträchtige Nadelspitze als Distinktionssymbol bevorzugte und immense Summen für sie ausgab, während die deutlich günstigere Reticellaspitze nach und nach zu einer Spitze des niederen Adels und des Bürgertums 'herabsank'.
Ähnlich wie bei Glas und Spiegeln, gelang es der Republik Venedig bis Mitte des 17. Jahrhunderts durch die Konzentration und Isolation der Hersteller von Nadelspitze in abgelegenen und streng überwachten Waisenhäusern, Klöstern und auf abgelegenen Inseln der Lagune, ein weitgehendes Monopol auf die Herstellung von Nadelspitze aufrechtzuerhalten und damit – trotz des aufwändigen Herstellungsprozesses – enorme Gewinne zu erwirtschaften. Nach Mitte des 17. Jahrhunderts gelang es jedoch gleich mehreren Staaten, darunter insbesondere Frankreich unter Ludwig XVI., durch Spionage und gezielte Abwerbung von geübten Nadelspitzenherstellern das venezianische Spitzenmonopol, und damit die Abwanderung großer Geldsummen ins Ausland, zu brechen und eine eigene Spitzenindustrie aufzubauen. In der Folge entwickelten sich insbesondere das französische Alençon und Brüssel zu bedeutenden Zentren der Herstellung von Nadelspitze, die sich fortan in mehrere lokale Varianten und Techniken weiterentwickelte und aufspaltete.
Bekannte Sorten von Nadelspitzen sind Point de Venise, Point d’Alençon, Point de neige oder Point rose.
Im 19. Jahrhundert verbreitete sich die Technik der Nadelspitzenherstellung dann durch europäische Auswanderer global bis nach Nord- und Südamerika und Australien. Zeitgleich führten erste maschinelle Spitzenerzeugnisse zu einer raschen Abwendung der meisten Konsumenten von der nur unter extremen Lern- und Zeitaufwand herzustellenden und daher stets sehr teuren, handgemachten Nadelspitze.
Ende des 19. Jahrhunderts hielten lediglich Großbürgertum und reicher Adel an der Verwendung des Luxusguts handgemachter Nadelspitze fest. Extreme Verarmung der Bevölkerung in Folge der Industrialisierung und einige, aus heutiger Sicht eher eigennützige 'Hilfsprojekte' adliger und großbürgerlicher Liebhaber handgefertigter Nadelspitze, führten dennoch noch Ende des 19. Jahrhunderts zur Gründung gleich mehrerer Schulen und Manufakturen, in der die zu diesem Zeitpunkt beinahe ausgestorbene Technik der Nadelspitzenherstellung für wenige Jahrzehnte wiederbelebt und auf kommerziell bedeutsamen Niveau betrieben wurde.
Spätestens mit dem sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg der 1950er und 1960er Jahre der zugleich mit der maschinellen Massenherstellung günstiger Tüll- und Ätzspitze auf Synthetikbasis einherging, endete jedoch auch diese Periode.
Dennoch ist die in der Literatur häufig zu findende Behauptung, Technik und Herstellung von Nadelspitze seien Ende des 19. Jahrhunderts oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts „in Vergessenheit geraten“ oder gar „ausgestorben“ unzutreffend. „Ausgestorben“ ist aufgrund des hohen Arbeitszeit-Aufwandes und der Konkurrenz durch sehr viel billigere maschinelle Spitze lediglich die großangelegte professionelle und kommerzielle Herstellung in speziellen Manufakturen, Schulen und Sozialen Einrichtungen. Die Herstellung von Nadelspitze durch engagierte Laien ist hingegen weltweit weit verbreitet.
Insbesondere in und um Venedig und Alençon aber auch in den USA, Kanada und Australien, wo die Technik durch Auswanderer Verbreitung fand, werden immer noch zahlreiche neue Stücke hergestellt. Die dabei verwendeten Techniken wurden in den letzten Jahrzehnten durch Einrichtungen wie das Museo dell merletto in Burano (Venedig) oder das Musée des belles artes et dentelles in Alençon ausführlich schriftlich und bildlich dokumentiert und teils auch auf Basis alter Stücke und Quellen rekonstruiert. Beide Einrichtungen bieten in Zusammenarbeit mit lokalen Vereinen und Schulen regelmäßige Kurse für interessierte Laien und Schüler an.
