Rheinische Schärfung
Als „rheinische Schärfung“ und Schleifton werden in den ripuarischen und limburgischen Sprachen die beiden für diese Dialekte typischen Tonakzente bezeichnet. Der Akzent wird im übrigen deutschen und im niederländischen Sprachraum als „rheinischer Singsang“ wahrgenommen.
Als Bezeichnungen für die beiden Tonakzente werden in der Sprachwissenschaft verwendet: Tonakzent 1 und Tonakzent 2. Ältere Bezeichnungen sind: Tonakzent 1: Schärfung, geschärft; Stoßton und Tonakzent 2: ungeschärft; Schleifton
Tonakzent 1 ist gekennzeichnet durch einen rapiden Intensitätsabfall der betonten Silbe mit abschließender Glottalisierung. Dieser Tonakzent der Ripuarischen und Limburgischen Sprachen ist der Stoßton, auch Niederländisch stoottoon genannt.[1]
Der Schleifton (Tonakzent 2) ist charakterisiert durch einen Tonhöhenverlauf und Druckverlauf, der oft bei einem hohen Ton mit hohen Druck beginnt, die beide schnell abfallen und danach etwas langsamer wieder ungefähr auf das Normalniveau steigen. Allerdings gibt es eine unübersehbar große Zahl voneinander abweichender individueller Ausprägungen des Schleiftons, die neben dem jeweiligen Dialekt von einigen unterschiedlichen Einflussfaktoren bestimmt werden.
Im niederländischen und flämischen Schrifttum wird dieser Tonakzent als sleeptoon, im deutschen auch als „Tonakzent 2“ bezeichnet.[1]
Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Ausprägungen der rheinischen Akzentuierung, die vom jeweiligen Dialekt, vom Ton- und Modulationsverlauf im Satz sowie dem Satztyp abhängen.
Einbettung und Position
Der Tonakzent kann sowohl auf Silben und Silbenteile, als auch Vokale oder Liquida (l, m, n, ng, r) fallen. Die entsprechenden Silben sind immer betont und tragen einen Druckakzent. Zugleich verändert sich die Tonhöhe des geschärften Segments oder der geschärften Segmente währenddessen sie erklingen. Der Umfang und Verlauf der Tonhöhenänderung ist regional unterschiedlich und wird zudem stark vom jeweiligen Satzmuster beeinflusst, wie Aussage, Frage, implizite Verneinung, und so fort. Auch von der Position der Silbe im Satz wird der Verlauf beeinflusst.
Bei geschärften Silbe sackt der Stimmton sehr schnell ab, mitunter so stark, dass er für einen Sekundenbruchteil unhörbar wird, während er also ohne Schärfung nur andeutungsweise nach unten geht und sofort wider nach oben zurückkehrt.
Auf einen kurzen Vokal folgende Liquide (l,m,n,ng,r) werden in den Tonverlauf der Akzentuierung einbezogen und bilden eine Art tonalen Diphthong[10], etwa in „Jeld“ (Geld) und „Jold“ (Gold), „Hungk“ (Hund), „Orjel“ (geschlossenes O) (Orgel) und so weiter.
Verbreitung
Geografisch
Der limburgische Schleifton kommt vor in der Provinz Limburg der Niederlande, in der Provinz Limburg in Belgien, in einem Teil der belgischen Provinzen Luxemburg und Lüttich (darunter der Deutschsprachigen Gemeinschaft), im Großherzogtum Luxemburg und in den zusammenfassend als Rheinland bezeichneten Teilen der deutschen Bundesländer Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Das umfasst einige große oder bekannte Städte, unter anderem Aachen, Bitburg, Bonn, Düsseldorf, Eupen, Hasselt, Heerlen, Heinsberg, Jülich, Kerkrade, Köln, Koblenz, Krefeld, Leverkusen, Luxemburg, Maastricht, Mönchengladbach, Prüm, Roermond, Siegburg, Tongern, Trier, Venlo, Weert und einen kleinen Teil Wuppertals. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war die rheinische Akzentuierung auch Kennzeichen der Dialekte in Teilen des westlichen Ruhrgebiets, so in den heutigen südlichen Stadtteilen von Essen, im Mölmschen (Mülheim an der Ruhr) und im Duisburger Platt. Die nördliche Grenze zur so genannten kleverländischen Akzentuierung verlief rechtsrheinisch nördlich der Duisburger Altstadt und dem heutigen Mülheimer Stadtteil Styrum[2] und ist heute nur noch in äußerst abgeschwächter Form im Regiolekt dieser Gegend vorzufinden.
