Putinologie
Putinologie bezeichnet die Interpretation russischer Politik durch den Versuch, Wladimir Putins Psyche zu „entschlüsseln“ oder ihn mit einer Reihe psychischer Störungen zu „diagnostizieren“. Putinologie wird im Journalismus hauptsächlich in der Boulevard-Berichterstattung verwendet und unterscheidet sich von der traditionellen Kremlinologie.[1][2][3] Der Begriff tauchte erstmals Anfang der 2000er Jahre auf, nachdem einige Kommentatoren in den Medien erklärt hatten, dass Kremlinologie, also die Deutung von äußeren Zeichen eines ansonsten geschlossenes Systems, durch Putinologie ersetzt werden müsse.[1]
Obwohl die Praxis der Putinologie in englischsprachigen und zunehmend auch deutschsprachigen Leitmedien nach den russischen Präsidentschaftswahlen 2012, der Annexion der Krim 2014 und dem Beginn des russisch-ukrainischen Krieges zugenommen hat, wird sie unter Politikwissenschaftlern, insbesondere Realisten, weitgehend kritisiert, da sie komplexe politische Ereignisse zu stark vereinfache.[4][5][6][7]
Vorgehensweise
Putinologie befasst sich in der Regel mit einer Analyse von Putins Verhaltensweisen und Reden, mit dem Ziel, Rückschlüsse auf die russische Politik zu ziehen.[8]
Zum selben Zweck wird auch Videomaterial analysiert.[2] Im Jahr 2015 veröffentlichte USA Today ein von Brenda Connors verfasstes, zuvor als geheim eingestuftes Dokument des US-Verteidigungsministeriums, in dem sie bei Putin das Asperger-Syndrom feststellte und sich dabei in erster Linie auf Videomaterial von Putins Amtseinführung im Jahr 2000 und ein Interview mit dem Time-Magazin stützte.[9][10] Nach der Veröffentlichung durch USA Today distanzierte sich das Pentagon von dem Bericht, während ein Sprecher der russischen Regierung den Bericht als „Unsinn, der keinen Kommentar wert ist“ bezeichnete.[10] Connors, die keinen medizinischen oder klinischen Hintergrund hat, räumte später ein, dass ihre Diagnose nicht bestätigt werden könne.[10][11]
Putinologie wird vor allem in journalistischen Beiträgen praktiziert. Der französische Philosoph Michel Eltchaninoff veröffentlichte 2015 mit Dans la tête de Vladimir Poutine („Im Kopf des Wladimir Putin“) hingegen nicht eine Diagnose, sondern eine umfangreiche Analyse von Putins Zitaten.[2][12]
Kritik
Timothy Snyder bezeichnete Iwan Iljin als „faschistischen geopolitischen Denker“ und schlug vor, dass auf Putin die gleiche Bezeichnung anwendbar sei. Drozdova/Robinson interpretierten 2017 hinter der Aussage Snyders eine angeblich simple Logik Snyders im Sinne von „Iljin ist ein Faschist, Putin zitierte Iljin, also ist Putin ein Faschist.“ Ihr eigenes Paper käme dank „nuancierterer Schlüsse“ zum Fazit, dass Putin sich in seinen Aussagen als „relativ moderater Konservativer“ positioniere.[2] Wie Snyder habe auch Eltchaninoff schlicht nicht die exakten Worte Putins analysiert und Putins Zitate „komplett aus dem Zusammenhang gerissen“, so die Meinung von Drozdova/Robinson.[13]
Kritiker sehen Putinologie als eine analytische Sackgasse, die diplomatischen Bemühungen schweren Schaden zufügen könne, da sie dazu neige, alle Äußerungen der russischen Regierung oder Putins als Ergebnis einer geistigen Störung oder Irrationalität abzutun, was das Risiko eines Konflikts drastisch erhöhe.[1][14][15] John Mearsheimer und Richard Sakwa hatten den russischen Hybridkrieg in der Ukraine als Beispiel herangezogen und argumentierten, dass mit dieser „Augenbinde“ mehrere führende europäische und nordamerikanische Politiker von geopolitischen Überlegungen abgehalten würden und sicherheitspolitische Interessen des russischen Staates ignoriert würden, die „nicht nur Putin, [sondern] kein russischer Führer“ tolerieren würde.[16][14]
Auf eine Person fixiert führt Putinologie zwangsläufig zu Widersprüchen. So wurde Putin mal als risikofreudig, als vorsichtig, als Langzeitplaner, als Opportunist, als jemand, der in erster Linie nach persönlichem Reichtum trachte, als Nationalist, Kommunist, als Befürworter freier Märkte und mit weiteren Gegensätzen beschrieben.[17][18][19] Putinologie begünstigt förmlich einen Personenkult, da sie ein Narrativ des „starken Mannes“ Putin fördere.[17][18]
Die Leiterin der National Autistic Society hatte als Reaktion auf den Pentagon-Bericht von 2008, in dem Putin mit dem Asperger-Syndrom in Verbindung gebracht wurde, argumentiert, dass „diese Art von spekulativer Diagnose mit Risiken behaftet und nicht hilfreich ist“, da die Autorin des Berichts Putin nie getroffen und keine Gehirnscans von ihm gesehen hatte, was für eine Diagnose nötig ist.[1][11][20]
Siehe auch
Einzelnachweise
- Andrew Monaghan: The New Politics of Russia: Interpreting Change. Manchester University Press, Manchester, England 2016, ISBN 978-1-78499-763-2 (britisches Englisch).