Auch finden sich neuerdings spezielle Tutorials Tutorial in den sozialen Medien. Die Kenntnisse der grundlegenden Techniken zur Herstellung zweidimensionaler Nadelspitze können daher heute als weltweit verbreitet, allgemein zugänglich, von einer ausreichend Menge an Herstellern gepflegt und damit langfristig gesichert angesehen werden.
Anders sieht es hingegen bei der auch bei historischen Stücken nur in Ausnahmefällen und absoluten Spitzenprodukten belegten Verwendung dreidimensionaler Herstellungstechniken, der Verwendung von Byssus-, Seiden-, Gold- oder Silberfäden statt Leinen als Garnmaterial, dem zusätzliche Einarbeiten von Perlen und anderen Materialien, dem zusätzlichen Besticken und Nachbearbeiten, unterschiedlichen Formen der mehrere Techniken in einem Stück verknüpfenden Kombinationsspitze oder der Herstellung (mehr-)farbiger Stücke aus. Diese Techniken sind aufgrund der geringen Anzahl und des meist hohen Alters an geübten Ausführenden und potentiellen Lehrenden, des mit ihnen verbundenen extrem hohen Lern- und Zeitaufwands und der teils extrem seltenen, gefährdeten oder teuren Materialien in ihrem aktiven Fortbestand aktuell nicht gesichert. Aufgrund ihrer ausführlichen Dokumentation in Text und Bild und anhand der sich in Museen befindlichen historischen Stücke, Materialien, Instrumente und Expertise besteht jedoch die Möglichkeit auch diese anspruchsvolleren und heute kaum noch ausgeübten Herstellungstechniken von Nadelspitze auch in Zukunft neu zu erlernen.
Orientalische Nadelspitze (französisch: dentelle oya, englisch: Needle Lace, türkisch: Igne Oyasi)
Orientalische Nadelspitze ist auch bekannt als Armenische Spitze, Griechische Nadelspitze oder Bebilla, Smyrna- oder Palästina-Spitze, türkische Nadelspitze (Oya), Nazareth Spitze und Knotenspitze. Gefertigt wird die orientalische Nadelspitze mit Nadel, Faden und Schere, mithilfe derer Knoten und Verbindungen dazwischen erstellt werden. Unterschiede in der Technik, der Anzahl der Fadenumwicklung um die Nadel und die Länge der Verbindung zwischen den Knoten führen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Mit der Nadelspitze gestaltet man ein Netz, das verschiedene Formen annehmen kann. Entweder setzt man am Saum eines Stoffstücks an oder man beginnt freihändig mit der Spitze. Es wird immer die Nadel vom Körper weg in den Stoff bzw. die Schlinge geführt und halb stecken gelassen; dann legt man das Fadenende in Arbeitsrichtung quer vor die Nadel, nimmt beide Endfäden, die durch das Nadelöhr gehen, mit Daumen und Zeigefinger auf und wickelt damit zweimal (im Uhrzeigersinn oder entgegen dem Uhrzeigersinn) über die Nadelspitze oben. Nun zieht man vorsichtig die Nadel hoch und achtet darauf, dass der Knoten offen bleibt, bis der Faden ganz durchgezogen ist. So setzt man in Abständen von etwa 5 mm Knoten nebeneinander. Durch Wenden, Auslassen von Bögen und mehrere Knoten in einem Bogen wird die Spitze gestaltet. Es ist ein Vorgehen wie beim Häkeln, aber filigraner. Was beim Häkeln die Luftmaschenkette oder das Stäbchen ist, ist bei der Nadelspitze der Faden selbst, der nicht dünner als Knopflochgarn sein sollte. Der Faden muss einen starken Drall haben.
