Reichskanzlei

Die Reichskanzlei war die Behörde des Reichskanzlers des Deutschen Reichs von 1878 bis 1945. Sie war vor allem für den Verkehr des Reichskanzlers mit den übrigen Reichs- und Staatsorganen verantwortlich. Ihre Leitung oblag einem Staatssekretär. Amtsgebäude der Reichskanzlei war ein Palais in der Wilhelmstraße 77 in Berlin. Das Reich hatte es 1875 auf Drängen Otto von Bismarcks als Sitz der Reichskanzlei erworben. Das Gebäude hieß nach dem Bauherren „Palais Schulenburg“ oder der Familie des letzten Erwerbers Antoni Henryk Radziwiłł „Palais Radziwill“ oder nach der Funktion „Reichskanzlerpalais“ und ab 1930 nach einer Überformung auch „Alte Reichskanzlei“.

Palais Schulenburg, um 1830

Die Reichskanzlei wurde zuweilen auch „Reichskanzleramt“ genannt. Sie ist nicht zu verwechseln mit dem tatsächlichen Bundeskanzleramt des Norddeutschen Bundes, das seit 1871 Reichskanzleramt hieß. Dieses entwickelte sich ab 1878 zum Reichsamt des Innern.

Anfangszeit

Reichskanzlerpalais, um 1895
Sitzungssaal des Kabinetts im Erweiterungsbau, um 1930
Juli 1936: Zeppelin LZ 129 „Hindenburg“ über der Reichskanzlei bei einem Werbeflug zu den Olympischen Sommerspielen 1936. Im Hintergrund der 1928–1930 errichtete Erweiterungsbau
Gebäudekomplex aus Alter (Nr. 15) und Neuer Reichskanzlei (Nr. 1–3). Saalbau (14) mit Bunker (10). Erweiterungsbau (Nr. 18) mit dem Palais Borsig an der Ecke Wilhelm-/Voßstraße

Das Gebäude der Alten Reichskanzlei war 1738/39 von Carl Friedrich Richter erbaut worden. Im Jahr 1869 kaufte Bismarck das Palais für Zwecke der preußischen Staatsregierung. 1875 erwarb das Kaiserreich das Gebäude, das in Zukunft als Wohn- und Amtssitz des jeweiligen Reichskanzlers diente. In den Jahren 1875–1878 erfolgte im Inneren des Gebäudes ein Umbau nach Plänen von Wilhelm Neumann. Ab 1878 nutzte Bismarck das Palais als Residenz und die neu gegründete Behörde Zentralbureau des Reichskanzlers bezog mit ihm zusammen das Palais. Bismarck schlug zudem die Umbenennung des Palais in Reichskanzlei vor.

Die Reichskanzlei als Geschäftszentrale des Bundeskanzlers ist nicht mit dem norddeutschen Bundeskanzleramt von 1867 zu verwechseln, das 1871 in Reichskanzleramt umbenannt wurde. Das Reichskanzleramt war der Vorläufer des Reichsamts des Innern, des späteren Innenministeriums.[1]

Im Jahr 1878 tagte im Festsaal, in der Mitte des Obergeschosses, der Berliner Kongress, der unter der Vermittlung Bismarcks eine Beilegung der vorangegangenen Balkankrise aushandelte. Auch die Kongokonferenz (1884/1885), die die koloniale Aufteilung Afrikas regelte, fand an diesem Ort statt.

Zwischen 1928 und 1930 entstand ein Erweiterungsbau auf dem benachbarten Grundstück Wilhelmstraße 78. Die entsprechenden Vorarbeiten leitete der Staatssekretär der Reichskanzlei. Für das zu errichtende Gebäude gab es im Frühjahr 1927 einen Einladungs-Wettbewerb, der vorsah, die Lücke zwischen dem vorhandenen Kanzleigebäude und dem Palais Borsig stilistisch angepasst zu schließen. Für die notwendigen Arbeiten standen mehr als 200.000 Mark bereit (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund 848.000 Euro).[2] Die Architekten Eduard Jobst Siedler und Robert Kisch waren die Sieger des Wettbewerbes und ihre Pläne wurden weitestgehend umgesetzt.

Das Reichskanzlerpalais war zwischen 1932 und 1933 vorübergehend Dienstwohnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, da zu dieser Zeit Hindenburgs Wohnung im Reichspräsidentenpalais (Wilhelmstraße 73) renoviert wurde. Obwohl er am 3. Dezember 1932 seinen Posten als Reichskanzler aufgeben musste, blieb Franz von Papen in seiner Dienstwohnung leben und hatte somit wiederholt unmittelbaren Kontakt zum greisen Staatsoberhaupt und Mitgliedern der Kamarilla. Der neue Kanzler Kurt von Schleicher lebte noch immer in seiner Wohnung im Bendlerblock.[3]

