Seelenfenster

Seelenfenster werden sehr kleine Fensteröffnungen in der Kammer- oder Hauswand einiger alter Bauernhäuser genannt; der Begriff ist sowohl in der Schweizer als auch in der deutschen und der amerikanischen Volksarchitektur verzeichnet.[1][2] Im Volksglauben hieß es, die Luken seien speziell für das Auslassen der Seele gebaut worden. Zwar gab es früher den Brauch, durch das Öffnen eines Fensters der Seele eines gerade Verstorbenen den Ausgang zu erleichtern, doch Forscher sehen heute im Seelenfenster lediglich eine Lüftungsluke, da die kleinen Fenster die Wärme in der Stube oder Schlafkammer bewahren sollten.[3]

Henry Antes House, in den USA im mittelalterlichen deutschen Häuserstil gebaut, hat im Nordosten ein Seelenfenster.

Bei der Forschung an den spätmittelalterlichen Blockbauten im Kanton Schwyz konnten auch die Phänomene wie Seelenfenster oder Pestfenster geklärt werden: Beim ersteren handelt es sich um die normale Fensterform spätmittelalterlicher Häuser, beim zweiten um Überreste ehemaliger Wandschränke, die nach dem Einbau wandfester Stubenbüffets keine Funktion mehr hatten.[4]

Henry Antes House gehört zu den am besten erhaltenen Beispielen eines germanischen Haustyps aus der Zeit vor 1760, der in Pennsylvania und den umliegenden Staaten üblich war, und hat in der Nordost-Ansicht ein Seelenfenster [sic] (spirit window).[5]

Begriff und Tradition

Erstmals wurde der Ausdruck Seelenfenster oder Seelabalgga (Seelenbalken) 1938 durch Johann Rudolf Stoffel veröffentlicht. Stoffel forschte, ob s'Läüfterli in anderen Häusern der Schweiz bekannt sei, ein Schiebefensterchen, das die Hausbewohner öffneten, wenn ein Mitbewohner verstarb und die Seele aus dem Haus hinausgelangen sollte. In späteren Jahren erhielt der Seelabalgga insofern ein besonderes Gewicht, als verschiedene Forscher darin ein Erkennungsmerkmal des sogenannten typischen Walserhauses suchten und fanden. Mit der Zeit wurden Häuser, die eine solche Luke in Keller, Dachkammer, in der Hauswand oder Türe aufwiesen, zu von Walsern erbauten beziehungsweise bewohnten Gebäuden erklärt. Für den Graubündner Kunsthistoriker und Bauernhausforscher Christoph Simonett (1906–1981) sind die kleinen Fenster und Luken in Stuben- und Kammerwänden eindeutig Luft- und Lichtöffnungen.[3] Simonett hielt den von Stoffel beschriebenen Seelabalgga für eine Erfindung der Volkskundler, ebenso die Behauptung, dass die Seelenfenster an den Bauernhäusern der Walser und Romanen nur dann geöffnet würden, wenn jemand im Sterben lag, ansonsten verrammelt blieben, damit die Seele nicht zurückkehren könne.[6] Nach Simonetts Forschungen stellte sich heraus, dass die Alten nichts von einem Seelenfenster wussten, wohl aber die Jüngeren, welche diese „romantische Sache erst durch Presse und Radio kennengelernt“ hatten.[7]

Da die Geister der Verstorbenen als stark ortsgebunden gelten, ist es vielerorts Brauch, die scheidende Seele des Sterbenden zu täuschen, indem man ein Fenster öffnet, um ihr zum Zeitpunkt des Todes den Ausgang zu ermöglichen.[8] Der Brauch geht über die religiöse Doktrin hinaus und wird u. a. in der Deutschen Mythologie (Grimm, 1835) oder in Sammlungen zum irischen Volksglauben erwähnt.[8] Auch einige deutsche Häuser im Pennsylvania des 18. Jahrhunderts hatten ein spezielles, sehr kleines, geschickt verstecktes Fenster, das in den Stuben oder den Schlafzimmern eingebaut war, und nach Arthur J. Lawton (1969) und Yvonne J. Milspaw (1983) erst im Moment des Todes geöffnet und kurze Zeit später wieder geschlossen wurde.[8] Der Grund dafür ist, dass der Geist so sehr an den Ort gebunden sei, dass er ermutigt werden muss, weiterzugehen und von der Rückkehr abgehalten werden muss. Es heißt, dass der Geist nur auf dem gleichen Weg wieder eintreten kann, auf dem er ein Haus verlassen hat.[8]