Oya geht auf altgriechisch ὀᾶ, ὀά, ὄα oa, deutsch ‚Rand, Randverzierung‘[2] zurück. Die Technik trat im vorgeschichtlichen Armenien auf. Abbildungen der armenischen Königinnen mit dieser Spitze geschmückt gehen bis ins 14. Jahrhundert zurück. Geschichtlich tritt sie im 19. Jahrhundert in Form von bunten Blüten aus Seide in Erscheinung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist sie im gesamten Osmanischen Reich, in Kleinasien, auf dem Balkan, den Inseln der Ägais, in Palästina und Ägypten zu finden. Während in Europa Spitzen dem Adel vorbehalten waren, fand die Nadelspitze beim Volk große Verbreitung als Umrandung von Kopftüchern, Ränder von Hemden und Handtüchern, aber auch Broschen, Beutel und Deckchen bis zu Tischdecken. Für Frauen war diese Handarbeit eine sehr beliebte Beschäftigung.
Klöppelspitze
Beim Klöppeln werden Fäden nach einem bestimmten Muster verkreuzt bzw. verdreht, den sogenannten Schlägen. Auf rollenförmigen (traditionell vor allem in Deutschland) oder flachen Klöppelkissen (traditionell vor allem Frankreich und Belgien) oder Kombination von beiden wird eine Musterzeichnung festgesteckt, der Klöppelbrief. Das Garn wird auf Klöppel gewickelt, mit Nadeln paarweise auf dem Klöppelsack befestigt und dann durch Kreuzen und Drehen der Klöppel verzwirnt, verflochten bzw. verwebt. Die Verkreuzungsstellen werden an den durch das Muster vorgegebenen Nadelpunkten mit dünnen Nadeln am Platz gehalten, bis ihre Position durch die nachfolgenden Schläge fixiert ist. Am Ende einer Klöppelarbeit wird diese mit Haar- oder Spezialspray (Neuzeit) oder Wäschestärke fixiert.
- Echte, also handgefertigte Klöppelspitzen werden traditionell in creme/weiß oder schwarz aus Leinen, Baumwolle oder aus cremefarbener Seide (Blonde) gemacht; heute werden auch farbige Fäden verwendet. Das Klöppeln erfreut sich heute noch großer Beliebtheit und hat weltweit verschiedene Zentren. Im Erzgebirge, einem traditionellen Zentrum deutscher Spitzenherstellung, wird Handklöppelspitze noch gepflegt. Bekannte Klöppelspitzen sind etwa Mechelner, Brüsseler, Honiton, Valenciennes, Torchon oder Schneeberger.
- Mechelener Spitze: Rokokospitze, bei der ein starker Konturfaden aus Leinen das Muster umrandet.
- Brüsseler Spitze: Sie gibt es in Klöppel- und Nadeltechnik. Besonderes Merkmal ist die gesonderte Herstellung von Grund mit der Nadel und dem feinen Muster, welches geklöppelt wurde. Erkennungszeichen ist ihr feines bandartiges Relief. Sie wird auch Points d’Angleterre (englische Spitze) genannt, weil sie illegal nach England verschifft und dort als landeseigene Ware verkauft wurde.
- Torchon: Ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, ursprünglich eine Klöppelspitze mit geometrischem Muster, die schließlich maschinell hergestellt wurde.
Technologische Begriffe bei Nadel- und Klöppelspitzen
- Flechte/Flechtschlag (Klöppeln): Vier Fadenelemente werden kontinuierlich gekreuzt und gedreht.
- Formenschlag (Klöppeln): Ein (aktiver) Faden wird über drei passive Fäden hin und her geführt. Der Effekt ist der eines leinwandbindigen Gewebes mit Schusseffekt. Er dient zur Darstellung von rechteckigen Formen und Bändern.
- Leinenschlag (Klöppeln): Ein (aktives) Fadenpaar wird durch mehrere (passive) Fadenpaare geführt. Der Effekt ist der eines leinwandbindigen Gewebes.
- Picot: Kleine Stäbchen, die in der Nadel- und Klöppelspitze zur Auszier von Motiven, Stegen und Randabschlüssen gearbeitet werden.
