Sitte
Der Begriff Sitte bezeichnet eine auf sozialer Gewohnheit und Tradition beruhende, im Gegensatz zum Recht nicht erzwingbare, aber in gewissen Grenzen (durch den Druck der öffentlichen Meinung) verbindliche äußere Verhaltensregel innerhalb einer Gruppe oder Gesellschaft; als Gesittung Grundlage der Sittlichkeit.[1][2] Abwertend werden unerwünschte Gewohnheiten manchmal auch als „Unsitte“ bezeichnet.
Sitte ist zudem die umgangssprachliche Kurzform von Sittenpolizei.
„Sitte“ und „Sitten“
Die Sitte (lateinisch mos) im Singular wird als Gesamtheit moralischer Werte und Regeln (Sittlichkeit, Gesittung, Sittsamkeit, Anstand) im Sinne einer moralischen Autorität verstanden (Heteronomie). Sittlich ist das äußerliche Verhalten in der Gesellschaft, wobei man innerlich anderer Meinung sein kann. Es heißt dann: Etwas ist Sitte oder die Sitte will bzw. verlangt etwas. In diesem Sinne versteht sich das Motto Sitte und Tracht der Alten / wollen wir erhalten.
Im Plural werden unter Sitten (lateinisch mores) Einzelnormen verstanden, z. B. in Form der Höflichkeit, der Tischsitte(n) oder der Hofsitte(n). Sitten haben Kulturbezug, das heißt, sie gelten in der Regel in Bezug auf einen geographisch-zeitlichen Raum (vgl. Sprichwort „Andere Länder, andere Sitten!“, englisch: When in Rome, do as the Romans do.). Einem Außenstehenden können sie daher sonderbar oder seltsam erscheinen.
Juristische Bedeutung
Das Wort Sitte wird als Rechtsbegriff verwendet und hat dann juristische Bedeutung. Das deutsche Grundgesetz weist in Art. 2 Abs. 1 GG auf das Sittengesetz hin, was als unbestimmter Rechtsbegriff ausgelegt werden muss.
Im deutschen Zivilrecht regelt beispielsweise § 138 BGB, was als „sittenwidriges Rechtsgeschäft“ verstanden werden kann. Das Gesetz spricht dabei von einem „Verstoß gegen die guten Sitten“. § 817 BGB regelt, wie mit Geschäften, die gegen die guten Sitten verstoßen, umgegangen werden muss. Verkehrssitte ist der Überbegriff für die Sitten, die im Rechtsverkehr gebräuchlich sind.
Im 19. Jahrhundert wurden Brauch und Sitte klar unterschieden. Brauch galt als Mittelglied zwischen der rein individuellen Lebensgewohnheit und der Sitte.[3] Brauch war demnach im Unterschied zur Sitte als ein markiertes Ereignis im Lebens- und Jahreslauf zu sehen. Er hatte demnach seinen Sitz im engeren Familienkreis, in einer begrenzten Gruppe oder im weiteren Kreis einer Gemeinschaft.[4]
Einzelheiten
Weniger zwingende, oft gar nicht diskutierte soziale Gepflogenheiten werden auch als Brauch bezeichnet. Auch menschliche Umgangsformen, Verhaltensweisen und -regeln (z. B. Manieren) fallen darunter.
In ländlichen Gebieten versteht man darunter die traditionelle Lebensweise, die jedoch in ihrer Entwicklung in ständigem Wandel begriffen ist. Dabei werden die Bräuche den sich ständig verändernden Bedingungen und Bedürfnissen angepasst. Das zeigt z. B. die regional sehr unterschiedliche Ausrichtung der Kirmes, von Brauchtumsfeuern oder sehr speziellen Brauchtumshandlungen.
