Speenhamland-Gesetzgebung

Das Speenhamland-System war eine Art Sozialrecht in England in den Jahren zwischen 1795 und 1834. Das Speenhamland-System bestand in einer festgelegten Höhe der Armenunterstützung, welches entweder in voller Höhe an Bedürftige oder den Arbeitslohn ergänzend (vgl. Kombilohn) an Arbeiter mit entsprechend zu geringem Lohn gezahlt wurde. Der „Brot- und Kindertarif“ war nie Gesetz, wurde aber fast überall übernommen.[1]

Historischer Ausgangspunkt

Ehemaliges Arbeitshaus in Cheshire, England, erbaut 1780

Seit 1601 gab es in England ein Armenrecht basierend auf der Unterscheidung zwischen unverschuldet Bedürftigen, die in Armenhäusern untergebracht wurden, unverschuldet Arbeitslosen, für die es Arbeitshäuser gab, und „Bettlern“ bzw. „Landstreichern“, für die die Besserungsanstalt oder gar Gefängnis vorgesehen war. Da diese geschlossenen Einrichtungen der jeweiligen Kommune („Parish“) kostspielig insbesondere in der Errichtung sein konnten, gab es daneben auch eine Armenunterstützung in Form von Geld, Nahrung, Kleidung oder Brennmaterial, die auch außerhalb dieser Einrichtungen lebenden Armen zugewandt werden konnten.[2]

Mit dem Poor Relief Act von 1662, auch bekannt als „Settlement Act“ („Gesetz über die Niederlassungsfreiheit“), wurde die Freizügigkeit der Bevölkerung insoweit eingeschränkt, als für diese Hilfen nach Armenrecht ausschließlich die Heimatkommune zuständig war, die auch die Kosten der Rückführung eines andernorts hilfebedürftig gewordenen Armen zu tragen hatte.

Die erforderlichen Beiträge zur Armenkasse wurden zunächst als lokale Einkommensteuer erhoben, später jedoch zunehmend als Abgabe auf Grundbesitz, die jedoch nicht nur von Gutsbesitzern, sondern z. B. auch von Pächtern zu zahlen war.

Speenhamland: Funktionsweise und Inhalt

Das Speenhamland-System ist benannt nach dem Ort eines Treffens lokaler Friedensrichter in Speenhamland, Newbury (Berkshire), die sich vor Ort in einem Gasthaus für durchreisende Beamte, Politiker und Militärs, dem Pelican Inn, zusammen fanden.

Friedensrichter waren seinerzeit als lokale untere Verwaltungsinstanz in Streitfällen für die Entscheidung über die Gewährung von Armenunterstützung durch eine Kommune, wie auch für die zwangsweise Beitreibung der örtlich festgelegten Beiträge zur Armenkasse und die Überwachung der Buchführung derselben zuständig.[3]

Anlässlich des oben genannten Treffens am 6. Mai des Jahres 1795 wurde festgelegt, dass die Armenunterstützung an die Entwicklung des Brotpreises angepasst und zudem von der Anzahl der zu unterstützenden Personen im Haushalt abhängig sein sollte. Ein „arbeitsamer Mann“ sollte wöchentlich den Gegenwert des Preises für drei Laib Brot (a 8 lb. 11 oz., also je etwa 4 kg) und zusätzlich den Gegenwert des Preises für einen weiteren Laib Brot für jeden weiteren Familienangehörigen erhalten.[4] Ein verheirateter Mann mit zwei Kindern sollte also (bei einem Preis für einen Laib Brot von 1 Shilling 3 Pence) für sich selbst 3 Shilling 9 Pence erhalten, sowie für Frau und Kinder je zusätzlich 1 Shilling 3 Pence, insgesamt also ca. 9 Shilling erhalten.[5]

Das Speenhamland-System bestand also in einer Standardisierung der Armenunterstützung (für außerhalb geschlossener Einrichtungen lebende Arme) in eine in Geld zu leistende und der (Brot-)Preisentwicklung flexibel angepasste Hilfe. Das dürfte die Prüfung der Bedürftigkeit als solche erleichtert haben; Sachleistungen wurden damit entbehrlicher und die Zuzahlung zum Lohn vereinfacht.