- Steg: Bei Nadel- und Klöppelspitzen die Verbindung zwischen den Motiven. Füllen sie in der Nadelspitze eine größere Fläche, spricht man von Steggrund.
Tüllspitze
Ein maschinell gefertigter Tüllgrund wird stickereiähnlich mit Fäden durchzogen. Da diese Technik leicht maschinell nachgeahmt werden konnte, ist Tüllspitze – auch Webspitze oder Bobinetspitze genannt – heute noch weit verbreitet und im Kurzwarenhandel zu finden.
Häkelspitze
Häkelspitze ahmt die Muster der Nadelspitze in Häkeltechnik nach. Besonders bekannt ist die Irische Häkelspitze oder Irische Guipüre, die im 19. Jh. der verarmten irischen Landbevölkerung ein Zubrot einbrachte.
Unter Csetneker Spitze versteht man eine bestimmte Technik der Häkelspitzenanfertigung. Dabei werden die mit Figur ausgestatteten Teile jeweils gesondert gehäkelt, dann auf ein mit der Skizze des Spitzenmusters versehenes Papierblatt oder Gewebe angeheftet und mit einem in ihrer Position gehäkelten Netzwerk befestigt.
Occhi (Frivolitäten)
Occhi (ital. „Augen“, auch bekannt als Frivolitätenarbeit oder Schiffchenspitze) wird aus einem Faden geknüpft, der auf ein Schiffchen gewickelt wurde. Dabei werden ringförmige (die „Augen“) und bogenförmige Figuren gebildet und untereinander zu größeren Formen verbunden.
Strickspitze
bildet durchbrochene Muster in Stricktechnik.
Weißstickerei
In feinen weißen Leinen- oder Baumwollstoff werden Löcher gebohrt, geschnitten oder durch Fadenziehen gebildet und die Kanten der Löcher dann mit weißem Garn dicht umstickt. Die Technik wurde v. a. in Sachsen besonders fein und kunstvoll ausgeführt, so dass das Produkt als Point de Saxe oder Dresden lace zum Exportschlager wurde.
Eine auch heute noch beliebte Form der Weißstickerei ist die sogenannte Richelieu- oder Ausschnittstickerei. Zuerst werden die Konturen der Motivteile mit einem Festonstich (auch Languetten- oder Schlingstich) dick nachgestickt, anschließend werden dann bestimmte Teile ausgeschnitten. Stege in den Öffnungen und eingestopfte Spinnen an den Kreuzungspunkten geben der Arbeit zusätzlichen Halt.[3]
Lochspitze (auch Bohrspitze, Baumwoll- oder Wäschespitze genannt) ist eine Unterart der Weißstickerei. In eine Grundlage aus weißem Batist werden mit einer Ahle runde Löcher gebohrt und dann dicht mit einem weißen Baumwollfaden umstickt. Lochspitze war Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als Randverzierung an Unterwäsche beliebt, daher der Name „Wäschespitze“. Die maschinell gefertigte Variante nennt man Bohrspitze; sie ist heute noch u. a. im Kurzwarenhandel zu finden.
Maschinenspitze
Voraussetzung für die mechanische Herstellung von Spitzen war die Erfindung der Strumpfwirkmaschine von William Lee 1589 in England. Allerdings konnte erst 200 Jahre später eine erste zufriedenstellende Maschinenspitze hergestellt werden. Entscheidend hierfür war ein Patent von Thomas und John Morris und William Betts 1764. Es war nun möglich, ein tüllartiges Netz auf der Maschine zu produzieren. Diese Erfindung wurde allerdings nicht weitergeführt.
Erst mit der Erfindung der Bobinettüllmaschine von John Heathcoat 1808 konnte ein glatter ungemusterter Tüll gefertigt werden. Dieser wurde dann durch Handstickerei verziert. 1828 erfand Josua Heilmann die erste mechanische Stickmaschine, die die Arbeit der Handstickerinnen ersetzte.[4]
Maschinengeklöppelte Spitze
Maschinell auf der Spitzenklöppelmaschine hergestellte Spitze hat einfache geometrische Formen mit meist volkstümlicher Musterung. Sie wird oft als „Torchon lace“ bezeichnet und ist nur schwer von der handgeklöppelten Spitze zu unterscheiden. Zu den bedeutenden deutschen Produktionsstandorten gehört seit den Anfängen um 1900 die Stadt Wuppertal.
