Stufenrakete
Eine Stufenrakete oder Mehrstufenrakete besteht aus mehreren, oft übereinander montierten Raketenstufen abnehmender Größe, bei denen leere Treibstofftanks und nicht mehr benötigte Triebwerke abgeworfen werden, damit diese nicht zusammen mit der Nutzlast weiter beschleunigt werden müssen. Auf diese Weise werden höhere Geschwindigkeiten und somit höhere Umlaufbahnen erreicht als mit einstufigen Raketen. Alle zum Erreichen von Erdumlaufbahnen eingesetzten Raketen waren und sind mehrstufig.
Geschichte
Erste Beschreibungen und Abbildungen von Mehrstufenraketen tauchten im 14. Jahrhundert im Huo Lung Ching, einem chinesischen Handbuch über Feuerwaffen, auf. Der österreichische Militärtechniker Conrad Haas beschrieb zwischen 1529 und 1556 in seinem Kunstbuch (erst 1961 aufgefunden) eine Vielzahl von Raketentypen, darunter die Mehrstufenrakete. Der polnische Artillerieoffizier Casimir Simienowicz beschrieb 1650 dreistufige Raketen. Der russische Lehrer und Autodidakt Konstantin Ziolkowski stellte das Mehrstufenprinzip mit seiner Raketengrundgleichung auf eine wissenschaftliche Grundlage. Diese besagt, dass die Endgeschwindigkeit einer einstufigen Rakete im schwerefreien Raum nur von der Ausströmgeschwindigkeit der Triebwerksgase und dem Verhältnis von Startmasse zur Endmasse (Startmasse - Treibstoff) abhängt.
Unter der Bezeichnung A9/A10 wurde von deutschen Ingenieuren während des Zweiten Weltkriegs auf der Basis der Rakete A4 die Entwicklung einer Mehrstufenrakete begonnen, aber nicht mehr abgeschlossen. Die Entwicklung mehrstufiger Großraketen wurde insbesondere für die militärische Nutzung in den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion ab den späten 1940er Jahren vorangetrieben. Dabei wurden verschiedene Konfigurationen untersucht, wovon heute die gestapelten Raketen und die Raketen mit Boostern eingesetzt werden.
Bezeichnung
Einfachste Raketen bestehen nur aus einer Stufe mit einem Motor. Bei gestapelten Raketen werden die Stufen übereinander angeordnet und nacheinander gezündet. Theoretisch ließe sich dieses Verfahren beliebig häufig wiederholen, bei mehr als vier Stufen ist der Aufwand für die Motoren aber i. d. R. größer als der Massegewinn. Werden Stufen gleichzeitig gezündet, brennen aber unterschiedlich lange, zählt man sie häufig als halbe Stufen. Wird dieses Prinzip beim Start verwendet, spricht man von Boostern. Beispielsweise ist Ariane 5 eine 2,5-stufige Rakete: Sie sprengt ihre Booster ab, bevor die erste Stufe ausgebrannt ist. Die zweite Stufe trägt eine Nutzlast, die häufig über einen eigenen Motor verfügt. Eigentlich handelt es sich um eine dritte Stufe, die aber bei Trägerraketen häufig nicht mitgezählt wird. Ebenfalls nicht mitgezählt wird der Antrieb der eigentlichen Nutzlast zum Erreichen der geplanten Bahn, weil diese nicht Bestandteil der Trägerrakete ist.
Stufentrennung
Die technische Umsetzung ist anspruchsvoll und verlangt ein genaues Timing. Insbesondere muss die bis dahin mechanisch hoch belastete Verbindung der Stufen mechanisch getrennt werden. Häufig geschieht dies pyrotechnisch, zum Beispiel durch Pyrobolzen oder Schneidladungen, manchmal auch mittels Spannbandsystemen oder pneumatisch. Danach muss unbedingt eine Kollision vermieden werden. Wenn die abzutrennende Stufe noch einen Restschub aufweist, können kleine Hilfstriebwerke an der oberen Stufe eingesetzt werden, die diese von der Unterstufe wegziehen und damit bei Flüssigkeitsraketen auch eine definierte Lage der Treibstoffe bewirken (vgl. Ullage). Schließlich muss die korrekte Zündsequenz der Oberstufe durchlaufen werden.
