Reetdach
Reet (auch Reeth, Reth, Reith, Ried, Riet und Ähnliches; vgl. mittelhochdeutsch riet „Schilf, Röhricht“), auch Rohr genannt, bezeichnet das an Ufern oder auf sumpfigem Gelände wachsende Schilfrohr, das vielerorts in getrocknetem Zustand zur Dacheindeckung verwendet wird und in früheren Zeiten zu vielen ähnlichen Zwecken diente, so etwa zum Besticken neuer Deiche mit der Deichnadel. Die Reetdachdeckerei gilt als eine der ältesten Handwerkstechniken beim Hausbau.
Neben der Bezeichnung Reetdach sind seltener und landschaftlich auch Bezeichnungen wie Rohrdach oder Schilfdach gebräuchlich. Mit Reet gedeckte Häuser werden auch als Reethaus bzw. Reethus oder Reetdachhaus bezeichnet.
Das Handwerk der Reetdachdeckerei wurde vom Land Mecklenburg-Vorpommern als immaterielles Kulturerbe der UNESCO eingereicht und 2014 als solches bestätigt.[1]
Geschichte
Reet bzw. Schilf war eines der ersten Bedachungsmaterialien der sesshaft gewordenen Menschen; dies ist vor allem auf die Eigenschaften des Schilfs als Wasserpflanze und seine lokale sehr häufige Verfügbarkeit zurückzuführen. Die ersten Reetdächer waren einfache Eindach-Häuser.
Im Mittelalter wurde aufgrund der Brandgefahr in dicht bebauten Gebieten das Reetdach in den Städten durch Hartdächer ersetzt. Auf dem Lande behielt das Reet jedoch bis in die heutige Zeit eine gewisse Bedeutung. Die ersten nachgewiesenen Reetdächer (Pfahlbauten am Bodensee) gab es bereits um 4000 v. Chr. Es war leicht aufgebundenes Reet, das mit Haselnussstöcken als Schachtstange und eingeweichten Weidenstöcken auf den Dachstuhl gepresst wurde.[2]
Aufbau
Ein Reetdach kann traditionell als Kaltdach (mit Hinterlüftung) ausgeführt werden. Früher hingegen wurde das Reet- oder Strohdach ohne Hinterlüftung als Warmdach konstruiert. Dabei wird dem Reet oft eine hervorragende Isolationswirkung nachgesagt, nicht zuletzt durch die Reetdachindustrie selbst: Aufgrund der geringen Rohdichte von Schilf sorge Reet für guten sommerlichen Wärmeschutz und gute Wärmedämmung im Winter. Im Reetdach wird jedoch aufgrund der starken Durchlüftung infolge der Halmstruktur jede Wärmedämmung „weggeweht“.
Nach einer Schadensserie bei ausgebauten Reetdächern, die pilzbelastetem Reetmaterial angelastet wurde, meldeten sich Fachleute, die auf die Unzulänglichkeiten einer Hinterlüftungsschicht hinwiesen, ein direktes Beflocken des Reets mit eingeblasener Zellulosedämmung (ohne Luftschicht) als sicherere Alternative befürworteten und dafür auf Referenzdächer verweisen konnten[4][5]. Die eingeblasene Zellulosedämmung kann aufgrund ihrer großen Feuchtespeicher-, -puffer- und Ableitungsfähigkeit die Luftschicht in ihrer Rolle als Trockenhaltungsmedium ersetzen. Zudem vermeidet man mit verdichtet eingeblasener Zellulosedämmung den Eintrag feuchtwarmer Innenluft durch die Dämmschicht in das Reet, weil die Zellulosedämmschicht an sich („materialimmanent“) luftdichtende Eigenschaften hat,[6] die man bei Mineralwolldämmung nur durch sorgfältigstes An- und Abkleben mit Dampfbremsfolien erreicht. Auch das Einströmen tauwasserhaltiger Nachtluft wird durch die direkte Reetbeflockung vermieden.
Die korrekte Ausführung muss einige Anforderungen und Parameter einhalten. Reetdächer sollten eine Dachneigung von über 45° haben. Die hohe Dachneigung ist erforderlich, damit die einzelnen Wassertropfen von Halm zu Halm gleiten können. Bei einem funktionierenden Reetdach wird so nur die oberste Schicht der Dachdeckung durchfeuchtet. Reetdächer haben als konstruktiven Bautenschutz einen großen Dachüberstand (Traufüberstand) von mindestens 50 cm, da keine Regenrinne das Wasser abführt, tropft es in ausreichendem Abstand zum Mauerwerk ab und versickert in einem Kiesbett oder wird durch eine Rinne abgeführt. Der Schornsteinaustritt muss laut Feuerungsverordnung (FeuVO) mindestens 0,8 m über dem First liegen.