Luftspitze/Ätzspitze
entsteht durch maschinelles Übersticken eines Stoffgrundes und anschließendes Beseitigen des überflüssigen, nicht überstickten Grundes. Das Ergebnis ist ein durchbrochener Stoff, der aus einer gewissen Entfernung aussieht wie Nadelspitze. Heute besteht der Stickgrund aus einem wasserlöslichen bzw. nicht temperaturbeständigen Material.
Applikationsspitze
Auf einen maschinell gefertigten Netzgrund werden handgeklöppelte Elemente aufgenäht.
Immaterielles Kulturerbe der Menschheit
Das Anfertigen von Spitzen wurde bereits mehrfach in der UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit berücksichtigt. 2009 wurde Kroatiens Antrag angenommen,[5] der Nadelspitze aus Pag ebenso enthält wie Klöppelspitze aus Lepoglava und Aloe-Spitze aus Hvar. Das Material für diese Variante wird aus jungen Aloeblättern gewonnen. Im gleichen Jahr wurden die zypriotischen Lefkaritiko in das Weltkulturerbe eingeschrieben.[6] In diesen Arbeiten werden Hohlsaum, Schnittarbeiten, Satinstichfüllungen und Nadelspitzenkanten verbunden. Ein Antrag Frankreichs wurde 2010 berücksichtigt, indem die „Handwerkskunst der Nadelspitze in Alençon“ anerkannt wurde.[7] 2018 kam „Herstellung von Klöppelspitze aus Slowenien“ hinzu.[8] In diesem Antrag wird die kreative und therapeutische Seite der Arbeit hervorgehoben.
Literatur zur Nadelspitze
- Priscilla Armenian Lace Book. The Priscilla Publishing Co., Boston, Mass. 1923 (antiquepatternlibrary.org).
- Alice Odian Kasparian: Armenian Needlelace and Embroidery: A Preservation of Some of History’s Oldest and Finest Needlework. EPM Publications Inc., McLean, Va. 1983, ISBN 0-914440-65-9 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Filet. In: Handarbeitstechnik. Band 4. Verlag für die Frau, Leipzig, S. 49–51 (booklooker.de).
- Elena Dickson: Knotted Lace in the Eastern Mediterranean Tradition. Illustrierte, überarbeitete Ausgabe. Sally Milner Pub., Burra Creek, N.S.W. 2000, ISBN 1-86351-121-0 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Gérard J. Maizou, Kathrin Müller: OYA. Von osmanischer Mode zu türkischer Volkskunst. Hrsg. von der Gesellschaft der Freunde Islamischer Kunst und Kultur e. V., München 2011, ISBN 978-3-00-034471-8 (freunde-islamischer-kunst.de [27. Mai 2011, zuletzt aktualisiert am 7. April 2013]).
- Midori Nishida, CRK Design: The Beaded Edge. Inspired designs for crocheted edgings and trims. Interweave, Loveland, CO 2011, ISBN 978-1-59668-300-6.
- Midori Nishida, CRK Design: The Beaded Edge 2: More Inspired Designs for Crocheted Edgings and Trims. Interweave, Loveland, CO 2012, ISBN 978-1-59668-559-8.
- Beyhan Ecevit, Kader Demirpehlivan: Açıklamalı İğne Oyası Rehberi. Tuva, Istanbul 2013, ISBN 978-605-5647-54-4 (tuvayayincilik.com (Memento vom 27. Januar 2019 im Internet Archive)).
- Elisabeth Hamel: Nadelspitze. Eine alte Technik aus dem Orient neu angewandt. Leopold Stocker Verlag, Graz 2018, ISBN 978-3-7020-1746-0.
