Paul Valéry

Ambroise Paul Toussaint Jules Valéry (* 30. Oktober 1871 in Sète, Département Hérault; † 20. Juli 1945 in Paris) war Lyriker, Philosoph und Essayist.

Paul Valéry
Das Grab von Paul Valéry auf dem Cimetière marin von Séte (Hérault).

Leben

Nach seiner Kindheit in der kleinen südfranzösischen Hafenstadt Sète als Sohn eines höheren Beamten verbrachte Valéry seine Jugendjahre in Montpellier und studierte dort auch Jura. Schon früh begann er Gedichte zu schreiben. 1894 ging er nach Paris, wo er André Gide und vor allem Stéphane Mallarmé kennenlernte, der ihm zum Vorbild wurde. 1896/97 arbeitete er bei einer Presseagentur in London. 1897 erhielt er eine Anstellung als Redakteur beim Kriegsministerium, wo er unter anderem eine längere Studie über die expandierende deutsche Wirtschaft anfertigte. Anschließend arbeitete er kurz bei der Nachrichtenagentur Agence Havas. In der Dreyfus-Affäre vertrat er im Gegensatz zu André Gide eine nationalistische Position und stellte sich auf die Seite der Anti-Dreyfusards. Dies ging so weit, dass er sich im Dezember 1898 zur Unterstützung der Witwe des Offiziers Hubert Henry, der Selbstmord begangen hatte, bereit erklärte, nachdem seine Fälschung eines Dokuments im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Alfred Dreyfus aufgeflogen war.[1] 1900 wurde er Privatsekretär bei einem Wirtschaftsmagnaten, bis er später von seinen Einkünften als freier Schriftsteller leben konnte. Im selben Jahr heiratete er Jeannie Gobillard, eine Nichte der Malerin Berthe Morisot. Aus dieser Ehe gingen die Kinder Claude, Agathe und François hervor.

Um 1920 galt Valéry als der größte französische Lyriker seiner Zeit und genoss hohes Ansehen auch im übrigen intellektuellen Europa. Im selben Jahr begann auch seine acht Jahre währende tiefe Freundschaft und intellektuelle Beziehung zur Dichterin Catherine Pozzi (1884–1934), deren Tagebücher darüber detailliert Zeugnis ablegen. 1923 wurde er zum Chevalier de la Légion d’honneur (d. h. Ritter der Ehrenlegion), 1931 zum Komtur und 1938 zum Großoffizier ernannt. 1925 wurde er in die Académie française aufgenommen, deren Präsident er zeitweilig war. 1937 wurde Valéry mit einer wohldotierten Professur für Poetik am Collège de France ausgezeichnet.

In der Zeit der Besetzung Frankreichs durch deutsche und italienische Truppen weigerte sich Valéry, mit den Besatzungsmächten zusammenzuarbeiten. Als er dann am 9. Januar 1941 in der Sorbonne eine Gedächtnisrede zu Ehren des jüdischen Philosophen Henri Bergson hielt, kostete ihn dieser Text seine Stellung als Direktor des Centre Universitaire Méditerranéen durch Erlass der Vichy-Regierung.

Nach Valérys Tod ordnete Charles de Gaulle ein Staatsbegräbnis an. Valéry wurde seinem Wunsch gemäß in seiner Geburtsstadt Sète auf dem Cimetière marin begraben, den er in einem Gedicht besungen hatte. In Sète befindet sich auch ein Valéry-Museum, das sein Andenken aktiv durch Ausstellung und Kolloquien pflegt.

Valéry war wohl der letzte Autor in Frankreich, der mit Lyrik seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Er hatte den Status eines "Dichterfürsten", der mit gut bezahlten Auftragsarbeiten von Verlagen und Zeitschriften bedacht und häufig zu Vorträgen und Lesungen eingeladen wurde. Nach ihm nahm die Bedeutung der ein ganzes Jahrhundert lang in Frankreich so erfolgreichen Lyrik deutlich ab.

