Soziale Kontrolle

Soziale Kontrolle ist der durch gesellschaftliche Regeln und Standards auf ein Individuum ausgeübten Zwang, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Unterschieden werden zwei Formen der sozialen Kontrolle: die innere Kontrolle (Verinnerlichung von sozialen Normen, insbesondere durch Sozialisation) und die äußere Kontrolle (negative und positive Sanktionen der „anderen“).

Begriffsgeschichte

Der amerikanische Soziologe Edward Alsworth Ross führte den Begriff als englisch Social Control 1896 in seinem gleichnamigen Aufsatz in die sozialwissenschaftliche Diskussion ein.[1]

Inhalt

In Abgrenzung zum diffuseren Begriff „sozialer Einfluss“ beinhaltet „soziale Kontrolle“ die gewollte Lenkung des Einzelnen durch die Gruppe, im weiteren Sinne die beabsichtigte Herrschaft der Gesellschaft über das Individuum. Eine neuere Definition fasst unter dem Begriff „jene Prozesse und Mechanismen, mit deren Hilfe eine Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zu Verhaltensweisen zu bringen, die im Rahmen dieser Gesellschaft positiv bewertet werden“.[2]

Das theoretische Konzept der sozialen Kontrolle umfasst Vorgänge und Strukturen, die ein von den Normen einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe abweichendes Verhalten einschränken oder verhindern sollen. Als Medien und Institutionen der sozialen Kontrolle fungieren Familie, Schulen, Kirchen, Betriebe, Vereine, Institutionen der Justiz und Sozialarbeit. Ihre Mittel erstrecken sich über Kommunikation (Anerkennung, Ermutigung, Kritik, Zurechtweisung) und Sanktionen bis zur Ausgrenzung. Das Ziel ist die Herstellung von Verhaltenskonformität gemäß den Normen und Werten der Mehrheit.

In der Sozialen Arbeit spricht man von einem Doppelmandat aus Hilfe und Kontrolle. Ulrich Oevermann bezeichnet es als ein „Strukturdilemma“ der Sozialen Arbeit, sowohl „Agentur sozialer Kontrolle“ als auch „quasi-therapeutische“ Unterstützung für den Klienten sein zu müssen.[3]

Soziale Kontrolle im öffentlichen Raum

Neben die persönliche, wechselseitige soziale Kontrolle treten zunehmend moderne Formen:

  • Soziale Kontrolle durch Videoüberwachung[4][5][6]
  • Soziale Kontrolle als Dienstleistung (Sicherheitsdienste)[7]
  • Soziale Kontrolle durch Telematik-Box (Synonyme: Black-Box; Unfalldatenspeicher) im Auto[8][9]
  • Soziale Kontrolle durch Fitness-Armbänder[10]
  • Soziale Kontrolle gegenüber Lieferwagen-Fahrern: Aufkleber „Dir gefällt mein Fahrstil nicht?“ mit Telefonnummer des Arbeitgebers
  • Soziale Kontrolle im Internet:
    • bei Wikipedia, z. B. durch Sperrung von Accounts wegen Vandalismus
    • bei Airbnb: durch gegenseitige Beurteilung durch Gast und Gastgeber[10]
  • Soziale Kontrolle in China: Chinesen werden mit einem „Citizen Score“ bewertet.[11][12] Sozialleben, Einkäufe und Social-Media-Aktivitäten fließen in eine Wertung ein, die für die Erteilung von Ausreisegenehmigungen herangezogen wird.

Zitat

“In the most fundamental terms, ‘social control’ referred to the capacity of a society to regulate itself according to desired principles and values.”

Morris Jannowitz)[13]

Siehe auch

Literatur

  • Wolfgang Ayaß: „Asozial“. Aufstieg und Niedergang eines Kernbegriffs sozialer Ausgrenzung, Freiburg i.Br. 2023. ISBN 9783784136820
  • Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Neuauflage 2007, ISBN 3-518-38771-5)
  • R. T. LaPiere: A Theory of Social Control. New York 1954.
  • Edward A. Ross: Social Control. In: American Journal of Sociology, 1896, 1(5), S. 513–535, doi:10.1086/210551, JSTOR:2761903.
  • Edward A. Ross: Social Control: A Survey of the Foundations of Order, New York 1901 (Neuauflage 2009, Transaction Publishers, ISBN 978-1-4128-1028-9)
  • Tobias Singelnstein / Peer Stolle: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert. 2. Auflage, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, ISBN 3-531-15478-8
  • Irving Kenneth Zola: Medicine as an institution of social control. In: Sociological Review, 1972, 20(4), S. 487–504, doi:10.1111/j.1467-954X.1972.tb00220.x

Einzelnachweise

  1. Edward Alsworth Ross, Social Control, in: American Journal of Sociology 1(5), S. 513–535
  2. Werner Fuchs-Heinritz et al. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. 3. Auflage. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, S. 368.
  3. Ulrich Oevermann (2000), Dienstleistungen der Sozialbürokratie aus professionalisierungstheoretischer Sicht. In E.-M. Harrach, T. Loer & O. Schmidtke (Hrsg.): Verwaltung des Sozialen. Formen der subjektiven Bewältigung eines Strukturkonflikts, S. 55–77, Konstanz: UVK, 2000, S. 72. Zitiert nach Nina Thieme: Hilfe und Kontrolle, S. 22, in Fabian Kessl, Elke Kruse, Sabine Stövesand, Werner Thole (Hrsg.): Soziale Arbeit – Kernthemen und Problemfelder, Verlag Barbara Budrich 2017, ISBN 978-3 -8252-4347-0, S. 17–24.
  4. Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs, Materialsammlung
  5. Informationen zur Raumentwicklung, Videoüberwachung im öffentlichen Raum – das Beispiel Coventry, Heft 1/2.2003
  6. Soziale Problem, Verdächtiges Verhalten und automationsunterstützte soziale Kontrolle: "intelligente" Videoüberwachung zur Detektion von Kfz-Delikten, von Robert Rothmann und Stefan Vogtenhuber, 24. Jahrgang 2013, Heft 2
  7. socialnet.de, Soziale Probleme und soziale Kontrolle, von Helge Peters, 2002
  8. FAZ, Revolution der Kfz-Versicherung, 13 Januar 2014
  9. taz, Nur am Anfang gut, 3. Januar 2014
  10. Digitale Freiheitsberaubung, 18. März 2015
  11. Wired, „Citizen Score“: China bewertet seine Bürger und ihre Lebensweise, 7. Oktober 2015
  12. Spektrum, Digitale Demokratie statt Datendiktatur, 17. Dezember 2015
  13. Morris Jannowitz: Sociological Theory and Social Control. In: American Journal of Sociology, 81. Jg., H. 1, 1975, S. 82.
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