Literatur
- Die Wiener Spitzenausstellung 1906. Hrsg. vom k.k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien in zwei Teilen, 30 [60 sic!] Lichtdrucktafeln und Einleitung von Dr. M. Dreger. In: Ornamentale und kunstgewerbliche Sammelmappe. Serie IX und X. Verlag von Karl W. Hiersemann, Leipzig 1906.
- Marie Schuette: Alte Spitzen. Nadel- und Klöppelspitzen. Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber. Berlin 1913; Klinkhardt & Biermann, München 1981.
- Marie Schuette: Spitzen von der Renaissance bis zum Empire. Die Sammlung Helene Vieweg-Brockaus. Karl W. Hiersemann, Leipzig 1929, DNB 362555869.
- Friedrich Schöner: Spitzen. Enzyklopädie der Spitzentechniken. VEB Fachbuchverlag, Leipzig 1982 (4. Auflage. Ebenda 1988, ISBN 3-343-00273-9).
- Willy Erhardt: Das Glück auf der Nadelspitze. Vogtland-Verlag, Plauen 1995, ISBN 3-928828-13-4.
- Ingrid Loschek: Reclams Mode und Kostümlexikon. 5., aktualisierte und erweiterte Ausgabe, Stuttgart 2005, ISBN 3-15-010577-3 (6., erw. und akt. Auflage. Ebenda 2011, ISBN 978-3-15-010577-1).
- Beate Schad: Maschinenspitze-Tradition und Innovation. Internationale Fachtagung am 27. Oktober 2011 in Plauen
- Birgitt Borkopp-Restle (Hrsg.): Textile Schätze aus Renaissance und Barock aus den Sammlungen des Bayerischen Nationalmuseums. Hrsg. von Renate Eikelmann. Bayerisches Nationalmuseum, München 2002, ISBN 3-925058-48-6 (Bestandskatalog).
- Skript zum Spitzenkurs von Thessy Schoenholzer-Nichols an der TU München, Lehrstuhl für Restaurierung, Kunsttechnologie und Konservierungswissenschaft, Februar 2002.
Weblinks
- Literatur von und über Spitze im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Lexikon der textilen Raumausstattung – Rubrik Spitze (Memento vom 6. September 2013 im Internet Archive)
- Alexa Bender, La Couturière Parisienne: Spitze. In: marquise.de, 24. April 2013
- Spitze – Virtual Museum of Textile Arts. In: museocaprai.it
- Helga Hartenstein: Systematik für Spitzen und Stickereien. Online-Plattform Museumsvokabular.de. Sächsische Landesstelle für Museumswesen. 19. Mai 2006 (museum.zib.de (Memento vom 11. Januar 2017 im Internet Archive) [PDF; 151 kB]).
- Museo dell Merletto Burano (Venedig, Italien) 2. April 2024
- Musée des Beaux-Arts et de la Dentelle Alençon, Frankreich 2. April 2024
Einzelnachweise
- Vgl. Ingrid Loschek: Reclams Mode und Kostümlexikon. 5., aktualisierte und erweiterte Ausgabe. Stuttgart 2005, Stichwort „Spitze“.
- ὄα. In: perseus.tufts.edu, abgerufen am 28. November 2020.
- Eintrag in: Jutta Lammèr: Das grosse Ravensburger Lexikon der Handarbeiten. Otto Maier Verlag, Ravensburg 1983, ISBN 3-473-42363-7, S. 250.
- Beate Schad: Maschinenspitze-Tradition und Innovation. Internationale Fachtagung am 27. Oktober 2011 in Plauen.
- Lacemaking in Croatia. UNESCO Intangible Cultural Heritage, 2009, abgerufen am 24. Januar 2024 (englisch).
- Lefkara laces or Lefkaritika. UNESCO Intangible Cultural Heritage, 2009, abgerufen am 24. Januar 2024 (englisch).
- Craftsmanship of Alençon needle lace-making. UNESCO Intangible Cultural Heritage, 2010, abgerufen am 24. Januar 2024 (englisch).
- Bobbin lacemaking in Slovenia. UNESCO Intangible Cultural Heritage, 2018, abgerufen am 3. Februar 2024 (englisch).