Geschichte

Einen Hinweis in diese Richtung gab schon im Jahre 1742 der Bündner Pfarrer Nicolin Sererhard, der die Häuser in Avers-Cresta so beschrieb: „Das Holz zu erspahren haben sie desto kleinere Stuben, und in denselben desto weniger oder ganz kleine Tagliechter oder Fenster wegen der scharfen Lüften und langen Winters.“ Darüber war Fensterglas für Bauern abgelegener Gebiete noch im 18. Jahrhundert sehr teure Ware und kleine Fensteröffnungen benötigten entsprechend weniger Glas, Luken ließen sich allenfalls mit einem Brett oder einem Holzklotz schließen.[3] In der Zentralschweiz gibt es in den meisten spätmittelalterlichen Wohnhäusern solche Luken, der Begriff Seelenfenster ist aber nicht bekannt. In Schwyz-Ibach blieb in einem Haus von 1336 das Verschlussbrettchen einer Luke erhalten.[3] Leonard von Matt kommentiert eine ähnliche Luke mit Schieber in einem Schächentaler Bauernhaus: „Hier lag während langen Jahren ein ‹altes Maitli› gelähmt im Bett. Zu seiner Kurzweil hat man in der Wand ein Guckloch mit Schiebtürli eingebaut, was ihm einen Ausblick auf die Strasse ermöglichte.“[3]

Auch an den frühen Häusern der Pennsylvania Dutch aus dem 18. Jahrhundert fiel als ungewöhnliches Merkmale das „Seelenfenster“ auf, das oft unsymmetrisch angeordnet, ohne offensichtliche Funktion, aber eng mit dem Volksglauben über den Tod verbunden scheint.[9] Das als Seelenfenster bekannte kleine Fenster befindet sich an der Außenmauer der alten Häuser, sollte angeblich den Austritt der Seele eines Sterbenden ermöglichen. Seine Glasscheiben waren klein und rechteckig, normalerweise sieben mal neun Zoll groß.[10]

Einzelnachweise

  1. Pennsylvania Folklife. Band 33. Pennsylvania Folklife Society, 1983, S. 35.
  2. Richard L. T. Orth: Folk Religion of the Pennsylvania Dutch: Witchcraft, Faith Healing and Related Practices. McFarland, 2018, ISBN 978-1-4766-7226-7, S. 81.
  3. Benno Furrer: Bauforschung am Bauernhaus. In: Archäologie bewohnter Räume. S. 4753.
  4. Sabine Eggmann, Birgit Johler, Konrad J. Kuhn, Magdalena Puchberger: Orientieren & Positionieren Anknüpfen & Weitermachen: Wissensgeschichte der Volkskunde - Kulturwissenschaft in Europa nach 1945. Waxmann Verlag, 2019, ISBN 978-3-8309-8989-9, S. 219.
  5. National Register of Historic Places Registration Form. United States Department of the Interior National Park Service, abgerufen am 22. September 2023 (englisch).
  6. Hans-Peter Hasenfratz: Die toten Lebenden: eine religionsphänomenologische Studie zum sozialen Tod in archaischen Gesellschaften - zugleich ein kritischer Beitrag zur sogenannten Strafopfertheorie. Brill Archive, 1982, ISBN 978-90-04-06595-6, S. 118.
  7. Walter Hävernick , Herbert Freudenthal (Hrsg.): Beiträge zur deutschen Volks- und Altertumskunde. Museum für Hamburgische Geschichte, 1969, S. 133.
  8. Yvonne J. Milspaw: Contemporary Legend n.s. 7 (2004 ):44-66 Ghosts and grave offerings: Legends from South Central Pennsylvania: A case study in the intersection of stories and stone. 2004, S. 49–50, abgerufen am 22. September 2023 (englisch).
  9. Arthur J. Lawton: The Pre-metric Foot and Its Use in Pennsylvania Dutch Architecture. In: America, History and Life. Clio Press, 1972, S. 73.
  10. Amos Long: The Pennsylvania German Family Farm: A Regional Architectural and Folk Cultural Study of an American Agricultural Community. Pennsylvania German Society, 1972, ISBN 978-0-911122-28-2, S. 91.
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