Nach Sprachengruppen
Im Ripuarischen und Limburgischen Sprachraum ist die rheinische Schärfung allgegenwärtig. Es gibt kaum einen Satz, in dem sie nicht wenigstens einmal vorkommt. Im westlichen Moselfränkischen einschließlich des Luxemburgischen ist sie seltener. Dieses Intonationsphänomen teilt das Kölsche mit mehreren anderen „West-Sprachen“ wie Eifeler Platt, Luxemburgisch, Südniederrheinisch und Limburgisch (letzteres in den Niederlanden, Belgien und im Selfkant).
In geringem Umfang taucht der Schleifton noch im Luxemburgischen, im angrenzenden Pfälzischen und Moselfränkischen auf, sowie im Rheinischen Regiolekt. Er ist ansonsten im europäischen Sprachraum unbekannt. Selbst Sprecher aus angrenzenden Regionen, wie dem Niederrhein nördlich der Uerdinger Linie, sind in der Regel nicht in der Lage, ihn in der gesprochenen Sprache zu identifizieren oder richtig auszusprechen.
Darstellung in der Schrift
In der gewöhnlichen Schreibung der jeweiligen Sprachen wird die Schärfung nicht erfasst. Da in der Mehrzahl der Fälle die Schärfung mit einem langen Vokal oder einer langen Silbe zusammentrifft, neigen Autoren im Einflussbereich der niederländischen Standardsprache und ihrer Schreibregeln dazu, bei geschärften Vokalen oder Silben Doppelvokale oder „ie“ zu verwenden. Ganz analog dazu findet man dies auch im Einflussbereich der deutschen Standardsprache und ihrer Schreibung, und zusätzlich häufig Vokale, denen ein „h“ folgt.
Lautschriften
In der Lautschrift nach IPA gibt es eigene Zeichen für den Tonverlauf. Sie werden jedoch bestenfalls bei einer engen phonetischen Transkription eingesetzt. Ansonsten dominiert die reine Längenangabe mit dem Zeichen [ˑ], die in der großen Mehrzahl der Fälle phonologisch äquivalent ist.[3] Abweichend davon wird auch gelegentlich [.] benutzt.[4]
In der rheinischen Dialektologie vor dem Zweiten Weltkrieg war es üblich, Beginn und Ende der Schärfung in phonetischen Umschriften mit [ˑ. ] zu markieren, also zum Beispiel [vaˑl.] für das deutsche Wort „Falle“ im Aachener Dialekt,[5] eine Notation, die auf den Bonner Professor Frings zurückgeht.
Die Rheinische Dokumenta von 1983 führt ursprünglich keine Kennzeichnung der rheinischen Schärfung ein und ihre Autoren raten von einer Markierung ab.[6]
Die Teuthonista[7] definiert ebenfalls keine Markierungen für die verschiedenen Ausprägungen der rheinischen Schärfung, wiewohl solche durchaus möglich wären. Das Rheinland und Limburg zählen nicht zum üblichen Anwendungsgebiet der Teuthonista.
Beispiele
Die beiden Wörter mit der identischen Schreibung zie kommen in vielen (westlichen) limburgischen Sprachen vor. Bei gleicher Lautfolge auf zwei unterschiedliche Weisen intoniert, ist die Bedeutung „Frau“ mit Stoßton und „Seite“ mit Schleifton.
Im Mestreechs kennt man bij [ ], das bedeutet auf Deutsch „bei“ ohne oder „Biene“ mit Schärfung, und sehr ähnlich gesprochen, im Kölschen die Wörter bei (ohne Schärfung) und Bei (mit Schärfung) mit jeweils derselben Bedeutung.
Das Wort kiëske im Dialekt des belgischen Stadt Hasselt bedeutet auf Deutsch „Käslein“ ohne oder „Strümpfchen“ mit Schärfung des Doppelvokals.[8]
Man schreibt kaal im Jömelejer Plat und das bedeutet „Gerede“ mit Schleifton oder „kahl“ ohne die Schärfung.[9] Beide Vokale sind lang. Es gibt im Gemmernicher Platt aber auch Kurzvokale mit Schärfung, zum Beispiel bei dem Minimalpaar bökske, das mit Schärfung „Büchlein“ und ohne Schärfung „Höschen“ bedeutet.[4]
Auch wenn die Tonakzente mit dem Oberbegriff „Lexikalischer Ton“ belegt sind, dienen sie vielfach dazu, grammatische, syntaktische oder Fokus-Unterschiede im Satz zu markieren. Im Kölschen hat beispielsweise der Nominativ des Wortes „Pferd“ dat Pääd einen Schleifton, wohingegen der Dativ dämm Pähd immer mit Stoßton gesprochen wird. Ebenfalls im Kölschen wird der normale Aussagesatz „Das ist schlecht“ Dat es schlääsch mit einem Stoßton auf der letzten Silbe gesprochen. Beschwert man sich jedoch lauthals und heftig: Boh, es dat schlääsch! „Meine Güte, ist das schlecht!“, so bekommt die letzte Silbe einen Schleifton. Im Kölschen wird ein Unterschied als Ungerscheed oder Ongerscheid bezeichnet, ohne Schärfung. Die Betonung liegt auf der ersten Silbe. Auch bei dem Verb ungerscheide kommt sie nicht vor, jedoch wird hier das „ei“ betont. Jedoch im Wort Ongerscheidong ist das ei geschärft und betont.
