Selbstübersetzung

Die Selbstübersetzung ist die Übersetzung von einem Ausgangstext in einen anderssprachigen Zieltext durch den Autor des Ausgangstextes. In der Fachliteratur wird die Selbstübersetzung auch Eigenübersetzung oder Ipsoübersetzung genannt.

Grundlagen

Man findet die Selbstübersetzung in verschiedenen Situationen, besonders interessant ist sie jedoch im literarischen Kontext. Sie hat die Aufmerksamkeit der Sprachwissenschaftler und Übersetzungsforscher besonders seit Anfang des 21. Jahrhunderts auf sich gezogen, größtenteils in der Folge intensiver Forschungen im Fremdübersetzungsbereich im 20. Jahrhundert. Die Forschung zur Selbstübersetzung ist spätestens seit der Veröffentlichung der Erstausgabe der Routledge Encyclopedia of Translation Studies im Jahr 1998 als spezieller Teilbereich der Übersetzungsforschung anerkannt.

Geschichte

In den westlichen Gesellschaften und Literaturen reicht die Tradition der zwei- oder mehrsprachigen Texte mindestens bis in das Mittelalter zurück. Selbstübersetzte Texte waren ziemlich häufig in der mehrsprachigen Welt der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur, besonders als eine Art von Brücke zwischen dem Latein der Gelehrten und den Vernakularsprachen der verschiedenen Gebiete Europas. Später wurde die Tradition der Selbstübersetzung in elitären Kreisen bewahrt, neigte zum Verschwinden während der langen Ära des von den neuen Nationalstaaten geförderten nationalistischen Monolinguismus, um neue Kraft in der postkolonialen Zeit zu gewinnen.[1]

Typen

  • Die Selbstübersetzung kann sowohl aus einer regelmäßigen Aktivität des Autors hervorgehen als auch aus einer einmaligen Handlung, die verschiedene Ursachen haben kann. Ein Beispiel für den letzteren Fall bietet James Joyce, der zwei Passagen aus seinem Work in Progress (später: Finnegans Wake) selbst ins Italienische übersetzt hat.[2] Andere einschlägige Fälle sind die Selbstübersetzungen von Stefan George und Rainer Maria Rilke.[3]
  • Es kann entweder die Muttersprache oder eine erworbene Sprache die Ausgangssprache sein, so dass die Zielsprache entsprechend variiert. Beispiele für den letzteren Fall bieten einige belgische Dichter aus der Zeit zwischen den Weltkriegen (unter ihnen Roger Avermaete und Camille Melloy), die ihre Texte selbst ins Flämische übersetzten, und zwar jeweils nur kurz nach der Vollendung der Originale in der erworbenen, aber vollkommen beherrschten französischen Sprache.[4]
  • Die Selbstübersetzung kann einige Zeit nach der Vollendung des Originals entstehen, oder auch während des Entstehungsprozesses, so dass die zwei Versionen sich fast gleichzeitig entwickeln und sich gegenseitig beeinflussen. Diese beiden Typen werden manchmal als Konsekutivselbstübersetzung beziehungsweise Simultanselbstübersetzung bezeichnet.[5]
  • Die Selbstübersetzung kann auch mehr als eine (native oder erworbene) Zielsprache betreffen. Dies ist z. B. der Fall bei Schriftstellern wie Fausto Cercignani,[6] Alejandro Saravia[7] und Luigi Donato Ventura.[8]

Liste möglicher Motive

  • Der elitäre Charakter einer gegebenen Sprache kann die Selbstübersetzung von dieser in eine Lokalsprache anregen, z. B. von Latein in eine Vernakularsprache im Mittelalter und in der Frühneuzeit.[9]
  • Die kulturelle Dominanz einer gegebenen Sprache in einer mehrsprachigen Gesellschaft kann zur Selbstübersetzung von einer minoritären in die dominante Sprache anregen.[10]
  • Die kulturelle Dominanz der Nationalsprache kann zur Selbstübersetzung aus einem Dialekt anregen.[11]
  • Die kulturelle Dominanz einer gegebenen Sprache im internationalen Kontext kann zur Selbstübersetzung von der Nationalsprache in eine international anerkannte Sprache wie Englisch anregen. Englisch als Zielsprache ist jedoch üblicher in Fällen, in denen der Autor in anglophone Ländern ausgewandert ist.[12]
  • Eine perfekte oder fast perfekte Zweisprachigkeit kann zur Selbstübersetzung in beiden Richtungen anregen, und zwar unabhängig von marktbezogenen Erwägungen.
  • Unzufriedenheit mit den vorhandenen Übersetzungen oder Misstrauen gegenüber den Fremdübersetzern kann zur Selbstübersetzung in beiden Richtungen anregen, und zwar unabhängig von marktbezogenen Erwägungen.

