Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft

Die Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft (1850–1923) war ein Stellmacherbetrieb in Nesselsdorf (heute Kopřivnice) in Mähren (damals Österreich, ab 1918 Tschechoslowakei). Dort wurden anfangs Kutschen, später auch Eisenbahnwaggons und Automobile hergestellt. Seit 1923 produziert dort der Nachfolger Tatra.

Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft
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Rechtsform
Gründung 1850 (als Kutschenfabrik Ignaz Schustala & Comp.)
Auflösung 1923
Auflösungsgrund Fusion mit der Ringhoffer AG zur Ringhoffer-Tatra AG
Sitz Nesseldorf, Österreich (ab Ende 1918 Tschechoslowakei)
Leitung
  • Adolf Raschka d. Ä.
Mitarbeiterzahl 5.650 (1914)
Branche Stellmacherbetrieb, Automobilhersteller, Schienenfahrzeughersteller
Gedenktafel für Ignác Šustala in Kopřivnice

Geschichte

Gegründet wurde der Betrieb im Jahre 1850 von Ignaz Schustala d. Ä. (tschechisch Ignác Šustala) (1822–1891) und Adolf Raschka d. Ä. als Kutschenfabrik Ignaz Schustala & Comp.[1] Zunächst wurden Wagen und Kutschen produziert, z. B. der nach der nächsten Kreisstadt Neutitschein benannte Neutitscheinka.

Das Unternehmen Schustala wurde mit einem k. k. Privileg ausgestattet. Bereits ab 1856 gab es Verkaufsstellen der Firma in Lemberg, Ratibor, Breslau, Wien, Prag, Berlin, Czernowitz und Kiew. Seit 1882 wurden auch Eisenbahnwagen hergestellt. Inzwischen hatte Ignazs Sohn Adolf Schustala die Werksleitung übernommen. 1890 kam der Eisenbahningenieur Hugo Fischer von Röslerstamm als Leiter des Waggonbaus in die Firma und der Betrieb wurde in eine Aktiengesellschaft namens Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft umgewandelt (Gründungskapital: 2 Mio. Kronen). 1891 starb Ignaz Schustala und vier Jahre später schied auch Adolf Schustala aus dem Unternehmen aus und verkaufte, ebenso wie seine Brüder Ignaz jun. und Josef, seinen Aktienbesitz.

Die Fabrik im Jahr 1910

Als 1897/1898 das erste Automobil der Marke auf den Markt kam, war keiner der Gründerfamilie mehr an der Firma beteiligt. Dieses Fahrzeug, der „Nesselsdorfer Präsident“[2], entstand nach dem Vorbild der ersten Benz-Motorwagen und hatte eine Karosserie, die an die Nesselsdorfer Kalesche „Mylord“ angelehnt war. Es war, abgesehen vom Wagen des Siegfried Marcus – ein Prototyp aus dem Jahr 1888 (oder später) – das erste Automobil Österreich-Ungarns. An seiner Konstruktion war – neben den Ingenieuren Edmund Rumpler und Karl Sage und dem Obermeister Leopold Sviták – auch Hans Ledwinka beteiligt. Auf der „Collectivausstellung österreichischer Automobilbauer“ – im Rahmen der Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumsausstellung von 1898 – wurde der Präsident zusammen mit dem Egger-Lohner Elektromobil, dem 6 HP Lohner-Wagen und eben dem Marcus-Wagen, den man damals bereits als historisches Fahrzeug ansah, einer breiten Öffentlichkeit präsentiert. Nach Ende der Ausstellung blieb das Fahrzeug in Wien und diente dem ÖAC als Fahrschulfahrzeug. Seit 1919 steht es im Technischen Nationalmuseum in Prag.

1898 folgte der erste Lastwagen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg gab es 5.300 Arbeiter und 350 Angestellte in der Nesselsdorfer Firma, die im Krieg auch der Kriegsindustrie diente. Mit zwei Modellen des Nesseldorf T für Kaiser Karl I. wurde das Unternehmen k.u.k Hoflieferant.

Die veränderte politische Situation in der 1918 entstandenen Tschechoslowakei erschwerte das Eisenbahngeschäft der Nesselsdorfer Wagenbau AG, die sich nun „Kopřivnická vozovka as“ nannte. Das Unternehmen schloss sich 1923 mit dem Konkurrenten Ringhoffer AG in Prag-Smíchov unter Hans Ringhoffer zusammen. Die neue Gesellschaft hieß „Ringhoffer-Tatra AG“ nach der slowakischen Hohen Tatra. Hans Ledwinka war nach mehreren Zwischenspielen bei anderen Automobilfabriken in Nesselsdorf als Chefkonstrukteur tätig und entwarf den ersten Wagen der, im Unterschied zur Prager Zentralverwaltung, nun „Tatra-Werke“ genannten Fabrik.