Wirtschaftlicher Hintergrund

Industrialisierung

Oldham from Glodwick by James Howe Carse (1831)

Die beginnende Industrialisierung in England stützte sich anfänglich auf nur einen Produktionszweig, nämlich auf die Produktion von Tuchen. Auch hier war der Grad echter Mechanisierung vergleichsweise gering. Beginnend mit der Erfindung der Spinning Jenny im Jahre 1764 konnte das Spinnen des Garns bedeutend rationalisiert werden, der nachfolgende Prozess des Tuchwebens auf dem Webstuhl war jedoch nach wie vor Handarbeit, die entweder in Heimarbeit oder später in Manufakturen organisiert war. Diese schmale Basis der Industrialisierung wurde zum Problem, nachdem auf dem Kontinent wachsende Konkurrenz entstand, in dem aus England nur mehr das Garn importiert, dieses dann aber vor Ort konkurrenzfähig zu Tuch weiterverarbeitet wurde.[6] Auch brachen durch die Koalitionskriege gegen Frankreich und hier insbesondere die Kontinentalsperre Absatzmärkte ein. Dadurch wurde erheblicher Druck auf die Löhne der Arbeiterschaft ausgeübt.

Durch den am Ende des 18. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossenen Prozess der Einhegung von Land für die Weidewirtschaft und die Herabdrückung der Landbevölkerung zu Tagelöhnern oder Kleinstbauern bestand für diese auch keine Möglichkeit mehr, Lohnverluste zu kompensieren und/oder ihre Subsistenz anderweitig zu sichern.

Agrarkrise

Zugleich war noch immer ein übergroßer Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt, deren Produktivität noch vergleichsweise gering war. Der Ausfall von Nahrungsmittelimporten und/oder eine Missernte im Inland konnte deshalb schnell steigende Preise für Nahrungsmittel nach sich ziehen.

Landflucht

Die Herabdrückung von Bauern zu Kleinstbauern oder landlosen Tagelöhnern und die – wenngleich vielleicht geringen – Aussichten auf Arbeit in den sich entwickelnden Regionen der frühen Industrialisierung begünstigten die Landflucht.

Ferner kam hinzu, dass die beginnende Rationalisierung der Produktion durch Arbeitsteilung, wie sie zum Beispiel Adam Smith im ersten Kapitel seines bekannten Hauptwerkes „Der Wohlstand der Nationen“ propagierte, die Möglichkeit der Heimarbeit begrenzte und die Nähe des Arbeiters zum Betriebsstandort erforderte[7].

Das Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Entwicklungen einer klassischen Agrarkrise aus Überbevölkerung und Missernte mit ersten vor-industriellen Rezessionen führte dann zu der unter dem Begriff Pauperismus bekannten massenhaften Armut in der Bevölkerung. Dies überforderte teilweise die Kapazität der bestehenden geschlossenen Einrichtungen, etwa der Arbeitshäuser, und begünstigte die Vereinheitlichung der Armenunterstützung für die außerhalb dieser Einrichtungen lebenden Armen. Darauf reagierte das Speenhamland-System mit der Vereinheitlichung der Sätze für die Armenunterstützung und deren Kopplung an den Brotpreis. Zugleich sollte dies der Tendenz der Landflucht entgegenwirken, da die Armenunterstützung nach wie vor nur von der Heimatgemeinde zu leisten war.[8]

Wirkung und Kritik

Peterloo-Massaker am 16. August 1819 anlässlich eines Protestes gegen die Corn Laws

Soziale Konflikte

Das Speenhamland-System kann als Verwaltungsvereinfachung im Rahmen schon bestehenden Armenrechts (siehe oben: Historischer Ausgangspunkt) betrachtet werden. Als rein auf das Existenzminimum gerichtete Regelung konnte natürlich eine Befriedung sozialer Konflikte nicht erwartet werden.[9] Dennoch war das Speenhamland-System bei den Begünstigten im Süden und Mittleren England nicht unpopulär. Ein Gesetzesvorschlag William Pitt des Jüngeren von 1796, das Speenhamland-System national verbindlich zu machen, scheiterte jedoch.[10]

Zeitgenössische Kritik

Ferdinand Lassalle (1860), Gründervater der SPD

Die zeitgenössische Kritik am Speendhamland System war häufig zugleich eine solche, die sich am überkommenen „Old Poor Law“ des Elisabethanischen Rechts seit 1601 entzündete. Einflussreich war hier etwa das Werk von Sir Frederick Eden „State of the Poor“ von 1797, der dem Armenrecht folgende Versicherung bescheinigte:

„A man ‘may have been indolent, improvident, prodigal, or vicious [but] he shall never suffer want’.[11]

Zeitgenössische und einflussreiche Kritik kam zudem von Thomas Robert Malthus (“An Essay on the Principle of Population” – dt. „Das Bevölkerungsgesetz“ von 1798) und – anders argumentierend, aber mit ähnlichen Folgerungen – von David Ricardo. In dessen Nachfolge argumentierte etwa Ferdinand Lassalle im Sinne eines Ehernen Lohngesetzes, wonach generell mit wachsender Bevölkerung (Arbeitskräfteangebot) das Lohnniveau bis zum Existenzminimum absinke und umgekehrt erst mit abnehmender Bevölkerung das Lohnniveau darüber hinaus steige. Das wirft natürlich die Frage der Möglichkeit und Sinnhaftigkeit sozialpolitischer Maßnahmen auf. Zu den zeitgenössischen Kritikern des überkommenen Armenrechts zählte ferner – in der Nachfolge des Utilitarismus von Jeremy Bentham und des Grundsatzes „des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl“ – Edwin Chadwick. Bemängelt wurde hier, dass die Armenunterstützung – ohne den Armen wirklich zu helfen – nur die Reichen belaste. Nicht untypisch war ferner die Kritik, dass die Armenunterstützung ihren „beschämenden“ und „erniedrigenden“ Charakter verloren habe.[12]

Kritik von Karl Polanyi

Karl Polanyi beschreibt in seinem Werk The Great Transformation den (utopischen) Versuch, ein sich selbst regulierendes Marktsystem außerhalb und frei von gesellschaftlichen Bindungen im Übrigen zu schaffen. Bestandteil dieser Entwicklung sei es, die „Arbeit“ in eine handelbare Ware (engl. „Commodity“) zu verwandeln.[13] In diesem Zusammenhang analysiert Polanyi die widersprüchlichen Regelungen und Wirkungen des Speenhamland-Systems.[14]

Mit dem Speenhamland-System verband sich die Erwartung einer Erhöhung der Löhne über die Sätze des Existenzminimums hinaus. Das Gegenteil scheint eingetreten zu sein, da es für Arbeitgeber lohnend war, angestellte Lohnarbeiter zu entlassen und an deren Stelle aus der kommunalen Kasse bezahlte Arme zu beschäftigen. Insoweit wirkte das Speenhamland-System sogar lohndämpfend und die Armut fördernd. Zugleich hatte dies negative Effekte auf die Arbeitsproduktivität.

Da Besitzende allgemein beitragspflichtig zur Armenkasse waren (s. o. Historischer Ausgangspunkt), kam es faktisch zur Quersubvention aus der Armenkasse zu Gunsten derjenigen Arbeitgeber, die viele Arme beschäftigten (z. B. größere Landbesitzer) durch diejenigen Arbeitgeber, die beitragspflichtig waren, aber nur wenige Beschäftigte hatten (z. B. selbständige Kleinhandwerker). Es ist nicht ausgeschlossen, dass durch die fälligen Beiträge zur Armenkasse kleine Unternehmer selbst in Not geraten sind.

Das Speenhamland-System immobilisierte die arbeitslose Landbevölkerung, da diese zum Erhalt der Unterstützung in ihrer jeweiligen Heimatkommune leben mussten. Dadurch wurde die Entwicklung eines nationalen Arbeitsmarktes beeinträchtigt. Indessen gab es Wanderungsbewegung in die Kommunen mit funktionierender Armenunterstützung.

Abschaffung und „Neues Armenrecht“ 1834

Entwurfsmodell für neue Arbeitshäuser von 1835

Das Speenhamland-System wurde zusammen mit dem seit 1601 entwickelten Armenrecht abgeschafft und durch den „Poor Law Amendment Act“ von 1834, genannt das „Neue Armenrecht“, ersetzt.[15] Kern des neuen Gesetzes war die Abschaffung jeglicher Armenunterstützung für die außerhalb geschlossener Einrichtungen lebenden arbeitsfähigen Armen (outdoor-relief) und – im Gegenzug – die landesweite Schaffung entsprechender Arbeitshäuser (indoor-relief). Damit nicht jede der 15.000 Kommunen ein Arbeitshaus errichten mussten, wurden diese zu Verwaltungseinheiten für die Anwendung des Armenrechts zusammengeschlossen (etwa wie ein Zweckverband). Die Kosten hierfür trugen die Kommunen in Abhängigkeit von ihren eigenen vorherigen Ausgaben für die Armenunterstützung.