Der First des Reetdaches ist von Region zu Region unterschiedlich gefertigt. In Regionen, in denen Heidekraut wächst, wird dieser mit Heidekraut gedeckt. In den Niederlanden, Flandern und Frankreich sind Tonkappenfirste (in naturrot gebrannt oder taubengrau gedämpft) üblich. In Nordfriesland ist der Grassodenfirst zu finden und in den skandinavischen Ländern sowie der Region Kappeln/Flensburg Hängeholzer (Eichenholzreiter), die auf einer Seegrasschicht hängen.
Verarbeitung
Ein Reetdach kann auf drei verschiedene Arten hergestellt werden: als geschraubtes, genähtes oder gebundenes Dach. Das Reet wird in geschnürten Bündeln geliefert, auf den Dachlatten verteilt und dann so verschoben, dass die unteren Reethalmenden eine schräge einheitliche, durchgehende Fläche bilden. Die Wurzelenden des Schilfs zeigen zum Boden. Die erste Schicht, die sog. Traufschicht, wird unter Spannung durch die Bindung am Dach gehalten. Die Spannung erhält die Deckung dadurch, dass die Auflagekante an der Traufe (Kniep) fünf bis sieben Zentimeter höher liegt als die Dachlattenebene. Bei den gebundenen und den geschraubten Dächern wird ein Haltedraht (Schacht) auf die zirka einen Meter breiten und 10–20 cm starken Lagen gelegt und durch einen geschraubten oder gebundenen Draht auf die Lage gedrückt. Mit dem Klopfbrett werden die Lagen hochgeklopft und in Form gebracht. Dies wird Lage für Lage bis zum Erreichen des Dachfirsts fortgeführt, durch das Überdecken der einzelnen Lagen liegt die Bindung in der Mitte der Deckschicht. Das genähte Reetdach kommt ohne Haltedraht aus und ist aufwändiger zu verarbeiten.
Reetdachdecker-Handwerk erfordert großes fachliches Können. Im Dezember 2014 wurde das Handwerk deshalb als eine von 27 Kulturformen in das Bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes durch die Kultusministerkonferenz aufgenommen.[7]
Reetproblematik heute
Gegenwärtig wird Reet nach Deutschland auch importiert, weil die Nachfrage über dem inländischen Angebot liegt. Heute wird etwa die Hälfte des Reets aus Rumänien importiert, ferner aus der Ukraine und Ungarn; etwa zehn Prozent stammen aus der Türkei und China (mit anderen Erntezeiten verbunden).[8] In diesem Zusammenhang wurden Befürchtungen laut, durch den Import könnten Schädlinge eingeschleppt werden, die keine natürlichen Feinde haben und die Haltbarkeit bzw. Lebensdauer der Dachdeckung reduzieren würden.
Viel Aufmerksamkeit gewannen Berichte über geheimnisvolle Pilzarten,[9] die in den Medien zu „Killer-Pilzen“ stilisiert wurden.[10][11] Solche neuartigen Pilze, angeblich eingeschleppt durch Importe aus Südosteuropa, und ihre Wirkung wurden jedoch durch keine Untersuchungen nachgewiesen, und einigen Hinweisen zufolge sei die Quelle einiger dieser Theorien der Hersteller eines angeblichen Mittels gegen die Pilze.[9]
Forschungen an der Universität Greifswald und anderen beteiligten Universitäten in Norddeutschland konnten keinen Beleg für einen solchen Pilz oder Schädling finden. Die Forschungen ergaben, dass lediglich Lignin (Holz) abbauende Pilze (Weißfäulepilze) für die vorzeitige Alterung von Reetdächern verantwortlich sein können, falls ihnen durch Dauerfeuchte ein entsprechendes Milieu geboten wird.[12] Dieses Milieu wird jedoch erst durch bauphysikalische Fehler geschaffen.
Die niederländische Innung Vakfederatie Rietdekkers vermutet ähnlich,[8] die Ursache für das Verfaulen vieler Reetdächer liege eher in der Nichteinhaltung der Grundprinzipien des Dachaufbaus (zum Beispiel die Dachneigung) und in der Verwendung von minderwertigem Reet, was zu erhöhter Feuchtigkeit führt; das minderwertige Reet kommt allerdings nicht unbedingt aus Südosteuropa allein nach Deutschland – auch Reetreste, die in den Niederlanden mangels Qualität keine Verwendung finden, werden nach Deutschland importiert.[8]
Zudem sind Reetdächer leicht entzündlich. Das Silvesterfeuerwerk, Blitzeinschläge und Funkenflug beim Grillen stellen eine besondere Gefahr für Reetdächer dar. Im Brandfalle sollte das Gebäude auf schnellstem Wege verlassen werden. Zudem verfügen reetgedeckte Häuser über Brandgiebel, die vor herunterfallenden Reet schützen.