Ein Beispiel für eine fehlgeschlagene Trennung ist der bemannte Flug Sojus MS-10 von Oktober 2018.[1] Bei der Sojus wird zur Abtrennung der Erststufenbooster unter anderem der restliche Sauerstoff aus deren Tanks genutzt; das Gas strömt am oberen Ende der Booster aus und erzeugt einen Rückstoß. Bei einem der Booster öffnete sich das Sauerstoffventil nicht, woraufhin er mit der Zweitstufe kollidierte und deren Treibstofftank beschädigte. Das Raumschiff mit den beiden Besatzungsmitgliedern wurde automatisch mittels Rettungstriebwerken in Sicherheit gebracht.[2]
Wenn die Triebwerke der nachfolgenden Stufe bereits kurz vor der Stufentrennung zünden, spricht man von Hot Staging (heiße Stufentrennung). Dadurch wird vermieden, dass die Rakete während eines antriebslosen Flugs zwischen der Brennphase beider Stufen an Geschwindigkeit verliert; die Transportleistung der Rakete wird vergrößert.[3] Bei Raketen mit Flüssigtreibstoff kann Hot Staging zusätzlich genutzt werden, um die Konstruktion der jeweils oberen Stufe zu vereinfachen. Wenn die obere Stufe noch vor dem vollständigen Abschalten der darunterliegenden Stufe startet, wird ihr Treibstoff ununterbrochen in Richtung der Triebwerke gepresst. Dies erspart Hilfstriebwerke, Vorlauftanks oder andere Mittel, die bei Raketen mit konventioneller Stufentrennung verhindern, dass Treibstoff während der antriebs- und schwerelosen Trennungsphase in den Tanks schwappt. Letzteres könnte zu Instabilität im Flug und zu Schwierigkeiten beim Zünden der Triebwerke führen.[4]
Hot Staging wird beispielsweise bei der russischen Sojus-Rakete, beim US-amerikanischen Starship[5] und bei allen Raketen der indischen Raumfahrtbehörde genutzt.
Situation heute
Die Saturn V, die Startrakete der Apollo-Mondmissionen, bestand aus drei Raketenstufen. Auch die meisten der heutzutage in der Raumfahrt eingesetzten Stufenraketen besitzen drei Stufen, es gibt aber auch zwei-, vierstufige Systeme. Das indische PSLV besitzt sogar fünf Stufen, wenn man dessen Booster als eigenständige Stufe mitzählt. Die letzte Stufe wird manchmal auch als Kickstufe oder Kickmotor bezeichnet, da diese den Satelliten aus der aktuellen Erdumlaufbahn in eine höhere oder interplanetare Bahn kickt.
Manche Raketen können mit verschiedenen Oberstufen ausgestattet werden. Dann besitzt meistens die Oberstufe und die Unterstufen jeweils ihr eigenes Steuerungssystem (Systeme von Kreiseln und anderen Sensoren). Andere Raketen wie die Ariane haben grundsätzlich nur ein Steuerungssystem, das an der obersten Stufe sitzt, und alle Stufen steuert (auch bei Versionen mit verschiedenen Oberstufen wie Ariane 5 GS und Ariane 5 ECA). Die Oberstufe wird meist durch kleine Sprengladungen von ihrer Unterstufe abgetrennt, bevor sie zündet.
Die Endgeschwindigkeit setzt sich aus den von jeder Stufe einzeln erreichten Geschwindigkeiten zusammen, wenn man von der negativen Beschleunigung durch das Erdschwerefeld absieht:
wobei c1 die Ausströmgeschwindigkeit der Gase aus dem Triebwerk der ersten Stufe ist (einige km pro Sekunde), und ln m für den Logarithmus des jeweiligen Massenverhältnisses von Startgewicht zu Leergewicht steht. Dabei ist zu beachten, dass m1 als Leergewicht auch die zweite und dritte Stufe zu tragen hat usw., jedoch m3 nur mehr die Nutzlast – den bzw. die Satelliten.