Valéry war befreundet mit Rainer Maria Rilke, dem Literaturhistoriker und Schriftsteller Herbert Steiner sowie der Malerin Marie Elisabeth Wrede, die sein Porträt in einer repräsentativen Kaltnadelradierung festhielt.[2]

Schaffen

Das lyrische Werk

In seiner ersten und späten Lebenszeit verfasste Valéry vor allem Vers- und Prosagedichte. Mit diesen stand er anfangs den Symbolisten nahe. Später, nach einer längeren Schaffenskrise, strebte er eine „reine Poesie“ (poésie pure) an, die durch Verzicht auf Darstellung von Gefühlen oder äußeren Realitäten gedankliche Präzision und formale Vollendung zu vereinen versucht. Zum Symbol dieser hermetischen Dichtung wurden Narziss und das Gedicht La jeune Parque (Die junge Parze) 1917, das von Paul Celan ins Deutsche übersetzt wurde.

Weitere lyrische Hauptwerke sind L'Album de vers anciens (Album alter Verse) und die Gedichtsammlung Charmes (1922, dt. "Zauber" oder "Verzauberungen"), die 1925 von Rainer Maria Rilke ins Deutsche übertragen wurde. Letztere enthält unter anderem das berühmte Gedicht Le Cimetière marin (Der Friedhof am Meer, 1920), das den Friedhof seines Geburtsortes Sète beschreibt (auf dem später auch er begraben wurde) und das nicht nur in Frankreich eine Welle ähnlich umfangreicher Langgedichte auslöste.

Das Gedicht Le Cimetière marin wurde fünfmal, Les grenades bereits sechsmal ins Deutsche übersetzt.

Das philosophische Werk

Valéry verfasste zahlreiche Essays über politische, kulturelle, literaturtheoretische, -kritische und -geschichtliche sowie ästhetische und philosophische Themen. Er gilt als wichtiger französischer philosophischer Autor des 20. Jahrhunderts. Seine eigenwilligen Werke sind Variationen der Spannungen zwischen dem Wunsch nach Kontemplation und dem Willen zum Handeln: Er stellt den unendlichen Möglichkeiten des Intellekts die unvermeidlichen Unvollkommenheiten des Handelns gegenüber.[3] In seinen Essays über die von ihm idealisierte und radikal abstrahierte Figur Leonardo da Vinci (1894, 1919 und 1929), letztlich ein Gedankengeschöpf Valérys, in dessen Denken er sich zum Teil wiedererkennt, gelingen ihm tiefgründige Einsichten in das zweckfreie, frei fließende, aber präzise synthetisch-konstruktive Denken, die bildliche Vorstellungskraft, welche die Reichweite der Worte überschreitet, den intellektuellen und künstlerischen Produktionszwang und das Wesen phantastischer, den Erfahrungshorizont überschreitender oder sogar „fixer Ideen“,[4] also eines rigoros-hartnäckigen Denkens (frz. rigueur obstinée, ital. rigore ostinato),[5] das anders als das wissenschaftliche Denken zu Ergebnissen unbekannter Wahrscheinlichkeit führt. Mit dem Implex beschreibt Valéry das Veränderungspotential von Verhaltensweisen und anderem durch die Entlehnung des Neuen aus dem Alten.[6] Der Begriff wurde 2012 durch Barbara Kirchner und Dietmar Dath mit einer gleichnamigen Monographie rezipiert.[7]

Bekannt geworden ist neben den Leonardo-Essays und seiner Narziss-Rezeption vor allem die fiktive Figur Monsieur Teste (frz. tête für „Kopf“ und lat. testis für „Zeuge“), ein sich seines Intellekts bewusster Beobachter und Erfasser der Welt:[8] „Dummheit ist nicht meine Stärke.“[9] Deutsche Philosophen wie Karl Löwith, Th. W. Adorno, Walter Benjamin, Hans Blumenberg erkannten die Tragweite seines Denkens über das Denken.

