Roton (Physik)
Das Roton ist eine Anregung von suprafluiden Flüssigkeiten, die von dem russischen Physiker Lew Landau eingeführt wurde. Dieses Quasiteilchen beschreibt die makroskopischen Rotationszustände der suprafluiden Flüssigkeit.
Geschichtlicher Überblick
Landaus Ansatz 1941 zur Betrachtung von Helium II bestand in der Quantisierung der beiden makroskopischen Größen Dichte und Geschwindigkeit der Flüssigkeit. Außer der Dispersionsrelation der kollektiven Anregung betrachtete er unter anderem die Wärmekapazität, leitete die hydrodynamischen Gleichungen der Quantenflüssigkeit her und sagte darin den Zweiten Schall vorher. Für niedrige Temperaturen beschrieb er das System als ein Zweiflüssigkeitenmodell, bestehend aus einer suprafluiden und einer normalfluiden Komponente. Der Anteil der suprafluiden Komponente ist dabei temperaturabhängig; diese Komponente verschwindet mit dem Phasenübergang von Helium II auf Helium I am Lambdapunkt. Als Ergebnis dieser makroskopischen Theorie unterschied er Phononen und Rotonen als zwei mögliche kollektive Anregungen der gesamten Quantenflüssigkeit. Den Namen Roton hat er dabei Igor Jewgenjewitsch Tamm zugeschrieben.[1][2]
Andronikashvili versuchte 1946 Landaus Postulate experimentell zu überprüfen. Er maß die Viskosität von Helium II, indem er 100 hauchdünne, runde Aluminiumfolien von ca. 13 μm Dicke im Abstand von 0,2 mm in das Helium senkte, die im Mittelpunkt an einem Draht aufgehängt waren, um den sie sich drehen konnten. Mit dieser Anordnung hatte er einen möglichst großen Impulsübertrag von den aufgehängten Folien auf das flüssige Helium, das er in eine Rotationsbewegung versetzen wollte. Er stellte dabei fest, dass sich die suprafluide Komponente erst ab einer bestimmten Mindestgeschwindigkeit mitbewegt. Seine Experimente zielten nur auf makroskopische Größen.[3][4]
Richard Feynman schlug Ende der 1950er Jahre vor, die Dispersionsrelation der Anregungen durch Streuexperimente mit Neutronen zu untersuchen. Die Ergebnisse stimmten mit Landaus Postulaten überein.[5][6][2][7]
Durch die Experimente von William Frank Vinen wurde gezeigt, dass die makroskopische Rotationsbewegung quantisiert ist, und dass die Rotonen Quanten des Drehimpulsbetrags tragen.[8][9]
Roton-artige Dispersionsrelationen
Der Begriff roton-artig (englisch roton-like) wird für die vorhergesagten Eigenmoden in 3D Metamaterialien verwendet, welche in ihrer Struktur nicht-lokale Kopplung (englisch beyond-nearest-neighbor coupling) aufweisen.[10] Die experimentelle Beobachtung einer roton-artigen Dispersionsrelation gelang unter atmosphärischen Bedingungen für akustische Druckwellen in einem kanalbasierten Metamaterial im hörbaren Frequenzbereich, sowie für transversale elastische Wellen in einer polymerbasierten Metamaterialmikrostruktur im Ultraschallbereich.[11] Bis zu diesem Punkt beschränkten sich theoretische Betrachtung und Experimente lediglich auf Wellen, die entlang einer Raumrichtung propagierten. Nachfolgende theoretische Forschung erweiterten die nicht-lokale Kopplung für Wellen, welche entlang zwei[12], sowie entlang drei[13] Dimensionen propagieren. Isotropes Verhalten wurde bisher jedoch noch nicht erzielt.
Der Transfer der nicht-lokalen Kopplung wurde in einem elektromagnetischen (photonischen) Metamaterial bestehend aus einem BNC-Kabelnetzwerk realisiert.[14]
Weiterführend wurde eine roton-artige Dispersion für elastische Wellen durch gänzlich andere Mechanismen realisiert. 2023 gelang es unter Ausnutzung extrem chiraler Kopplungen in einer polymerbasierten Metamaterialmikrostruktur im Ultraschallbereich ebenfalls eine roton-artige Dispersion vorherzusagen und experimentell nachzuweisen.[15] Wenig später wurde eine roton-artige Dispersion durch zurück gefaltete, "weiche" Moden in einem extremalen Cauchy-elastischen Material (nach Milton et al.[16]) prognostiziert und experimentell bestätigt.[17]
Einzelnachweise
- Lew Landau: The theory of superfluidity of helium II. In: D. Ter Haar (Hrsg.): Collected Papers of L.D. Landau. S. 301 (Kapitel 46 in der Google-Buchsuche – Reprint von JPhys U.S.S.R. 5, 71, 1941; JETP 11, 592, 1941).
