Prager literaturwissenschaftlicher Strukturalismus

Der Prager literaturwissenschaftliche Strukturalismus gilt als wichtige literaturtheoretische Strömung, die seit den 1930er Jahren entscheidenden Einfluss auf die Herausbildung der Literaturwissenschaft als moderne Normalwissenschaft genommen hat.

In Abgrenzung gegenüber der positivistisch und kausal-genetisch geprägten philologischen Tradition sowie im Anschluss an den Russischen Formalismus, den er weiterzuentwickeln versuchte, traten die Repräsentanten des Prager literaturwissenschaftlichen Strukturalismus für eine strenge Verwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft ein, die man vor allem mittels systematischer Methodenreflexion und Theoriebildung zu erreichen können glaubte. Dabei übernahmen die mehrheitlich tschechischen Hauptvertreter dieser Richtung neben formalistischen Sichtweisen auch wesentliche Grundannahmen und Begriffe aus dem Werk des Genfer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure und versuchten, die damals neuartigen Erkenntnisse der strukturalen Linguistik der Prager Schule bzw. des Prager Linguistenkreises um den russischen Semiotiker Roman Jakobson und Nikolai Sergejewitsch Trubetzkoy auf literarische Phänomene wie etwa die Literaturgeschichte, die Poetik oder das System literarischer Gattungen zu übertragen.

Bis heute gilt der Prager literaturwissenschaftliche Strukturalismus als fester Bestandteil des literaturwissenschaftlichen Methodenkanons, wenngleich seine westliche Rezeption u. a. durch die Sprachbarriere zwischen dem Tschechischen und westeuropäischen Sprachen sowie später den Eisernen Vorhang so stark verzögert wurde, dass eine intensivere Beschäftigung etwa der Germanistik mit seinen Leitideen erst erfolgte, als das strukturalistische Paradigma insgesamt bereits erheblich an Bedeutung eingebüßt hatte und u. a. schon von neueren poststrukturalistischen, diskursanalytischen und systemtheoretischen Sichtweisen abgelöst worden war.

Grundlagen

Grundsätzlich gehen die Prager Strukturalisten, die vor allem im zweiten und dritten Viertel des 20. Jahrhunderts in Gestalt der tschechoslowakischen Literaturwissenschaftler Jan Mukařovský (1891–1975) und Felix Vodička (1909–1974) in Erscheinung traten, davon aus, dass literarische Werke nicht als unmittelbarer Ausdruck der frei schöpferischen und souveränen Autorenpsyche zu verstehen seien. Stattdessen behaupten sie, dass der Literaturbetrieb wesentlich von überindividuellen Produktionsbedingungen und strukturellen Zwängen geprägt ist und daher literarische Werke primär als soziale Fakten bzw. Tatsachen zu behandeln seien, nicht aber als Ausdruck schöpferischer Genies, wie es seit der Romantik meist üblich war.

Später dann erfolgte eine Annäherung an die hermeneutische Rezeptionsästhetik der sog. „Konstanzer Schule“ und damit ein Aufweichen des anfänglichen strikten Antipsychologismus vor allem bei Vodička.

Literaturgeschichtliche Konzeption und Strukturbegriff

Aufgrund der sozialen Bedingtheit literarischer Kreativität dürfe Literaturgeschichte, so die weitere Argumentation des Prager literaturwissenschaftlichen Strukturalismus, nicht länger als bloße Aneinanderreihung blumig formulierter Werkschauen nebst mehr oder minder hagiographischen Künstlerbiografien betrieben werden, sondern die traditionelle „Literaturgeschichte der Generale“, wie der russische Formalist Viktor Šklovskij es ausgedrückt hatte, müsse von einer soliden wissenschaftlichen Rekonstruktion der auch von inneren Widersprüchen und Konflikten gekennzeichneten dialektischen Entwicklung der literarischen Reihe insgesamt abgelöst werden. Dieser Konzeption liegt bei Mukařovský ein dynamischer Strukturbegriff zugrunde, mit dessen Hilfe die diachrone Ebene des literarischen Prozesses unter Berücksichtigung der ästhetischen Funktion der Sprache sowie ästhetischer wie außerästhetischer Normen und Werte eingefangen werden soll. Dabei setzte sich vor allem bei Mukařovský im Laufe der 1940er Jahre immer mehr die Einsicht durch, dass die Evolution der literarischen Reihe stets im Zusammenhang mit der Entwicklung anderer außerästhetischer Reihen zu betrachten sei. Diese holistische Sichtweise bringt den Prager literaturwissenschaftlichen Strukturalismus in große Nähe zur Literatursoziologie.

Literaturgeschichte und literarische Wertung

Zudem versuchte Mukařovský im Zuge seiner literaturhistorischen Konzeption des literarischen Prozesses als einer der ersten Literaturtheoretiker auch das Problem literarischer Wertung systematisch zu berücksichtigen, ohne dabei den sicheren Boden des wissenschaftlichen Objektivismus zu verlassen.