Noch umfangreicher als seine zu Lebzeiten gedruckten philosophischen Schriften sind die postum veröffentlichten Cahiers (d. h. Hefte), in denen Valéry von 1894 bis 1945 ein Leben lang Tag für Tag Gedanken und erkenntnistheoretische Überlegungen notierte. Nachdem die erste Ausgabe Cahiers 1894–1914 (Gallimard, Paris 1987–2016) in 13 Bänden gedruckt worden ist, erscheint sie auch als E-Book. Die Fortsetzung der Edition bis zum letzten Cahier von 1945 ist vorgesehen.

Werke

  • Jürgen Schmidt-Radefeldt (Hrsg.): Werke. Suhrkamp, Frankfurt 1989 bis 1995
  1. Dichtung und Prosa. 1992 ISBN 3-458-16251-8 (Mitherausgeber: Karl Alfred Blüher)
  2. Dialoge und Theater. 1990 ISBN 3-458-14372-6
  3. Zur Literatur. 1989 ISBN 3-458-14373-4
  4. Zur Philosophie und Wissenschaft. 1989 ISBN 3-458-14374-2
  5. Zur Theorie der Dichtkunst und vermischte Gedanken. 1991 ISBN 3-458-14371-8
  6. Zur Ästhetik und Philosophie der Künste. 1995 ISBN 3-458-14387-4
  7. Zur Zeitgeschichte und Politik. 1995 ISBN 3-458-16730-7
  • Cahiers / Hefte. Auswahl in 6 Bänden (thematisch geordnet), Hgg. Hartmut Köhler, Jürgen Schmidt-Radefeldt für ein Übersetzerteam. S. Fischer, Frankfurt 1987–1993
    • "Ich grase meine Gehirnwiese ab." Paul Valéry und seine verborgenen "Cahiers". Ausgewählt und mit einem Essay versehen von Thomas Stölzel. Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, Frankfurt 2011 ISBN 978-3-8218-6242-2
  • Variété. (1.1924 – 4.1944)
  • La jeune parque. (1917)
  • Eupalinos ou l’architecte. (1921)
  • Charmes. (1922)
  • Monsieur Teste. (1926)
    • Monsieur Teste. 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt 2016 (Auszug aus Bd. 1 der Werke).
  • Mon Faust. (fragmentarisches Theaterstück)
  • Amphion. Mélodrame (Ballett-Oratorium). Musik (1929): Arthur Honegger. UA 1931
  • Sémiramis. Mélodrame (Ballett-Oratorium). Musik (1933/34): Arthur Honegger
  • Corona & Coronilla. Poèmes à Jean Voilier, Paris: Fallois 2008.