Selbstübersetzung gegenüber Fremdübersetzung

Abgesehen von dem Eigenwert des sekundären Textes wird die Selbstübersetzung gegenüber der Fremdübersetzung oft als überlegen betrachtet. Der Grund dafür ist, dass „der Schriftsteller-Übersetzer als zweifellos geeigneter gegenüber irgendeinem Fremdübersetzer gehalten wird, um die Absichten des Autors des Originals wiederzuerlangen“.[13] Argumente gegen die Selbstübersetzung stützen sich teilweise auf den Eigenwert des sekundären Textes, können aber auch spezifische soziokulturelle Erwägungen widerspiegeln oder versuchen, dubiose Verlagsprozeduren zu kritisieren.[14]

Forschungsprojekt zu Selbstübersetzungen in der mehrsprachigen Gelehrtenkultur der frühen Neuzeit am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL)

Anmerkungen

  1. Siehe Jan Walsh Hokenson und Marcella Munson, The Bilingual Text. History and Theory of Literary Self-Translation, Manchester, 2007.
  2. Siehe Jacqueline Risset, Joyce Translates Joyce, in Comparative Criticism, 6 (1984), S. 3–21, wo Joyces Selbstübersetzung als eine Autorenvariante des entstehenden Textes betrachtet wird.
  3. Siehe Dieter Lamping, Die literarische Übersetzung als de-zentrale Struktur: Das Paradigma der Selbstübersetzung, in Harald Kittel (Hrsg.), Geschichte, System, Literarische Übersetzung / Histories, Systems, Literary Translations, Berlin, 1992, S. 212–227.
  4. Siehe Rainier Grutman, Self-translation, in Mona Baker und Gabriela Saldanha (Hrsg.), Routledge Encyclopedia of Translation Studies, London, 2008, S. 258.
  5. Rainier Grutman, Self-translation, in Mona Baker und Gabriela Saldanha (Hrsg.), Routledge Encyclopedia of Translation Studies, London, 2008, S. 259.
  6. Zu einer Selbstübersetzung vom Italienischen ins Deutsche, Englische und Französische, siehe https://sites.unimi.it/austheod/adagio3l.pdf
  7. Alejandro Saravia ist ein bolivianisch-kanadischer Schriftsteller. Seine Lyriksammlung Lettres de Nootka ist auf Englisch, Französisch und Spanisch geschrieben.
  8. Siehe Alide Cagidemetrio, Trilinguismo letterario: il caso americano di Luigi Donato Ventura, in Furio Brugnolo e Vincenzo Orioles (Hrsg.), Eteroglossia e plurilinguismo letterario. II. Plurilinguismo e letteratura, Roma, 2002, S. 377–388.
  9. Siehe Leonard Forster, The Poet's Tongues. Multilingualism in Literature, Cambridge, 1970, S. 30 ff.
  10. Für Schottland und Irland siehe Christopher Whyte, "Against Self-Translation", in Translation and Literature, 11/1 (2002), S. 64–71 und Richard Brown, "Bog Poems and Book Poems. Doubleness, Self-Translation and Pun in Seamus Heaney and Paul Muldoon", in Neil Corcoran (Hrsg.), The Chosen Ground. Essays on the Contemporary Poetry of Northern Ireland, Bridgend, 1992, S. 171–188. Über einen Fall aus der Sowjetunion siehe Munnavarkhon Dadazhanova, "Both Are Primary. An Author's Translation is a Creative Re-Creation", in Soviet Studies in Literature, 20/4 (1984), S. 67–79. Für das Katalanische, das Galicische und Baskische gegenüber dem Spanischen (Kastilischen) siehe Pilar Arnau i Segarra et al. (Hrsg.), Escribir entre dos lenguas. Escritores catalanes y la elección de la lengua literaria, Kassel, 2002; Christian Lagarde (Hrsg.), Écrire en situation bilingue. Perpignan, 2004; Milton Azevedo, "Sobre les dues versions de Els Argonautes/Los Argonautas de Baltasar Porcel", in Suzanne S. Hintz et al. (Hrsg.), Essays in Honor of Josep M. Sola-Sole. Linguistic and Literary Relations of Catalan and Castilian, New York, 1996, S. 53–67; Ute Heinemann, Schriftsteller als sprachliche Grenzgänger. Literarische Verarbeitung von Mehrsprachigkeit, Sprachkontakt und Sprachkonflikt in Barcelona. Wien, 1998. Über die zweisprachigen belgischen Schriftsteller zwischen den Weltkriegen und in den darauffolgenden Jahren siehe Rainier Grutman, "L'écrivain flamand et ses langues. Note sur la diglossie des périphéries", in Revue de l'Institut de sociologie, 60 (1990–1991), S. 115–28 e R. G., "Bilinguisme et diglossie: comment penser la différence linguistique dans les littératures francophones?", in L. D'hulst et J.-M. Moura (Hrsg.), Les études littéraires francophones: état des lieux, Lille, 2003, S. 113–126.
  11. Über Luigi Pirandello als Selbstübersetzer von dem Sizilianischen ins Italienische siehe Luciana Salibra, "Liolà. Pirandello autotraduttore dal siciliano", in Bolletino del Centro di Studi Filologici e Linguistici Siciliani, 13 (1977), S. 257–292
  12. Siehe z. B. Zarema Kumakhova, Joseph Brodsky as self-translator. Analysis of lexical changes in his self-translations, Dissertation, Michigan State University, 2005 und Elizabeth K. Beaujour, Translation and Self-Translation, in Vladimir E. Alexandrov (Hrsg.), The Garland Companion to Vladimir Nabokov, New York, 1995, S. 714–725
  13. Brian Fitch, Beckett and Babel: An Investigation into the State of the Bilingual Work, Toronto, 1988, S. 125.
  14. Siehe Christopher Whyte, "Against Self-Translation", in Translation and Literature, 11/1 (2002), S. 64–71
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