- Oksana Drozdova, Paul Robinson: In Others’ Words: Quotations and Recontextualization in Putin’s Speeches. In: Russian Politics. Band 2, Nr. 2, 17. Juni 2017, ISSN 2451-8913, S. 227–253, doi:10.1163/2451-8921-00202005 (amerikanisches Englisch, brill.com [abgerufen am 2. Mai 2022]).
- Arnold Beichman: From Sovietology to Putinology. In: History News Network. 8. März 2004, abgerufen am 2. Mai 2022 (englisch): „In other words, Putinology should become an important area of academic concentration, as once was Sovietology“
- Richard Sakwa: Russia Against the Rest: The Post-Cold War Crisis of World Order. Cambridge University Press, Cambridge, England 2017, ISBN 978-1-316-67588-5 (amerikanisches Englisch).
- Timothy Frye: Weak Strongman: The Limits of Power in Putin's Russia. Princeton University Press, Princeton, NJ 2021, ISBN 978-0-691-21246-3 (amerikanisches Englisch).
- Mark Galeotti: We Need to Talk about Putin: Why the West Gets Him Wrong. Penguin Books, London, Vereinigtes Königreich 2019, ISBN 978-1-5291-0359-5.
- Gabriele Krone-Schmalz: Russland verstehen: Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens. C. H. Beck, München, Deutschland 2015, ISBN 3-406-67525-5.
- Siehe dazu Rede Wladimir Putins zur Annexion der Krim am 18. März 2014, Rede Wladimir Putins auf der Waldai-Konferenz in Sotschi 2014 und Rede Wladimir Putins auf der Waldai-Konferenz in Moskau 2022.
- Ray Locker: Pentagon 2008 study claims Putin has Asperger's syndrome. In: USA Today. 4. Februar 2015, abgerufen am 2. Mai 2022 (amerikanisches Englisch).
- Brandon Fletcher: Tropes of Dis/Ableism as Flexible Stigma. Hrsg.: Department of Communication Studies, California State University. Long Beach, CA 2017 (amerikanisches Englisch).
- Pete Etchells: The “Putin has Asperger’s” story highlights the stupidity of psychological diagnosis from a distance. In: The Guardian. 7. Februar 2015, abgerufen am 2. Mai 2022 (amerikanisches Englisch).
- Michel Eltchaninoff: Dans la tête de Vladimir Poutine. Actes Sud-Solin, Arles, Frankreich 2015, ISBN 978-2-330-03972-1 (französisch).
- Drozdova/Robinson: "... have paid little or no attention in their analyses to the exact words which Putin has quoted, nor to the speeches within which the quotations were placed, nor to the use which Putin made of them. The quotations are thus taken entirely out of their context."
- John Mearsheimer: Great Delusion: Liberal Dreams and International Realities. Yale University Press, New Haven, CT 2018, ISBN 978-0-300-24053-5 (amerikanisches Englisch).
- Joshua Cho: Depicting Putin as ‘Madman’ Eliminates Need for Diplomacy. In: FAIR.org. Fairness & Accuracy in Reporting, 30. März 2022, abgerufen am 2. Mai 2022 (amerikanisches Englisch).
- Richard Sakwa: Russia Against the Rest: The Post-Cold War Crisis of World Order. Cambridge University Press, Cambridge, England 2017, ISBN 978-1-316-67588-5 (amerikanisches Englisch).
- Timothy Frye: Weak Strongman: The Limits of Power in Putin's Russia. Princeton University Press, Princeton, NJ 2021, ISBN 978-0-691-21246-3 (amerikanisches Englisch).
- Mark Galeotti: We Need to Talk about Putin: Why the West Gets Him Wrong. Penguin Books, London, Vereinigtes Königreich 2019, ISBN 978-1-5291-0359-5.
- Keith Gessen: Killer, Kleptocrat, Genius, Spy: The Many Myths of Vladimir Putin. In: The Guardian. 22. Februar 2017, abgerufen am 2. Mai 2022 (britisches Englisch).
- Joachim Heilmann, Annelinde Eggert-Schmid Noerr, Ursula Pforr (Hrsg.): Neue Störungsbilder – Mythos oder Realität? Psychoanalytisch-pädagogische Diskussionen zu ADHS, Asperger-Autismus und anderen Diagnosen. Psychosozial-Verlag, Gießen, Deutschland 2015, ISBN 3-8379-2485-8.