Südtiroler Deutsch

Südtiroler Deutsch ist die in Südtirol geschriebene und in förmlichen Situationen gesprochene Varietät des Standarddeutschen.

Die deutschen Standardvarietäten
Typisch zweisprachige Aufschrift in Südtirol mit Lehnübersetzungen aus dem Italienischen

Da das Südtiroler Standarddeutsch nicht in solchem Maße eigenständige Merkmale aufweist, wie es beim Österreichischen oder Schweizer Deutsch der Fall ist, sondern es sich an die Standardsprache Österreichs anlehnt, mit dem es bis 1918 fest verbunden war, gilt es als ein Halbzentrum der plurizentrischen deutschen Sprache.

In vielen Bereichen des täglichen Lebens dominieren in Südtirol die südbairischen Dialekte (siehe auch Dialekte in Tirol). Eine Besonderheit der Südtiroler Varietät ist der Sprachkontakt mit dem Italienischen, das ob der politischen Zugehörigkeit Südtirols zu Italien einen großen Einfluss ausübt (als Amtssprache und als Muttersprache der meisten Bürger Italiens). Daraus ergeben sich zahlreiche Neologismen, aber auch Interferenzen.

Interferenzen

Jahrzehntelang konzentrierte sich die germanistische Forschung zum Südtiroler Deutsch auf eine negativ konnotierte Interferenzforschung, die Kontaktphänomene als Beeinträchtigung des Sprachsystems oder gar Anfänge eines Sprachverfalls auffasste. Seit den 1990er Jahren kam es diesbezüglich zu einem Paradigmenwechsel, durch den der Südtiroler Sonderwortschatz nun deskriptiv aus variationslinguistischer Perspektive behandelt wird.

Im Nachfolgenden Beispiele für Interferenzen aus dem Italienischen:

  • lexikalische Interferenzen: z. B. Identitätskarte (nach it. carta d'identità, vgl. Identitätskarte/carte d'identité in der Schweiz) statt Personalausweis, Schulführungskraft (nach it. dirigente scolastico) statt Schulleiter (offizielle Bezeichnung z. B. in Österreich und Bayern), Direktor (Alltagswort für Schulleiter in Österreich und in einigen deutschen Bundesländern), Kondominium (nach it. condominio) für Mehrfamilienhaus; Neologismen wie Stammrollenlehrer (nach it. insegnante di ruolo = verbeamteter – in Österreich: pragmatisierter – Lehrer, zumindest mit unbefristetem Dienstvertrag), wobei hier auch von einem Sachspezifikum gesprochen werden kann. Als typisch für das Südtiroler Deutsch können Lehnübersetzungen als amtssprachliche Neologismen gelten, die durch (im Amtsblatt von der Südtiroler Landesregierung veröffentlichte) Terminologische Verzeichnisse vorgeschrieben werden.
  • semantische Interferenzen (Bedeutungsverschiebungen): didaktische Tätigkeit(en) (nach it. attività didattiche) neben dem deutschen Wort Unterricht in Wendungen wie: die Wiederholungsprüfungen müssen vor dem Beginn der didaktischen Tätigkeit abgeschlossen sein, die didaktische Tätigkeit endet Mitte Juni – die Interferenz liegt darin, dass didaktisch sich im Standarddeutschen immer auf die Didaktik, also die Wissenschaft vom Unterrichten, bezieht und nicht synonym mit Unterricht verwendet werden kann; Literat auch im Sinne von Latein-Deutschlehrer (nach it. materie letterarie); Gesuch anstelle von Antrag.
  • syntaktische Interferenzen: häufig begegnen Genitivattribute oder auch lange Genitivattribut-Reihen anstelle von Komposita oder Präpositionalausdrücken nach dem Vorbild der italienischen di/della/...-Ausdrücke: z. B. die Vergabe der Stellen der Zweitsprachlehrer der Grundschule statt: die Stellenvergabe für Zweitsprachenlehrer (= Deutschlehrer an italienischsprachigen Schulen) an Grundschulen. Auch die Wortbildung ist im öffentlichen Bereich von Italianismen durchsetzt: mit der faschistischen Italianisierung wurden besonders in Bozen unzählige Straßen und Plätze nach italienischen Städten benannt (via Trieste, via Venezia usw.), die nach dem Inkrafttreten der Autonomie als Trieststraße usw. anstelle von Triester Straße wiedergegeben wurden. In den letzten Jahren wurden jedoch in Bozen zahlreiche derartig gebildete Straßennamen nach dem -er-Muster amtlich korrigiert.
  • phraseologische/idiomatische Interferenzen: typisch Südtirolerisch ist die Verwendung der Präposition innerhalb auch mit Zeitpunkten, obwohl im übrigen deutschen Sprachraum innerhalb nur mit Zeitstrecken kombiniert werden kann (innerhalb zweier Tage, innerhalb von fünf Tagen), also z. B: das Gesuch (= der Antrag) muss innerhalb 31. Oktober eingereicht werden,[1] wobei die italienische Konstruktion: entro il 31 ottobre falsch übertragen wurde.
  • phonetische Interferenzen: z. B. die Aussprache des Digraphs ⟨qu⟩ als [ku̯] wie im Italienischen statt [kv] wie im Standarddeutschen; der Germanist Franz Lanthaler vermutet, diese erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingetretene Entwicklung gehe auf Grundschullehrerinnen zurück, die den Schülern im Schreibunterricht einschärften, qu dürfe nicht kw geschrieben werden, wobei das Italienische diese Ausspracheveränderung nur indirekt bewirkt hätte.

