Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst

Der Rechtsanwaltliche Bereitschaftsdienst[1] ermöglicht in Österreich den verlässlichen Zugang zu einer fachlich fundierten Strafverteidigung auch außerhalb von üblichen Bürozeiten, insbesondere am Abend und am Wochenende.

Beschuldigte eines Strafverfahrens haben gemäß § 49 Zif. 2 StPO das Recht, einen Verteidiger zu wählen. Der Rechtsanwaltliche Bereitschaftsdienst ermöglicht festgenommenen Beschuldigten, die zur sofortigen Vernehmung vorgeführt wurden (§ 153 Abs. 3 StPO), Kontakt mit einem Verteidiger aufzunehmen. Diese Möglichkeit besteht bereits vor der ersten Vernehmung durch die Polizei sowie auch nach Einlieferung in die Justizanstalt bis zur Entscheidung über die erstmalige Verhängung der Untersuchungshaft. Den Rechtsanwaltliche Bereitschaftsdienst in Anspruch nehmen können zudem Beschuldigte, die im Inland festgenommen wurden und deren Auslieferung oder Übergabe ins Ausland[2] begehrt wird oder die aufgrund eines von einer österreichischen Justizbehörde erlassenen Europäischen Haftbefehls festgenommen wurden.[3]

Entwicklung und Leistung

In Österreich haben erst seit der Strafprozessreform 2007 (wirksam zum 1. Jänner 2008) beschuldigte Personen das Recht, bei ihrer Vernehmung einen Verteidiger beizuziehen (§ 49 Zif. 2 iVm § 58 iVm § 164 StPO, Art 6 Abs. 3 lit. c) EMRK, Art 4 Abs. 7 PersFrG[4]).[5]

Auf Grundlage europäischer Vorgaben und Empfehlungen erfolgte die Umsetzung zur Gewährleistung eines verlässlichen Zugangs zu einer fachlich fundierten Strafverteidigung auch außerhalb von üblichen Bürozeiten durch den Rechtsanwaltlichen Journaldienst (nunmehr: Bereitschaftsdienst) und wurde ein gemeinsames Projekt des Bundesministeriums für Justiz (BMJ)[6] und des Österreichischen Rechtsanwaltskammertages (ÖRAK) aufgelegt und mit einer Vereinbarung im Frühjahr 2008 festgelegt, so dass festgenommenen Beschuldigten seither rund um die Uhr Hilfestellung durch einen Rechtsanwalt garantiert werden kann. Dazu wurde auch eine eigene Hotline-Nummer eingerichtet.[7]

Im Rahmen des Rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdiensts ist der erste Anruf und die erste telefonische Beratung kostenlos. Darüber hinausgehende Leistungen (z. B. persönliches Beratungsgespräch, gegebenenfalls den anwaltlichen Beistand bei einer Vernehmung sowie sonstige zu einer zweckentsprechenden Verteidigung erforderliche Handlungen) sind grundsätzlich kostenpflichtig und werden mit einem Stundensatz von Euro 120,-- zzgl. USt verrechnet.[8] Im Falle der Nichtbezahlung durch den Beschuldigten wird an den ÖRAK abgerechnet und die Forderung an das BMJ zediert.[9]

In Umsetzung der europäischen Richtlinie über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren (Richtlinie 2013/48/EU)[10] wurde der rechtsanwaltliche Bereitschaftsdienst durch das Strafprozessrechtsänderungsgesetz II 2016[11] erstmals auch gesetzlich in Österreich verankert.[12] Mit 1. Jänner 2017 wurde die Organisation des rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdiensts neu aufgestellt.

Teilnahme am Bereitschaftsdienst

In Österreich zugelassene und eingetragene Rechtsanwälte sind nicht verpflichtet am rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienst teilzunehmen. Im Jahr 2013 haben 530 Rechtsanwälte sich bereit erklärt, am Rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienst teilzunehmen (dies sind 9 % der insgesamt 5887 in Österreich zugelassenen Rechtsanwälten).[13] Österreichweit nehmen seit Anfang 2017 jeden Tag 18 eingeteilte Rechtsanwälte die bei der Hotline einlangenden Anrufe entgegen. Der Verteidigernotruf wurde seit 1. Jänner 2017 insgesamt 1206 Mal kontaktiert (Stand Oktober 2017). Im Vergleich zu den Vorjahren liegt eine Vervierfachung der Nachfrage vor.[14]

Rechtsanwälte, die sich freiwillig zur Teilnahme am Bereitschaftsdienst bereit erklären, melden sich bei der zuständigen Rechtsanwaltskammer. In Zusammenarbeit mit den neun Rechtsanwaltskammern erstellt der ÖRAK laufend aktualisierte Bereitschaftslisten. Aus diesen ist zu entnehmen, welche Rechtsanwälte in einem Bundesland über die Hotline kontaktiert werden können.[15]