In diesem Zusammenhang unterscheidet er zwischen dem von den Rezipienten vor dem Hintergrund der gerade vorherrschenden literarischen Normen und Werte aufgerufenen aktuellen Wert eines Werkes zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung, dem wandelbaren allgemeinen Wert, der sich über längere Zeiträume hinweg auf der Basis einer Vielzahl von Beurteilungen seitens der Leserschaft verfestigt, sowie dem gewissermaßen apriorischen objektiven ästhetischen Wert eines Werkes, der lediglich potenziellen Charakter besitzt und dem Kunstwerk als Ding an sich schon vor dem eigentlichen Rezeptionsakt inhärent ist. Hinzu tritt noch der evolutionäre Stellenwert des betreffenden Werkes, womit dessen nachweisbare Fähigkeit gemeint ist, die Struktur des übergeordneten Systems der literarischen Werke im Zuge seiner Erstveröffentlichung zu erneuern und dessen Elemente nachhaltig umzugruppieren, sodass die literarische Reihe insgesamt eine mehr oder minder deutliche Kurskorrektur erkennen lässt. Für die Literaturgeschichtsschreibung ist vor allem dieser Wert von herausragender Bedeutung.

Semiotischer Werkbegriff

Aber auch auf dem Gebiet der immanenten Werkanalyse erbrachte der Prager literaturwissenschaftliche Strukturalismus im Anschluss an die strukturale Semiotik wesentliche Ergebnisse und machte sich dabei eine Übertragung der Sausurreschen Zeichentheorie und deren Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat auf den Werkbegriff zunutze. Dabei konzipierten die Prager das literarische Werk als komplexes Werk-Zeichen, das die Einheit der Differenz aus dem objektiv-materialen Artefakt und dem von einem Leser-Kollektiv wahrgenommenem ästhetischen Objekt darstellt, wobei das ästhetische Objekt als die von den Rezipienten konstituierte Seite des Werk-Zeichens als eigentliche Trägerin der Werk-Struktur gesehen wird. Diese auf der Interpretation des Artefaktes beruhende Werk-Struktur wird vom Prager literaturwissenschaftlichen Strukturalismus zum zentralen Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Analyse erhoben. Dabei wird nicht von einer inneren Harmonie des Werkes ausgegangen, sondern vielmehr von einer höchst dynamischen Dialektik aus internen Übereinstimmungen und Widersprüchen, die im Artefakt bereits fest angelegt sind und vom Rezipienten bzw. Leserkollektiv im Zuge des Leseaktes immer wieder aufs Neue vor dem Hintergrund gerade aktueller literarischer Normen und Werte decodiert werden müssen.

Beeinflussung durch den Stalinismus

Ähnlich wie der Russische Formalismus wurde auch der Prager literaturwissenschaftliche Strukturalismus nach dem kommunistischen Staatsstreich von 1948 in der damaligen Tschechoslowakei erheblich durch den einsetzenden Stalinismus in seiner freien Entfaltung eingeschränkt, ohne dass es allerdings zu einem völligen Abbruch des strukturalistischen Diskurses innerhalb der tschechoslowakischen Literaturwissenschaft kam. Offensichtlich wurde von den autoritären Kommunisten insbesondere auf Mukařovský erheblicher Druck ausgeübt, was sich auch an seiner zunehmenden Berücksichtigung materialistischer Theoreme erkennen lässt, die in dieser Form vor 1948 keine Rolle gespielt hatten. Diese Tatsachen sollten bei der Beurteilung der nach diesem Datum veröffentlichten Schriften der Mitglieder der Prager Schule eine angemessene Berücksichtigung finden.

Primärliteratur

  • Jan Mukařovský: Kapitel aus der Poetik. Suhrkamp, Frankfurt/M., 1967 [Orig. 1948].
  • Jan Mukařovský: Kapitel aus der Ästhetik. Suhrkamp, Frankfurt/M., 1970 [Orig. 1934–1942].
  • Jan Mukařovský: Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik. Ullstein, Frankfurt/M. 1977, ISBN 3-548-03311-3 [Orig. 1929–1948].
  • Jan Mukařovský: Kunst, Poetik, Semiotik. Suhrkamp, Frankfurt/M., 1989, ISBN 3-518-57840-5 [Orig. 1931–1968].
  • Felix Vodička: Die Struktur der literarischen Entwicklung („Struktura vývoje“, 1969). Fink, München 1976, ISBN 3-7705-0928-5 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste; Bd. 34).

Sekundärliteratur

  • Miroslav Červenka: Die Grundkategorien des Prager literaturwissenschaftlichen Strukturalismus. In: Viktor Žmegač, Zdenko Škreb: Zur Kritik literaturwissenschaftlicher Methodologie. Athenäum S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1973, S. 137–168, ISBN 3-8072-2026-7.
  • Hans Günther: Struktur als Prozeß. Studien zur Ästhetik und Literaturtheorie des tschechischen Strukturalismus. Wilhelm Fink, München 1973.
  • Miroslav Kačer: Der Prager Strukturalismus in der Ästhetik und Literaturwissenschaft. In: Die Welt der Slaven. Internationale Halbjahresschrift für Slavistik, Jg. 13 (1968), S. 64–86, ISSN 0043-2520.
  • Wolfgang F. Schwarz (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Jiří Holý und Milan Jankovič: Prager Schule – Kontinuität und Wandel. Arbeiten zur Literaturästhetik und Poetik der Narration. Frankfurt/M.: Vervuert, 1997 (Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprach- und Übersetzungswissenschaft; 1) ISBN 3-89354-261-2
  • René Wellek: Die Literaturtheorie und Ästhetik der Prager Schule. In: Ders. (Hrsg.): Grenzziehungen. Beiträge zur Literaturkritik („Discriminations“, 1971). Kohlhammer, Stuttgart 1972, S. 125–143, ISBN 3-17-0872311 (Sprache und Literatur; 75).

Siehe auch

Literatursoziologie, Literaturwissenschaft, Literaturtheorie, Strukturalismus, Slawistik, Germanistik

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