In der Kölschen Sprache „Schläsh“ je nach Intonation „Schläge“ oder „Schlecht“.
Das Wort „ou“ im Öcher Platt oder Völsj (der Mundart in Vaals) bedeutet „alt“ bzw. „auch“.
Literatur
- Carlos Gussenhoven: Tone systems in Dutch Limburgian dialects. In: Shigeki Kaji (Hrsg.): Proceedings of the Symposium on Cross-Linguistic Studies of Tonal Phenomena: Tonogenesis, Typology, and Related Topics. Institute for Languages and Cultures of Asia and Africa, Tokyo University of Foreign Languages, Tokyo 1999, S. 127–143.
Weblinks
- De tonen van het Limburgs Verbreitungsgebiet, Zustandekommen und Beschreibung der Tonakzente (auf Niederländisch)
- Germanic tone accents. Proceedings of the First International Workshop on Franconian Tone Accents, Leiden, 2003 (englisch)
- Jean Frins: Unsere einzigartige Dreiländersprache (Memento vom 16. Februar 2008 im Internet Archive) auf der Seite des Vereins Öcher Platt; zur heutigen karolingisch-fränkischen Sprache im Bereich des mittelalterlichen Herzogtums Limburg.
Einzelnachweise
- Jörg Peters: The Cologne Word Accent Revisited. In: Michiel Arnoud Cor de Vaan (Hrsg.): Germanic tone accents. Franz Steiner, Stuttgart 2006, ISBN 3-515-08877-6, S. 107; abgerufen am 30. Juni 2011.
- „Studien zur niederrheinischen Dialektgeographie in den Kreisen Rees, Dinslaken, Hamborn, Mülheim, Duisburg“, Heinrich Neuse, N. G. Elwert’sche Verlagsbuchhandlung, 1915.
- Vergleiche dazu die verschiedenen Publikation von Christa Bhatt, Alice Herrwegen und Karl Heinz Rahmers sowie Georg Heike, insbesondere:
- Christa Bhatt, Alice Herrwegen: Das Kölsche Wörterbuch. 2. Auflage. J.P. Bachem Verlag, Köln 2005, ISBN 3-7616-1942-1.
- Alice Herrwegen: Mer liehre Kölsch – ävver flöck, Intensivkurs der Kölschen Sprache. J.P. Bachem Verlag, Köln 2006, ISBN 3-7616-2032-2.
- Alice Herrwegen: Mer liere Kölsch – ävver höösch. J.P. Bachem Verlag, Köln 2008, ISBN 978-3-7616-2201-8.
- Jules Aldenhoff, Jean Gerrekens, Pierre Straat: Diksjonäär van et Jömelejer Plat. 1. Auflage. GEV – Grenz-Echo Verlag, Eupen 2003, ISBN 90-5433-182-8, S. vi unten.
- Adolf Steins: Grammatik des Aachener Dialekts. Diss. 1921, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Klaus-Peter Lange. Rheinisches Archiv. Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn. Bd. 141. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 1998, ISBN 3-412-07698-8, S. 19 Mitte.
- Peter Honnen (vorgestellt nach Vorarbeiten von Fritz Langensiepen): Rheinische Dokumenta: Lautschrift für Rheinische Mundarten, Mundartdokumentation im Rheinland. 2. Auflage. Rheinland-Verlag, Köln 1987, ISBN 3-7927-0947-3, S. 24, letzter Abschnitt von Kapitel V. 2.
- Siehe zum Beispiel Kurzbeschreibung (Memento vom 24. Juli 2004 im Internet Archive) (PDF)
- Siehe unter Inleiding. In: van Rachel Fournier, Carlos Gussenhoven, Jörg Peters, Marc Swerts, Jo Verhoeven: De tonen van het Limburgs. (niederländisch) abgerufen am 4. August 2011.
- Jömelejer Platt. Wörterbuch auf joemelejerplat.be; am Ende des Abschnitts zur Rechtschreibung, abgerufen am 8. Dezember 2007.