Sitten können alt oder neu, gut oder schlecht, schön oder rau/wild, streng/starr bzw. locker usw. sein. Sitten achtet man, bewahrt bzw. pflegt sie, hält sie (ein), verletzt oder bricht sie, verstößt gegen sie, fügt oder unterwirft sich ihnen. Mit der Zeit werden sie gelockert oder aber verschärft. Sie unterliegen sämtlich dem sozialen Wandel.
Infolgedessen kann man sich auch sittenwidrig verhalten. Insofern es Personen gibt, die über die dauerhaft oder als Mode „herrschenden“ Sitten wachen, werden diese umgangssprachlich als Sittenwächter bezeichnet. Darüber hinaus gibt es eine Abteilung der Kriminalpolizei, die sich mit Sittendelikten befasst. Diese wurde früher und wird heute noch umgangssprachlich „die Sitte“ (Sittenpolizei) genannt.
Im subjektiven Urteil über eine andere Person kann dies so weit gehen, dass man jemandem vorwirft, er habe keine Sitten (Sittenlosigkeit). Das Verhalten selbst wird dann als Unsitte empfunden. Aus dieser Wahrnehmung heraus wird dann auch vom Verfall der Sitten gesprochen. Im 17. Jahrhundert wurde nach dem Massaker von Magdeburg der Begriff Magdeburgisierung als Synonym für die Verrohung von Sitten (speziell in Kriegen) geprägt.
Political Correctness kann man als Einhaltung verbaler Sitten definieren.
Verschiedenheiten in den Sitten verschiedener Völker sind die Grundlage nationaler Klischees.
Im Internet, Suchmaschinen (z. B. Google), Facebook, Twitter und der Ubiquität von Handykameras und Digitalkameras haben die Grenzen von Privatem und Öffentlichem verschoben. Der Autor, Kolumnist und Essayist Harald Martenstein schrieb 2012:
„jede halbwegs interessante Person und jede alltägliche Handlung [ist] heute ein Gegenstand nahezu ununterbrochener Beobachtung … nicht zuletzt wegen der Leserreporter, aber auch wegen der tausend Möglichkeiten des Internets und wegen der Handykameras. Vor allem aber deshalb, weil der Mensch ein neugieriges Wesen ist und weil die Neugierde, wie jedes Bedürfnis, sich in einer Warengesellschaft ökonomisch nutzen lässt. … Vor der Tugendwacht ist niemand sicher, nicht der Jugendliche mit alterstypischem Erfahrungshunger, nicht der Ehemann auf Abwegen, auch nicht die junge Mutter.“[5]
Siehe auch
Literatur
- Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre. Gabler, 1798 (Digitalisat auf Archive.org)
- Karl Christian Friedrich Krause: System der Sittenlehre; I. Band, wissenschaftliche Begründung der Sittenlehre. Reclam, Leipzig 1810.
- Ferdinand Tönnies: Die Sitte. Rütten & Loening, Frankfurt am Main 1909.
Weblinks
Einzelnachweise
- DIE GROSSE BERTELSMANN LEXIKOTHEK. In: LEXIKON-INSTITUT BERTELSMANN (Hrsg.): BERTELSMANN LEXIKON IN 15 BÄNDEN. Band 13. BERTELSMANN LEXIKOTHEK VERLAG GMBH, GÜTERSLOH 1985, ISBN 3-570-03893-9, S. 231.
- vgl. Ferdinand Tönnies: Die Sitte. 1908
- Meyers Konversationslexikon, Leipzig und Wien 1897, Stichwort Sitte
- Interview mit Regina Bendix zur Geschichte von Brauchtümern, Brauch und Ritual gestern und heute, November 2013.
- Der Terror der Tugend. - Du sollst nicht rauchen. Du sollst keine Geheimnisse haben. Du sollst tun, was alle tun. Und denk daran: Du wirst beobachtet! Wie der Glaube an das aufgezwungene Gute mithilfe von Gesetzen, Verordnungen und medialer Überwachung eine moderne Diktatur erschafft. - Die Zeit, 16. Juni 2012.