Literatur
- Wolfram und Sabine Schwieder: Zukunftsprojekt Tradition. Immaterielles Kulturerbe in Deutschland. Nach der Konvention der UNESCO, München 2021, S. 25–29.
- Peter Thomas: Haus mit Strohhut. In: FAZ, 22. Juli 2016. online
- Rinus Spruit: Der Strom, der uns trägt. Eine Familiengeschichte. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. dtv, München 2011, ISBN 978-3-423-24864-8. (nl. Original: De rietdekker. Een familiegeschiedenis. Amsterdam 2009; Lebensgeschichte eines alten Reetdachdeckers aus der niederländischen Provinz Seeland.)
- Brigitta Seidel: Unterm Reetdach. Husum, 2007, ISBN 978-3-89876-327-1.
- Mila Schrader: Reet & Stroh als historisches Baumaterial. Edition Anderweit, 1998, ISBN 3-931824-09-8.
- Walter Schattke: Das Reetdach. Natürliches Wohnen unter sanftem Dach – von der Urzeit bis heute. Verlag Christians, Hamburg 1996, ISBN 3-7672-1140-8.
- Walter Schattke: Das Reetdach. Hinweise für richtige Bauausführung und zweckmäßige Behandlung der Weichbedachung. Verlag Schleswiger Druck- und Verlagshaus, 1981, ISBN 3-88242-060-X.
- Bernd Grützmacher: Reet- und Strohdächer. Alte Techniken wiederbelebt. Verlag Callwey, München 1981, ISBN 3-7667-0554-7.
- Johann Garleff: Wie ging in Schleswig-Holstein früher das Dachdecken mit Reet vor sich? In: Die Heimat. Zeitschrift für Natur- und Landeskunde von Schleswig-Holstein und Hamburg, Band 75, Nr. 7, Juli 1968, ISSN 0017-9701, S. 188–194, (uni-hamburg.de [abgerufen am 17. Dezember 2018]).
Dokumentationen
- Dörte Petsch: Vom Rohr zum Reetdach NDR – Wie geht das? vom 9. August 2017 (YouTube)
Weblinks
- Literatur von und über Reetdach im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Informationsseite der Reetdachdeckerinnungen
- Faule Dächer. Gammelndes Reet stellt Hausbesitzer vor große Probleme. Deutschlandradio, 9. Mai 2007
- Video: Reetdachdecken in Fintel. Institut für den Wissenschaftlichen Film (IWF) 1972, zur Verfügung gestellt von der Technischen Informationsbibliothek (TIB), doi:10.3203/IWF/E-1540.
- http://www.gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de/jportal/?quelle=jlink&query=BauO+SH&psml=bsshoprod.psml&max=true&aiz=true#jlr-BauOSH2009pP34
Einzelnachweise
- UNESCO-Eintrag, abgerufen am 19. Februar 2018.
- Reetdach: Ursprung & Geschichte der Reetdachdecker | Hiss Reet. Abgerufen am 12. Dezember 2018.
- Siehe auch die Seiten der Reetdachdeckerinnung Reetdachdeckung.de (Memento vom 3. Februar 2014 im Internet Archive)
- Andreas Sielaff: Reetdachdämmung – aber wie? Fachzeitschrift Der Holznagel, Nr. 5/2004, Seite 38–39.
- Robert Heinicke: Ein Reetdach wärmedämmen? Fachzeitschrift Holzbau Quadriga, Ausgabe 05/2016, Seiten 28–32.
- Robert Borsch Laaks: Kann Dämmung dichten? Fachzeitschrift Holzbau Quadriga, Ausgabe 05/2016, Seiten 22–26.
- Pressemitteilung der Kultusministerkonferenz.
- Dirk Asendorpf: Oben modert's. Die Zeit, 2. August 2007, abgerufen am 29. Oktober 2011.
- Reetdach–Fehlinformationen. 12. Januar 2010, abgerufen am 29. Oktober 2011.
- Aggressiver Pilz lässt Dächer verrotten. Süddeutsche Zeitung, 12. Januar 2009, abgerufen am 29. Oktober 2011.
- Killer-Pilz lässt die Reetdächer verrotten. Stader Tageblatt, 18. Januar 2007, archiviert vom am 7. Januar 2011; abgerufen am 29. Oktober 2011.
- Frieder Schauer: Warum verrotten Reetdächer vorzeitig? Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, 21. Dezember 2010, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 3. August 2011; abgerufen am 29. Oktober 2011.