Spinnrad
Das Spinnrad ist ein technisches Hilfsmittel zum Verspinnen von Fasern zur späteren weiteren Verarbeitung (z. B. Weben, Stricken). Beim Verspinnen werden lose Fasern durch gleichzeitiges Verdrehen und Auseinanderziehen zu einem Faden verarbeitet. Als Spinnrad wird sowohl das üblicherweise mit dem Fuß angetriebene Flügelspinnrad als auch das handgetriebene Spindelspinnrad bezeichnet. Die einem Spindelspinnrad sehr ähnlichen Spulräder werden dagegen nicht zum Spinnen, sondern in der Handweberei verwendet. Die Spinnräder wurden von Spillen- oder Spindelmachern hergestellt, die hauptsächlich für das Spinnerei- und Weberhandwerk Geräte aus Holz fertigten. Es ist nicht gesichert, wann und wo das Spinnrad erfunden wurde; es gibt Darstellungen aus Indien und China zwischen dem 5. und 10. Jahrhundert.
Geschichte
Das Spindelspinnrad gelangte gegen Ende des 12. Jahrhunderts aus dem orientalischen Raum nach Europa. Es begann sich im 13. Jahrhundert in Mitteleuropa zu verbreiten, wie die Quellenlage anhand von Verboten, das Spindelspinnrad zu verwenden, für die Zünfte der Tuchmacherei aufzeigt[1].
Folgende Verbote sind beispielsweise belegt: 1224 Venedig, 1256 Bologna, 1268 Paris, 1280 Speyer, 1288 Abbeville, 1292 Siena, 1305 Douai. In der Handwerksordnung der Weber von Speyer wird es ausdrücklich nur für die Herstellung von Schussgarn zugelassen.
Der Grund für die Beschränkung auf Schussgarn ist in der Forschung umstritten[2]. Die Verbote könnten erlassen worden sein, um die hohe Qualität des mit Handspindel erzeugten Wollgarns zu schützen. Beispielsweise steht im sogenannten Livre des metiers aus Brügge (ca. 1349), dass mit dem Spindelspinnrad gesponnene Wolle generell zu schwach, ungleichmäßig, ungenügend gezwirnt und zu knotig sei. Das Spindelspinnrad blieb in manchen Regionen noch bis ins 15./16. Jahrhundert für die Zünfte verboten.
Der erste bildliche Nachweis eines (noch handgetriebenen) Flügelspinnrads stammt erst aus dem Jahr 1480. Der Erfinder dieser völlig neuen Funktionalität des Spinnflügels ist unbekannt. Leonardo da Vinci entwarf etwas später einen Spinnmechanismus mit längsbeweglichem Spinnflügel, der aber wohl nicht zur Verbreitung kam. Ein Fußtritt ist ab der Mitte des 17. Jahrhunderts bekannt.
Als Vorlagen für die ersten mechanischen Spinnmaschinen des 18. Jahrhunderts dienten beide oben genannte Spinnradsysteme. Die etwas ältere Spinning Jenny fußt auf der zweistufigen Absetztechnik der einfachen Spindel, die fast gleichzeitig entwickelte Waterframe hatte dagegen Spinnflügel.
Selbst nach Einführung von Spinnmaschinen wurde das Flügelspinnrad im häuslichen Bereich weiter genutzt und gehörte bis ins 19. Jahrhundert hinein zur Aussteuer der Braut.
Auch heute noch werden von zahlreichen europäischen und außereuropäischen Handwerksbetrieben moderne Flügelspinnräder gebaut und technisch weiterentwickelt, größtenteils für den Bedarf von Freizeit-Spinnerinnen und -Spinnern. Es gibt sogar elektrisch betriebene Spinn„räder“, bei denen das Ausziehen des Fadens allerdings weiterhin von Hand geschieht, während das Schwungrad durch den elektrischen Antrieb ersetzt ist. Diese Spinngeräte werden vorwiegend im Kleingewerbe eingesetzt.
Aufbau des Flügelspinnrads
Mechanische Teile
Ein Flügelspinnrad setzt sich aus folgenden mechanisch wirksamen Teilen zusammen (die Buchstaben in Klammern beziehen sich auf die nebenstehende Schemazeichnung):
- Tritt/ Trittbrett (f). Traditionell werden Trittbretter für den rechten Fuß angefertigt.
- Antriebsstange (e), auch Knecht genannt, kann auch ein Faden sein
- Kurbel (d)
- Schwungrad (c)
- Antriebsschnur oder -riemen (s und t), diese kann z. B. aus Baumwolle, Leinen, Wolle oder Leder bestehen.
- Spinnflügel, besteht aus:
- U-förmiger Flügel mit zwei Flügelarmen (a) aus Holz oder Eisen. Auf den Armen sind Führungen für den entstandenen Faden (i) angebracht, das kann eine Reihe von Häkchen, Löcher für ein einzelnes umsteckbares Häkchen oder eine verschiebbare Öse sein.