Seinerzeit wurde das Speenhamland-System als desaströs endender Präzedenzfall angesehen. Neuere Forschung begannen in den 1960er-Jahren und kamen aufgrund von besseren Methoden zu anderen Ergebnissen. Pionierarbeiten leisteten der niederländisch-britische Ökonom Mark Blaug (1927–2011) und der US-amerikanische Historiker Daniel A. Baugh (* 1931). Die alte Interpretation stellte sich als falsch, lückenhaft und irreführend heraus.[16]

Siehe auch

Literatur

  • Blaug, Mark: The Myth of the Old Poor Law and the Making of the New, in: The Journal of Economic History. Vol. XXIII, June 1963, No. 2.
  • Block, Fred / Somers, Margaret (2003): In the Shadow of Speenhamland: Social Policy and the Old Poor Law. Politics & Society (PAS).
  • Rainer Hank: In den Teufelsmühlen. Eine Bilanz des Sozialstaats. In: Merkur. Nr. 736/737, September/Oktober 2010
  • Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Originalausgabe 1944, wiederveröffentlicht bei: Suhrkamp, Frankfurt 1978, ISBN 3-518-07860-7
  • Yannick Vanderborght / Philippe van Parijs: Ein Grundeinkommen für alle? Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags. Campus-Verlag, Frankfurt/New York 2005, ISBN 3-593-37889-2, S. 16 f.

Einzelnachweise

  1. Hobsbawm, Eric J./Rudé, George (1969): Captain Swing. London. Phoenix Press, p. 47
  2. Hierzu und zum folgenden: http://www.workhouses.org.uk/poorlaws/oldpoorlaw.shtml
  3. http://www.historyandpolicy.org/policy-papers/papers/englands-early-big-society-parish-welfare-under-old-poor-law
  4. http://www.workhouses.org.uk/poorlaws/oldpoorlaw.shtml#Speenhamland
  5. Zum Vergleich: John Foster, Class Struggle and the Industrial Revolution, London 1974, S. 82, verweist für die Jahre zwischen 1800 und 1820 für Baumwollspinner in den Spinnmühlen auf einen wöchentlichen Durchschnittslohn von etwa 10 bis 12 Shilling und für einfache Schumacher in Northampton um 1790 (vor den wirtschaftlichen Auswirkungen der Koalitionskriege) von 10 bis 15 Shilling (ebd., S. 87).
  6. John Foster, Class Struggle and the Industrial Revolution, London 1974, S. 20f.
  7. Vgl. für die Schuhproduktion in Northampton: John Foster, Class Struggle and the Industrial Revolution, London 1974, S. 86f.
  8. Karl Polanyi, The Great Transformation, Frankfurt 2015, S. 129; vgl. auch: John Foster, Class Struggle and the Industrial Revolution, London 1974, S. 63.
  9. Vgl. hierzu: „Maschinenstürmer“ in England.
  10. Philippe Van Parijs/Yannick Vanderborght, Basic Income: A Radical Proposal for a Free Society and a Sane Economy, Harvard 2017, S. 57
  11. Übersetzt: Ein Mann ‚mag träge, unvorsichtig, verschwenderisch oder lasterhaft sein, [aber] Not soll er nicht erleiden.‘ Zitiert nach: Philippe Van Parijs/Yannick Vanderborght, Basic Income: A Radical Proposal for a Free Society and a Sane Economy, Harvard 2017, S. 58
  12. Nachweise bei Philippe Van Parijs/Yannick Vanderborght, Basic Income: A Radical Proposal for a Free Society and a Sane Economy, Harvard 2017, S. 59f.
  13. Vgl. auch zur Kritik am Mythos eines primordialen marktmäßigen Tauschhandels als conditio humana: David Graeber, Debt: The First 5.000 Years, New York/London 2011, S. 21ff.
  14. Hierzu und zum Folgenden: Karl Polanyi, The Great Transformation, Frankfurt 2015, S. 113ff.
  15. http://www.workhouses.org.uk/poorlaws/newpoorlaw.shtml
  16. Block, Fred / Somers, Margaret: In the Shadow of Speenhamland: Social Policy and the Old Poor Law. Politics & Society (PAS), 2003, abgerufen am 22. August 2019.
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