Daneben treten im Südtiroler Deutsch Sprachformen auf, die nicht als Interferenz erklärbar sind, sich aber dennoch aus der besonderen Situation des Südtirolerischen erklären.

Oft überschätzt wurde die Übernahme italienischer Wörter (Sachspezifika oder praktische Kurzwörter wie targa für "Kennzeichen/KFZ-Nummerntafel") und Interjektionen (Oschtia < it. ostia; magari usw.) in die Alltagssprache. In Stellenanzeigen fand sich etwa oft der Ausdruck militärfrei (für it. militesente), durch den der Bewerberkreis auf Männer mit abgeleistetem Militärdienst eingeschränkt wurde, der jedoch mit Abschaffung der Wehrpflicht ebenso schnell wieder verschwunden ist. Für Südtirol, obgleich nicht für das Deutsche in Südtirol typisch ist auch die umgekehrte Beeinflussung. Italienische Aufschriften entsprechen häufig nicht den italienisch-standardsprachlichen, im eigentlichen Italien üblichen (vgl. attendere prego im Sinne des dt. Bitte warten! statt si prega di attendere oder un attimo).

Siehe auch

Literatur

  • Andrea Abel: Von Bars, Oberschulen und weißen Stimmzetteln: zum Wortschatz des Standarddeutschen in Südtirol. In: Stefan Rabanus (Hrsg.): Deutsch als Minderheitensprache in Italien: Theorie und Empirie kontaktinduzierten Sprachwandels. Olms, Hildesheim-Zürich 2018, ISBN 978-3-487-15655-2.
  • Heidemaria Abfalterer: Der Südtiroler Sonderwortschatz aus plurizentrischer Sicht (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft: Germanistische Reihe 72). Innsbruck University Press, Innsbruck 2007, ISBN 978-3-901064-35-7.
  • Antony Alcock: From Tragedy to Triumph: The German Language in South Tyrol 1922–2000. In: Gabrielle Hogan-Brun: National Varieties of German outside Germany. A European Perspective. Peter Lang, Oxford et al. 2000, S. 161–192. ISBN 978-3-035301175.
  • Ulrich Ammon, Hans Bickel und Alexandra Lenz: Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. Völlig neu bearb. 2. Aufl. Berlin/ Boston: de Gruyter 2016.
  • Werner von Aufschnaiter: Sprachkontaktbedingte Besonderheiten der deutschen Gesetzes- und Amtssprache in Südtirol. In: Germanistische Mitteilungen. 16 (1982), S. 83–88.
  • Roland Bauer: Deutsch als Amtssprache in Südtirol. In: W. Osterheld (Hrsg.): Terminologie et tradition. Office des publications officielles des communautés europeénnes, Luxembourg 1994, S. 63–84.
  • Kurt Egger, Franz Lanthaler (Hrsg.): Die deutsche Sprache in Südtirol: Einheitssprache und regionale Vielfalt. Folio Verlag, Wien/ Bozen 2001, ISBN 3-85256-138-8.
  • Kurt Egger: Sprachlandschaft im Wandel: Südtirol auf dem Weg zur Mehrsprachigkeit. Athesia, Bozen 2001, ISBN 88-8266-112-1.
  • Kurt Egger: Die Vielfalt der sprachlichen Ausdrucksmittel in der Umgangssprache von Schülern in Bozen. In: Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch. Lang, Frankfurt a. M. 1993, ISBN 3-631-45862-2, S. 653–663.
  • Johannes Kramer: Deutsch und Italienisch in Südtirol. Winter, Heidelberg 1981, ISBN 3-533-02985-9.
  • Franz Lanthaler, Annemarie Saxalber: Die deutsche Standardsprache in Südtirol. In: Rudolf Muhr, Richard Schrodt, Peter Wiesinger (Hrsg.): Österreichisches Deutsch. Linguistische, sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. Hölder-Pichler-Tempsky, Wien 1995, S. 287–304.
  • Hans Moser, Oskar Putzer (Hrsg.): Zur Situation des Deutschen in Südtirol. Sprachwissenschaftliche Beiträge zu den Fragen von Sprachnorm und Sprachkontakt. Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft – Germanistische Reihe, Band 13. Innsbruck 1982, ISBN 3-85124-086-3.
  • Karin Pernstich: Der italienische Einfluss auf die deutsche Sprache in Südtirol, dargestellt an der Südtiroler Presse. Schriften zur deutschen Sprache in Österreich. Band 11. Braumüller, Wien 1984, ISBN 3-7003-0549-4.
  • Gerhard Riedmann: Bemerkungen zur deutschen Gegenwartssprache in Südtirol. In: P. Sture Ureland (Hrsg.): Standardsprache und Dialekte in mehrsprachigen Gebieten Europas. Linguistische Arbeiten, Band 82. Tübingen 1979, ISBN 3-484-10373-6.
  • Gerhard Riedmann: Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in Südtirol. Duden Beiträge 39. Bibliographisches Institut, Mannheim 1972.

Anmerkungen

  1. Beispiel in http://www.fachschule-laimburg.it/unsere-schule/formulare.asp
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