Spätere Nutzung

In den Jahren 1934/35 erfolgten ein erneuter Umbau sowie eine Neueinrichtung der Wohn- und Arbeitsräume für Adolf Hitler, der Führerwohnung, durch Paul Ludwig Troost, Gerdy Troost und Leonhard Gall. Dabei verlegten die Architekten die Repräsentationsräume für den Empfang von Gästen von der ersten Etage in das Erdgeschoss. Dieses beherbergte im alten Corps de Logis (Mittelbau) des Palais neben der Vorhalle auf der Gartenseite den Salon sowie den neu angebauten Saalbau mit großem Speisesaal für diplomatische Empfänge und einem Wintergarten.[4] Der Kabinettsaal wurde vom Erweiterungsbau (1930) zurück in den Konferenzsaal im Obergeschoss des Mittelbaus verlegt. Nach der Fertigstellung der Neuen Reichskanzlei wurde der Kabinettsaal dorthin verlegt, während der Konferenzsaal meist ungenutzt blieb, nur Hitlers Geburtstagsgeschenke wurden hier alljährlich aufgestellt. Außerdem befanden sich in der ersten Etage Hitlers privates Arbeitszimmer, sein Schlafzimmer mit Bad und das Zimmer von Eva Braun. Auf der Gartenseite wurde unter Speisesaal und Wintergarten ein Luftschutzbunker errichtet, der „Vorbunker“ des späteren Führerbunkers.

Nach Plänen von Hitlers Hausarchitekten Albert Speer entstand 1935–1943 die Neue Reichskanzlei entlang der Voßstraße; ein Neubau, der mit seinen monumentalen Ausmaßen von 421 Metern in der Länge den Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten widerspiegeln sollte. Die offizielle Einweihung des in Teilen noch nicht fertiggestellten Bauwerkes fand am 10. Januar 1939 statt. Im Garten der Alten Reichskanzlei wurde westlich des Saalbaus ab 1943 der Führerbunker angelegt.

Im Zweiten Weltkrieg wurde 1945 die Alte Reichskanzlei schwer beschädigt. Am 13. Oktober 1948 ordnete die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) an, den mit dem NS-Regime verbundenen Gebäudekomplex aus Palais Borsig sowie Alter und Neuer Reichskanzlei abzutragen, weil er zu einer Wallfahrtsstätte von Rechtsextremisten hätte werden können. Die Ruine der Alten Reichskanzlei wurde daraufhin bereits im Laufe des Jahres 1949 beseitigt.

Siehe auch

Literatur

  • Thomas Sandkühler: Die Reichskanzlei in der Wilhelmstraße 1871–1945 und Adolf Hitlers „Führerwohnung“: Geschichte eines vergessenen Ortes. In: Susanne Kähler, Wolfgang Krogel (Hrsg.): Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins. 65. Jg., Berlin 2016, S. 101–138.
  • Laurenz Demps: Berlin-Wilhelmstraße. Eine Topographie preußisch-deutscher Macht. 3., aktualisierte Auflage. Ch.Links, Berlin 2000, ISBN 3-86153-228-X.
  • Sonja Günther: Design der Macht. Möbel für Repräsentanten des „Dritten Reiches“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1992, ISBN 3-421-03029-4.
  • Dietmar Arnold, Reiner Janick: Neue Reichskanzlei und „Führerbunker“ – Legenden und Wirklichkeit. Ch. Links Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-86153-353-7.
  • Hans Günter Hockerts: Basislager der Forschung: Die Edition der Akten der Reichskanzlei. Über die erhaltenen Akten der Reichskanzlei. 2005. (Überblick über eine bedeutende Quellenpublikation, Link siehe unter Weblinks). (web.archive.org, PDF; 447 kB)
  • Manfred Neumann: Von der Reichskanzlei zum Bundeskanzleramt – Vor 120 Jahren: Bismarck gründet die Reichskanzlei. In: AöR, Bd. 124, 1999, S. 108–130.
  • Christoph Neubauer: Die Reichskanzlei – Architektur der Macht. Bd. 1: 1733–1875. Neubauer Verlag, Großschönau 2014, ISBN 978-3-9813977-1-0. (die-reichskanzlei.de)
  • Andreas Nachama (Hrsg.): Die Wilhelmstraße 1933–1945 – Aufstieg und Untergang des NS-Regierungsviertels. Stiftung Topographie des Terrors, 2012, ISBN 978-3-941772-10-6, S. 45 ff.
Commons: Reichskanzlei – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Reichskanzlei – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band III: Bismarck und das Reich. W. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1963, S. 832/833.
  2. Erweiterungsbau der Reichskanzlei. In: Vossische Zeitung. 19. Januar 1927, Morgenausgabe, S. 5.
  3. Rüdiger Barth, Hauke Friedrichs: Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik. Ullstein, Berlin 2018, S. 145146.
  4. 3D-Modell der Reichskanzlei: 15 = alte Reichskanzlei, 18 = Erweiterungsbau 1930, 14 = Saalbau 1935, rot = Bunker, links 1943, rechts 1935, 1/2/3 = Neue Reichskanzlei 1939.

This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. Additional terms may apply for the media files.