Das Leergewicht wird nicht nur von der Raketenhülle bestimmt (die aus Gründen der Stabilität nicht zu dünn sein darf), sondern auch von der Lavaldüse und den Treibstoff-Pumpen und Hilfsaggregaten. Bei günstig gebauten Raketen liegt das Massenverhältnis über 5, sodass Triebwerke mit Düsengeschwindigkeiten um c = 3 km/s etwa 5 km/s erreichen (3 km/s · ln 5 = 4,8 km/s). De facto verringert aber die Schwerkraft die Geschwindigkeit der unteren Raketenstufen deutlich (je nach Anfangbeschleunigung typisch um etwa 1 bis 2 km/s bei drei Minuten Brenndauer), was bei der Systemauslegung berücksichtigt werden muss.
Verbesserungsmöglichkeiten
Eine Effizienzsteigerung von Flüssigtreibstoffraketen mit Boostern könnte erreicht werden, indem das beziehungsweise die Triebwerke der untersten Raketenstufe auch mit den Treibstofftanks der Booster verbunden würden. Wenn sowohl die Boostertriebwerke als auch die der untersten Raketenstufe vom Start an ihren Treibstoff aus den Tanks der Booster beziehen, würden Letztere schneller geleert und die Booster könnten früher abgeworfen werden. Erst danach würde die unterste Raketenstufe den Treibstoff aus ihren eigenen Tanks verbrennen. Dies würde den Gravitationsverlust verringern.
Ein solcher propellant crossfeed war anfangs für die Falcon Heavy von SpaceX geplant, wurde jedoch nicht realisiert.[6][7]
Literatur
- Ernst Grimsehl: Grimsehl Lehrbuch der Physik. Band 1, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, Wiesbaden 1991, ISBN 978-3-663-05733-8.
- Helmuth Hausen, Rudolf Plank: Handbuch der Kältetechnik. Achter Band, Erzeugung Sehr Tiefer Temperaturen, Springer Verlag Berlin Heidelberg GmbH, Berlin Heidelberg 1957.
- Josef Stemmer: Raketenantriebe. Schweizer Druck- und Verlagshaus AG, Zürich.
- Kapitel 2.5 Ein- und mehrstufige chemische Trägerraketen. In: Ernst Messerschmid, Stefanos Fasoulas: Raumfahrtsysteme. Springer Verlag Berlin Heidelberg, 5. Auflage, Berlin Heidelberg 2017, ISBN 978-3-662-49637-4.
- Kapitel 3 Rocket Staging. In: Ulrich Walter: Astronautics: The Physics of Space Flight, Springer, 3. Auflage, 2018, ISBN 978-3-319-74372-1.
- Kapitel 3.2 Stufentechnologien. In: W. Ley, K. Wittmann, W. Hallmann (Hrsg.): Handbuch der Raumfahrttechnik, Hanser, 4. Auflage, München 2011, ISBN 978-3-446-42406-7.
Weblinks
- Fhio/v Propulsion System Requirements for an Interstellar Probe (abgerufen am 26. Mai 2016)
Einzelnachweise
- Stephen Clark: Live coverage: Soyuz crew safe after emergency landing – Spaceflight Now. Abgerufen am 5. Mai 2022 (amerikanisches Englisch).
- Anatoly Zak: Soyuz MS-10 makes emergency landing after a launch failure. In: Russian Space Web. Oktober 2018, abgerufen am 15. August 2019.
- George P. Sutton, Oscar Biblarz: Rocket Propulsion Elements. John Wiley & Sons, 2011, S. 167 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- James Anderton: SpaceX Starship Test Flight Explodes, But Hot Staging Worked. November 2023, abgerufen am 11. Dezember 2023.
- SpaceX Starship megarocket launches on 2nd-ever test flight, explodes in 'rapid unscheduled disassembly'. Space.com, 18. November 2023.
- John K. Strickland, Jr.: The SpaceX Falcon Heavy Booster: Why Is It Important? National Space Society, September 2011, abgerufen am 25. August 2019.
- Twitter-Nachricht von Elon Musk, 1. Mai 2016.