- J. Wilks: The Theory of Liquid 4He. In: Rep. Prog. Phys. Band 20, 1957, S. 38–85, doi:10.1088/0034-4885/20/1/302 (University of Michigan [PDF; abgerufen am 14. Dezember 2014]).
- E. Andronikashvili. J. Phys. USSR 10 , 201 (1946) J. Exp. Theor. Phys. USSR 18, 429 (1946)
- K. R. Atkins: Liquid Helium. Cambridge University Press, 2014, ISBN 978-1-107-63890-7 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Richard P. Feynman: Superfluidity and Superconductivity. In: Rev. Mod. Phys. Band 29, 1957, S. 205, doi:10.1103/RevModPhys.29.205.
- John Bardeen: Solid-State Physics: Accomplishments and Future Prospects. In: Sanborn Conner Brown (Hrsg.): Physics 50 Years Later. National Academies, 1873 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Ludwig Bergmann, Clemens Schaefer: Lehrbuch der Experimentalphysik. Band 5. Gase, Nanosysteme, Flüssigkeiten. Walter de Gruyter, 2005, ISBN 978-3-11-017484-7 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- W. F. Vinen: Detection of Single Quanta of Circulation in Rotating Helium II. In: Nature. Band 181, 1958, S. 1524–1525, doi:10.1038/1811524a0 (Abstract [abgerufen am 14. Dezember 2014]).
- W. F. Vinen: The Detection of Single Quanta of Circulation in Liquid Helium II. In: Proceedings A of the Royal Society. Band 260, Nr. 1301, 1961, S. 218, doi:10.1098/rspa.1961.0029 (Abstract [abgerufen am 14. Dezember 2014]).
- Yi Chen, Muamer Kadic, Martin Wegener: Roton-like acoustical dispersion relations in 3D metamaterials. In: Nature Communications. Band 12, Nr. 1, 2. Juni 2021, ISSN 2041-1723, S. 3278, doi:10.1038/s41467-021-23574-2, PMID 34078904, PMC 8172548 (freier Volltext).
- Julio Andrés Iglesias Martínez, Michael Fidelis Groß, Yi Chen, Tobias Frenzel, Vincent Laude, Muamer Kadic, Martin Wegener: Experimental observation of roton-like dispersion relations in metamaterials. In: Science Advances. Band 7, Nr. 49, 3. Dezember 2021, ISSN 2375-2548, S. eabm2189, doi:10.1126/sciadv.abm2189, PMID 34851658, PMC 8635434 (freier Volltext).
- Ke Wang, Yi Chen, Muamer Kadic, Changguo Wang, Martin Wegener: Nonlocal interaction engineering of 2D roton-like dispersion relations in acoustic and mechanical metamaterials. In: Communications Materials. Band 3, Nr. 1, 24. Mai 2022, ISSN 2662-4443, S. 1–11, doi:10.1038/s43246-022-00257-z (nature.com [abgerufen am 5. Oktober 2023]).
- Ke Wang, Yi Chen, Muamer Kadic, Changguo Wang, Martin Wegener: Cubic-symmetry acoustic metamaterials with roton-like dispersion relations. In: Acta Mechanica Sinica. Band 39, Nr. 7, Juli 2023, ISSN 0567-7718, doi:10.1007/s10409-023-23020-x (springer.com [abgerufen am 5. Oktober 2023]).
- Yi Chen, Mahmoud A. A. Abouelatta, Ke Wang, Muamer Kadic, Martin Wegener: Nonlocal Cable‐Network Metamaterials. In: Advanced Materials. 2. März 2023, ISSN 0935-9648, S. 2209988, doi:10.1002/adma.202209988 (wiley.com [abgerufen am 5. Oktober 2023]).
- Yi Chen, Jonathan L. G. Schneider, Michael F. Groß, Ke Wang, Sebastian Kalt, Philip Scott, Muamer Kadic, Martin Wegener: Observation of Chirality‐Induced Roton‐Like Dispersion in a 3D Micropolar Elastic Metamaterial. In: Advanced Functional Materials. 6. Juni 2023, ISSN 1616-301X, doi:10.1002/adfm.202302699 (wiley.com [abgerufen am 5. Oktober 2023]).
- Graeme W. Milton, Andrej V. Cherkaev: Which Elasticity Tensors are Realizable? In: Journal of Engineering Materials and Technology. Band 117, Nr. 4, 1. Oktober 1995, ISSN 0094-4289, S. 483–493, doi:10.1115/1.2804743 (asme.org [abgerufen am 5. Oktober 2023]).
- Michael F. Groß, Jonathan L.G. Schneider, Yi Chen, Muamer Kadic, Martin Wegener: Dispersion Engineering by Hybridizing the Back‐Folded Soft Mode of Monomode Elastic Metamaterials with Stiff Acoustic Modes. In: Advanced Materials. 28. September 2023, ISSN 0935-9648, doi:10.1002/adma.202307553 (wiley.com [abgerufen am 5. Oktober 2023]).