- Spindel (x) mit der Einzugsöffnung (y) und seitlichem Auslass, mit dem Flügel fest verbunden.
- auf der Spindel frei bewegliche Spule (b) mit einem Spulenwirtel (u). Ein Wirtel ist eine Riemenscheibe. Die Spule besitzt an einem Ende einen Wirtel.
- Nur doppelfädige und flügelgetriebene Bautypen: Flügelwirtel (r), auf die Spindel gesteckt oder durch ein Gewinde lösbar mit ihr verbunden. Er dreht die Spindel und die Flügel.
Tragende Teile
Die Konstruktion kann sehr vielfältig sein. Es kommen Typen mit einer Bank und drei oder vier Beinen und einem darauf befindlichen Aufbau vor, aber auch Typen, deren Gestell direkt auf dem Boden steht. Der Spinnflügel kann seitlich oder oberhalb des Schwungrades angeordnet sein. Alle Typen können auch mit zwei Spinnflügeln ausgestattet sein. Mit diesen sogenannten Doppelspinnrädern kann die spinnende Person zwei Fäden gleichzeitig herstellen.
Funktionsprinzip Flügelspinnrad allgemein
Die spinnende Person setzt das Schwungrad über den Fußantrieb in Bewegung. Die Umdrehung des Rades überträgt sich auf den Spinnflügel. Der Unterschied im Innen-Umfang von Schwungrad und Wirtel bedingt die sogenannte Übersetzung. Eine Übersetzung z. B. von 1:5 bedeutet, dass ein Tritt eine volle Drehung des Schwungrades und gleichzeitig 5 Umdrehungen des Spinnflügels hervorruft. Die Aufgabe des Spinnflügels ist es, die Fasern miteinander zu verdrehen und gleichzeitig auf die Spule aufzuwickeln. Die Fertigkeit der spinnenden Person besteht dabei darin, soviel Fasern aus dem Faservorrat freizugeben, wie für die Dicke des gewünschten Fadens erforderlich ist und soviel Drall in den Faden zu leiten, wie für den gewünschten Drehungsgrad (Festigkeit) erforderlich ist.
Dafür müssen gleichzeitig drei Geschwindigkeiten aufeinander abgestimmt werden, nämlich wie schnell man tritt, auszieht und in den Spinnflügel einlaufen lässt.
Funktionsprinzip zweifädige (doppelfädige) Flügelspinnräder
Bei den sogenannten zweifädigen Spinnrädern werden durch einen einzigen, aber in Form einer 8 überkreuzten Antriebsriemen sowohl der Flügelwirtel als auch der Spulenwirtel angetrieben. Dabei muss einer der beiden Wirtel – üblicherweise der Spulenwirtel – einen kleineren Durchmesser aufweisen, wodurch die Spule sich schneller dreht als der Flügel, und der Faden sich auf die Spule aufwickeln kann.
Funktionsprinzip einfädige Flügelspinnräder mit Flügelantrieb (spulengebremst)
Nur der Spinnflügel wird über den Flügelwirtel direkt angetrieben. Die Spule wird durch Reibung mitgeschleift. Ihre Laufgeschwindigkeit wird durch eine Schnur (auch schottische Bremse genannt) über dem Spulenwirtel gebremst.
Funktionsprinzip einfädige Flügelspinnräder mit Spulenantrieb (flügelgebremst)
Die Spule wird über den Antriebsriemen direkt angetrieben, einen zusätzlichen Flügelwirtel gibt es nicht. Um die Geschwindigkeit des mitgeschleiften Spinnflügels demgegenüber zu reduzieren, wird über das Vorderende der Spindel (Einzugsöffnung) ein Lederband oder ähnliches angebracht. Der Druck auf diese sogenannte Flügelbremse kann reguliert werden.
Aufbau und Funktionsprinzip des Spindelspinnrads
Das ältere und im Gegensatz zum Flügelspinnrad immer von Hand angetriebene Spindelspinnrad wird auch Großes Rad, Wanderrad, Handspinnrad oder (Baum-)Wollrad genannt. Auf einem Brett sind Schwungrad und Spindel angeordnet und durch einen Antriebsriemen verbunden. Zu diesem Typ gehören z. B. die in Indien eingesetzten Charkas für das Verspinnen von Baumwolle und das im niedersächsischen Wendland beheimatete, sogenannte Peterrad für das Verspinnen von grobem Flachs-Werg[3].
Das Schwungrad wird mit der rechten Hand gedreht. Die linke Hand zieht gleichzeitig den Faservorrat in einem Winkel von 45° zur Spindelausrichtung zurück. Die spinnende Person kann einen so langen Faden spinnen, wie ihr Arm nach hinten reicht. Dabei muss die Geschwindigkeit, mit der der Drall in die Fasern einläuft, mit der Geschwindigkeit abgestimmt werden, mit der die Hand zurückgezogen wird. Der entstandene Faden muss anschließend manuell auf die Spindel aufgewickelt werden.