Dauer der Bevollmächtigung im Rahmen des Bereitschaftsdienstes

Die Bevollmächtigung des Bereitschafts-Rechtsanwaltes, die im Rahmen des Rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienstes erteilte wurde, gilt mit der Einlieferung in eine Justizanstalt (Verhängung der Untersuchungs-, Auslieferungs- oder Übergabehaft) oder mit der Freilassung aus der Haft grundsätzlich als widerrufen.[16]

Einschränkung des Rechtes

Nach § 59 StPO ist es dem festgenommenen Beschuldigten zwar zu ermöglichen, Kontakt mit einem Verteidiger aufzunehmen und ihn zu bevollmächtigen. Nach § 59 Abs. 2 StPO darf der Kontakt mit dem Verteidiger „bis zur Einlieferung des Beschuldigten in die Justizanstalt auf das für die Erteilung der Vollmacht und eine allgemeine Rechtsauskunft notwendige Ausmaß beschränkt werden, soweit aufgrund besonderer Umstände eine sofortige Vernehmung oder andere unverzügliche Ermittlungen unbedingt notwendig erscheinen, um eine erhebliche Beeinträchtigung der Ermittlungen oder von Beweismitteln abzuwenden. In diesem Fall ist dem Beschuldigten sogleich oder innerhalb von 24 Stunden eine schriftliche Begründung der Kriminalpolizei für diese Beschränkung zuzustellen.“ (siehe auch § 102 StPO).[17]

Nimmt der Beschuldigte sein Recht, einen Verteidiger zu seiner Vernehmung beizuziehen in Anspruch, ist die Vernehmung gemäß § 164 Abs. 2 StPO „bis zum Eintreffen des Verteidigers aufzuschieben, es sei denn, dass damit eine unangemessene Verlängerung der Anhaltung verbunden wäre. Der Verteidiger darf sich an der Vernehmung selbst auf keine Weise beteiligen, jedoch nach deren Abschluss oder nach thematisch zusammenhängenden Abschnitten Fragen an den Beschuldigten richten und Erklärungen abgeben. Über die Beantwortung einzelner Fragen darf sich jedoch der Beschuldigte nicht mit dem Verteidiger beraten. Von der Beiziehung eines Verteidigers darf nur abgesehen werden, soweit dies aufgrund besonderer Umstände unbedingt erforderlich erscheint, um durch eine sofortige Vernehmung oder andere unverzügliche Ermittlungen eine erhebliche Gefahr für die Ermittlungen oder eine Beeinträchtigung von Beweismitteln abzuwenden. In diesem Fall ist dem Beschuldigten sogleich oder innerhalb von 24 Stunden eine Anordnung der Staatsanwaltschaft oder eine schriftliche Begründung der Kriminalpolizei für diese Beschränkung zuzustellen und nach Möglichkeit eine Ton- oder Bildaufnahme (§ 97 StPO) anzufertigen.“

Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall Soytemiz vs. Türkei (57837/09[18]) vom 27. November 2018 ist § 164 Abs. 2 der österreichischen StPO wohl als unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu betrachten. Der EGMR führte in dieser Entscheidung aus, dass das Recht auf Rechtsbeistand insbesondere die Anwesenheit eines Anwalts und auch die aktive Beratung während der gesamten Vernehmung umfasse. Nach der Rechtsprechung im Fall Ibrahim u. a. vs. Vereinigtes Königreich könne zwar beim Vorliegen zwingender Gründe eine Einschränkung des Rechts auf anwaltlichen Beistand bei Vernehmungen gerechtfertigt sein, dies darf jedoch die Fairness des Verfahrens insgesamt nicht beeinträchtigen, da sonst eine Verletzung von Art. 6 und 3 EMRK vorliegen könne.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Früher auch: Rechtsanwaltlicher Journaldienst, Anwaltlicher Journaldienst, Verteidiger-Service, Verteidigernotruf oder 24-Stunden-Journaldienst der österreichischen Rechtsanwälte. Umbenennung in Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst seit 1. Januar 2017, siehe § 59 Abs. 4 StPO idF BGBl. I Nr. 121/2016. In Deutschland als Strafverteidigernotdienst, in Liechtenstein als Anwaltlicher Journaldienst bzw. Pikettdienst bezeichnet.
  2. Nach dem Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz (ARHG), BGBl. Nr. 529/1979; oder der Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-JZG), BGBl. I Nr. 36/2004.
  3. §§ 29 Abs. 3 ARHG, 18 Abs. 2 EU-JZG, 30a Abs. 2 EU-JZG.
  4. § 4 Abs. 7 Bundesverfassungsgesetz vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit (BGBl. Nr. 684/1988): „Jeder Festgenommene hat das Recht, daß auf sein Verlangen ohne unnötigen Aufschub und nach seiner Wahl ein Angehöriger und ein Rechtsbeistand von der Festnahme verständigt werden“. Diese Möglichkeit hatte der Beschuldigten nach § 178 StPO (alt) bis 1. Jänner 2008 nicht. Nunmehr hat er das Recht, sich vor jeder Vernehmung inhaltlich mit seinem Verteidiger zu besprechen (EBRV 25 BlgNR 22. GP 83).
  5. Mit der Ausnahme, dass in der Praxis das Erscheinen des Strafverteidigers von der Polizei nicht abgewartet werden muss (siehe aber den Wortlaut in § 164 Abs. 1 StPO), sondern sofort nach dem Anruf und Beauftragung des Verteidigers mit der Vernehmung begonnen werden kann (Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom 19. Juni 2008 über die Einrichtung eines Rechtsanwaltlichen Journaldienstes, BMJ-L390.004/0008-II 3/2008). Gerade in der heutigen Zeit zählt die Gewissheit, als freier Bürger jederzeit einen Verteidiger konsultieren zu können, zu den Grundfesten des Rechtsstaates, hat der ÖRAK-Präsident Benn-Ibler die rechtsstaatliche Bedeutung des Projekts betont APA-OTS, 1. Juli 2008. In der Regierungsvorlage (EBRV 25 BlgNR 22. GP 210) war noch vorgesehen, dass die Vernehmung für einen angemessenen Zeitraum unterbrochen wird, sofern der Beschuldigte auf Kontakt mit seinem Verteidiger besteht. Dies wurde in der Strafprozessreform dann nicht umgesetzt.
  6. Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Inneres.
  7. Diese kostenlose Hotline wird vom Österreichischen Rechtsanwaltskammertag seit dem 1. Juli 2008 betrieben und ist täglich 24 Stunden erreichbar. Die Benützung des Telefons ist von der Polizei zu gestatten (EBRV 25 BlgNR 22. GP 210).
  8. Die erbrachten Leistungen werden in angefangenen Viertelstunden abgerechnet. Der pauschalierte Stundensatz versteht sich als Entschädigung für jegliches konkrete Einschreiten eines Verteidigers im Rahmen des rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienstes, z. B. für telefonische Beratungen und Zeiten der An- und Rückreise zu bzw. von Polizeidienststellen und anderen Örtlichkeiten.
  9. Die erbrachten Leistungen des Strafverteidigers werden in angefangenen Viertelstunden abgerechnet und umfassen z. B. das konkrete Einschreiten eines Verteidigers im Rahmen dieses rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienstes und die telefonische Beratungen, Antragstellung, die An- und Rückreise zur Polizeidienststellen und anderen Örtlichkeiten.
  10. Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs.
  11. Strafprozessrechtsänderungsgesetz II BGBl. I Nr. 121/2016
  12. § 59 Abs. 4 StPO: „Sofern der Beschuldigte in den in Abs. 1 genannten Fällen nicht einen frei gewählten Verteidiger (§ 58 Abs. 2) beizieht, so ist ihm bis zur Entscheidung über die Verhängung der Untersuchungshaft auf Verlangen die Kontaktaufnahme mit einem „Verteidiger in Bereitschaft“ zu ermöglichen, der sich zur Übernahme einer solchen Verteidigung bereit erklärt hat. […]“
  13. ÖRAK Tätigkeitsbericht 2014 (PDF)@1@2Vorlage:Toter Link/www.rechtsanwaelte.at (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Mai 2019. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis., S. 26.
  14. Siehe auch: Manfred Seeh, Schweigen bis der Anwalt kommt, Die Presse vom 16. November 2017; Ricardo Peyerl, Nicht ohne meinen Anwalt: 1200 mal, Kurier vom 15. November 2017; In Bereitschaft, Wiener Zeitung vom 16. November 2017.
  15. Zur Organisation des rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienstes siehe auch ÖRAK Tätigkeitsbericht 2017 (PDF; 5,1 MB) S. 39 f.
  16. Sicherheitsbericht 2009, Bericht über die Tätigkeit der Strafjustiz. Bundesministerium für Justiz, S. 149.
  17. Siehe hierzu auch die Entscheidung des EGMR in der Rs. Dudchenko v. Russia, Beschwerdenr. 37717/05. Demgemäß verletzen heimliche Abhörmaßnahmen des Gesprächs zwischen Anwalt und Mandant den Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses, wenn prozessuale Mindeststandards fehlen.
  18. Soytemiz v. Turkey. hudoc.echr.coe.int, EGMR-Entscheidung

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