Literatur

  • Forschungen zu Paul Valéry / Recherches valéryennes (Thematisches Jahrbuch), Hgg. Karl Alfred Blüher, Jürgen Schmidt-Radefeldt. Universität Kiel 1988 ff. ISSN 0934-5337 Online
  • Denis Bertholet: Paul Valéry. Die Biografie. Übers. Bernd Schwibs, Achim Russer; Vorwort Jürgen Schmidt-Radefeldt. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-458-17524-7.
  • Maurice Blanchot: Valéry und Faust, in: Thomas Mann. Begegnungen mit dem Dämon. Hg., Übers. Marco Gutjahr, Turia + Kant, Wien 2017, ISBN 978-3-85132-839-4, S. 19–46
  • Karl Alfred Blüher: Strategie des Geistes. Paul Valérys Faust. Klostermann, Frankfurt am Main 1960
  • Hans Blumenberg: Sprachsituation und immanente Poetik. In: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Reclam, Stuttgart 1981, ISBN 3-15-007715-X
  • Claudia Burghardt: Paul Valérys Blick auf den modernen Menschen. Experiment einer neuen Philosophie. Franck & Thimme, Berlin 2013.
  • Michel Jarrety: Paul Valéry. Fayard, Paris 2008
  • Hartmut Köhler: Paul Valéry. Dichtung und Erkenntnis. Das lyrische Werk im Lichte der Tagebücher. Bouvier, Bonn 1976, ISBN 3-416-01301-8
  • Karin Krauthausen: Von Dingen, Resten und Findekünsten bei Paul Valéry. In: Friedrich Balke, Maria Muhle, Antonia von Schöning (Hrsg.): Die Wiederkehr der Dinge. Kadmos, Berlin 2011, ISBN 978-3-86599-146-1, S. 151–173
  • Huguette Laurenti: Valéry et le théatre. Gallimard, Paris 1973.
  • Karl Löwith: Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1971, ISBN 3-525-33305-6 (Digitalisat)
  • Benoît Peeters: Valéry. Tenter de vivre. Flammarion, Paris 2014, ISBN 978-2-08-125955-3
  • Catherine Pozzi: «Paul Valéry – Glück, Dämon, Verrückter» Tagebuch 1920–1928. Insel, Frankfurt am Main und Leipzig 1995.
  • Franz Rauhut: Paul Valéry. Geist und Mythos. Hueber, München 1930
  • Erich von Richthofen: Weiteres Quellenmaterial zu Valérys ‚Mon Faust‘. In: Deutsch-Französisches Institut Ludwigsburg (Hrsg.): Deutschland – Frankreich. Ludwigsburger Beiträge zum Problem der deutsch-französischen Beziehungen, Bd. 2 (= Veröffentlichungen des Deutsch-Französischen Instituts Ludwigsburg e. V. Band 2), Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1957, S. 206–209.
  • Judith Robinson-Valéry (Hrsg.): Funktionen des Geistes. Paul Valéry und die Wissenschaften. Campus, Frankfurt am Main 1993, ISBN 2-7351-0548-2
  • Jürgen Schmidt-Radefeldt: Paul Valéry, linguiste dans les "Cahiers". Klincksieck, Paris 1970
  • Jürgen Schmidt-Radefeldt (Hrsg.): Paul Valéry. Philosophie der Politik, Wissenschaft und Kultur. Stauffenburg, Tübingen 1999, ISBN 3-86057-079-X
  • Rolf Strube: Von der Musik der Ideen. Paul Valéry – Dichter, Philosoph, Europäer. Sinn und Form, 3, 2011, S. 403–413 Leseprobe
  • Ralph-Rainer Wuthenow: Paul Valéry zur Einführung. Edition Junius, Hamburg 1997, ISBN 3-88506-959-8
  • Zeitschrift für Kulturphilosophie. 1, 2012, Schwerpunkt Valéry. Beiträge von Jean Starobinski, Jean Michel Rey, Karin Krauthausen, Jürgen Schmidt-Radefeldt, Gérard Raulet und Gerhard Gamm. Meiner, Hamburg 2012 ISSN 0939-5512
Commons: Paul Valéry – Album mit Bildern

Einzelnachweise

  1. De la pertinente impertinence des intellectuels, Peter Fröhlicher in: Actes Sémiotiques 2013, Nr. 116
  2. Portrait-Sammlung im Nörvenicher Museum Europäischer Kunst, 30. Mai 2014.
  3. Robert Donald Davidson Gibson: Paul Valéry. Encyclopædia Britannica, 26. Oktober 2018.
  4. Ein Vorwurf Michelangelos und der Titel einer anderen Arbeit von Paul Valery: Die fixe Idee oder zwei Männer im Schnee. Bibliothek Suhrkamp 155. Frankfurt 1965.
  5. Glenn S. Burne: An Approach to Valéry's Leonardo. In: The French Review. Vol. 34, No. 1 (1960), S. 26–34.
  6. Berkay Ustun: Paul Valéry’s implex, or that by which we remain contingent, conditional. In: Neohelicon. Band 46, Nr. 2, Dezember 2019, ISSN 0324-4652, S. 623–644, doi:10.1007/s11059-019-00488-z (springer.com [abgerufen am 30. September 2021]).
  7. Dietmar Dath, Barbara Kirchner: Der Implex sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee. 1. Auflage. Berlin 2012, ISBN 978-3-518-42264-9.
  8. Die Nacht von Genua am Ende der Kunst. In: FAZ. 25. August 2010, S. N3.
  9. So lautet der erste Satz seines Herr Teste. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1965, S. 15.
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