Weitere Verwendung und Zubehör
Gesponnene Fäden werden auf dem Spinnrad zur weiteren Verwendung meist noch gezwirnt, d. h., es werden zwei oder mehr Einzelfäden zu einem weit haltbareren Garn zusammengedreht. Zu diesem Zweck wird ein sogenannter Spulenbock verwendet, der die Spinnradspulen trägt, von denen die Einzelfäden frei ablaufen können. Zu diesem Zweck gehören zu jedem Spinnrad üblicherweise mindestens zwei Ersatzspulen. Um das Garn schließlich von den Spinnradspulen abzuziehen, wird eine Dreh- oder Kreuzhaspel benötigt, mit der man Stränge herstellt, die dann gewaschen, ggf. gefärbt und gehandelt werden können. Im Oberland (Ostpreußen) war der verzierte Kratzenstock zur Aufnahme von Garnklunkern eine landestypische Besonderheit[4].
Literatur
- Patricia Baines: Spinning wheels, spinners and spinning. Reprinted edition. Batsford, London 1979, ISBN 0-7134-0821-9.
- Jef Coenen: Europese Handspindagen. Selbstverlag, Antwerpen 1992.
- Joan Whittaker Cummer: A book of spinning wheels. Randall, Portsmouth NH 1993, ISBN 0-914339-46-X.
- Karl Drescher: Die Wiederbelebung der Handspinnerei in Baden. A. Bielefeld in Kommission, Karlsruhe 1904.
- Eliza Leadbeater: Spinning and spinning wheels (= Shire album 43). Reprinted edition. Shire Publications, Princes Risborough 1995, ISBN 0-85263-469-2.
- David A. Pennington, Michael B. Taylor: A pictorial guide to american spinning wheels. Shaker Press, Sabbathday Lake ME 1975, ISBN 0-915836-01-7.
- David A. Pennington, Michael B. Taylor: Spinning wheels and accessories. Schiffer Publishing, Atglen PA 2004, ISBN 0-7643-1973-6.
- Hugo von Rettich: Spinnradtypen. Eine Sammlung von Hand-Spinngeräthen. Verlag des Kaiserl.-Königl. Ackerbau-Ministeriums, Wien 1895.
- Spinnerei-Ausstellung. Unter dem Protektorate I.K.H. der Großherzogin von Baden. Mit einer ausführlichen Einleitung von Dr. Hans Stegmann vom Germanischen Museum in Nürnberg. s. n., Karlsruhe 1903.
- George B. Thompson: The John Horner Collection of Spindles, Spinning Wheels and Accessories (= Belfast Museum and Art Gallery. Bulletin Vol. 1). The Museum, Belfast 1952.
- Veera Vallinheimo: Das Spinnen in Finnland. Unter besonderer Berücksichtigung schwedischer Tradition (= Kansatieteellinen Arkisto. [Ethnographisches Archiv], Bd. 11, ISSN 0355-1830). Suomen Muinaismuistoyhdistys, Helsinki 1956.
- Sigrid Vogt: Geschichte und Bedeutung des Spinnrads in Europa. Shaker Media, Aachen 2008, ISBN 978-3-86858-074-7.
- Wolfgang Born: Das Spinnrad. In: Ciba-Rundschau. Heft 30, (Basel) 1938, S. 1090–1122.
Einzelnachweise
- John Munro: Wool and Wool Based Textiles in the West European Economy, c. 800–1500. Innovations and Traditions in Textile Products, Technology, and Industrial Organisation. (= Department of Economics and Institute for Policy Analysis, University of Toronto. Working Paper. No. munro-00-05, ISSN 0829-4909; PDF; 1,4 MB). University of Toronto, Toronto 2000.
- Karl Heinz Ludwig: Spinnen im Mittelalter unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten „cum rota“. In: Technikgeschichte. Bd. 57, Heft 2, 1990, ISSN 0040-117X, S. 78–80.
- Wilhelm Bomann: Bäuerliches Hauswesen und Tagewerk im alten Niedersachsen. 4. Auflage, Volksausgabe. Böhlau, Weimar 1941, S. 239–240 (6. reprographischer Nachdruck der 4. Auflage. Gerstenberg, Hildesheim 1983, ISBN 3-8067-0546-1).
- Oberland, Kulturzentrum Ostpreußen, Ellingen, 2019.
Weblinks
- Anleitung Spinnen mit dem Spinnrad/ Auflistung Spinradtypen bei Spinnradclub
- Offizielle Seite der deutschen Handspinngilde e.V., gemeinnütziger Verein zur Förderung des Handspinnens
- Geschichte und Bedeutung des Spinnrads in Europa: Gerätekunde Spinnräder und Zubehör Aufgerufen am 18. September 2010.