Schienenfahrzeuge

Neben Straßenfahrzeugen stellte das Unternehmen alle Arten von Eisenbahn- und Straßenbahnwagen in größeren Stückzahlen her. So beispielsweise um 1900 insgesamt 162 Exemplare der Wiener Dampfstadtbahnwagen, später auch Fahrzeuge für die Straßenbahn Wien.[3][4][5] Zu den Kunden zählten in- wie ausländische Bahngesellschaften wie die k.k. österreichischen Staatsbahnen, die Kaiser Ferdinands-Nordbahn, die Bulgarischen Staatsbahnen, die Chemins de Fer Orienteaux oder sogar die südamerikanische Central do Brasil. Auch die mährisch-schlesischen Lokalbahnen wie die Schlesischen Landeseisenbahnen und die Lokalbahn Mährisch Ostrau-Karwin deckten ihren Fahrzeugbedarf in Nesselsdorf. Für die Compagnie Internationale des Wagons-Lits wurden mehrere Teakholzwagen gebaut. Prunkstücke waren luxuriöse Salonwagen für Staats- und Privatbahnen sowie betuchte Privatpersonen, wie der Salonwagen LI für Nathaniel Freiherr von Rothschild (1906).[6][7]

Auf der Südtiroler Rittner Bahn fährt noch heute der 1910 für die Lokalbahn Dermulo–Mendel gebaute Triebwagen Alioth 105.

Automodelle

Zeitleiste

Zeitleiste der Tatra- und Nesselsdorf-Modelle (1897–1952)
Typ Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft Tatra a.s.
1890er 1900er 1910er 1920er 1930er 1940er 1950er
6789 012345 6 789 0123456789 0123456789 0123456789 0123456789 012
Kleinwagen 11 12
57 / 57 A / 57 B
Mittelklasse T 20 30 54 97 107 600
D S4 30/52 52
C L 75
Oberklasse Präsident A B E F J30 S6 U 10 17 31 70 / 70A 87
J40 77 / 77A
80
Geländewagen 57 K
V 750 V 799 V 809
82 / 92 / 93
Kleintransporter 49
26/30 / 26/52 72
13
43
LKW K 25 114/115
M TL2 23 27 / 28 128
R TL4 24 22 85
81 111 ...
Omnibus O SO TO 86 400 ...
  • Modell von Nesselsdorf
  • PKW-Modelle

    Nesselsdorfer Präsident (1897)
    Nesselsdorf T als „Militärauto“ Kaiser Karls I. (1917)
    TypBauzeitraum
    Präsident 1897
    Präsident II 1899
    Typ A Vierer 1900
    Typ A Vierer II 1900
    Typ Rennwagen 1900
    Typ Elektromobil 1900
    Typ A Modell 1901 1900–1901
    Typ Neuer Vierer 1901–1902
    Typ Zweier 1901–1902
    Typ B 1902–1904
    Typ C 1902–1905
    Typ D 1902–1905
    Typ E 1904–1906
    Typ F 1906
    Typ J 30 1906
    Typ L 1906–1911
    Typ S 4 16/20 PS 1906–1911
    Typ J 40 1907–1908, 1910–1911
    Typ S 4 20/30 PS 1910–1916
    Typ S 6 40/50 PS 1910–1914
    Typ T 1914–1925
    Typ U 1914–1925

    LKW-Modelle und Omnibusse

    Nesselsdorf L
    TypBauzeitraum
    erster LKW Prototyp 1898
    zweiter LKW Prototyp 1909
    Typ k 1909–1911
    Typ M 1909–1911
    Typ R 1908
    Typ O 1907–1909
    Typ SO 1910–1914
    Typ TO 1920–1928
    Typ T14/40 Prototyp 1914
    Typ TL2 1915–1924
    Typ TL4 1916–1924

    Siehe auch

    Literatur

    • Wolfgang Schmarbeck: Tatra – Die Geschichte der Tatra-Automobile. Verlag des Internationalen Auto- und Motorrad-Museums Deutschland, Bad Oeynhausen (1977)
    • Wolfgang Schmarbeck: Hans Ledwinka: Seine Autos – Sein Leben. Weishaupt, Graz (1997)
    • Ivan Margolius & John G Henry: Tatra – The Legacy of Hans Ledwinka. Veloce, Dorchester (2015)
    • Hans Seper: Die k. k. priv. Wagenfabrik Ignaz Schustala & Co. – Ihr Werdegang zur Automobilfabrik. 65 Jahre erstes Nesselsdorfer Automobil. In: Blätter für Technikgeschichte 23. Heft. Wien 1961
    • Jiří Tichánek: Kočáry Schustala – Kopřivnice (Kutschen Schustala – Nesselsdorf). Butterfly, Opava 2000, ISBN 80-238-5705-3.
    Commons: Nesselsdorf Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

    Einzelnachweise

    1. J. Mentschl: Schustala, Ignaz d. Ä.. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 (ÖBL). Band 11, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1999, ISBN 3-7001-2803-7, S. 382 f. (Direktlinks auf S. 382, S. 383).
    2. Wolfgang Schmarbeck: Hans Ledwinka: Seine Autos – Sein Leben. H. Weishaupt Verlag, Graz 1997, ISBN 3-900310-56-4, S. 14.
    3. Alfred Horn: Wiener Stadtbahn. 90 Jahre Stadtbahn, 10 Jahre U-Bahn. Bohmann-Verlag, Wien 1988, ISBN 3-7002-0678-X, S. 88–116.
    4. Straßenbahn-Typenbeschreibungen auf vef.at, abgerufen am 21. März 2020.
    5. Omnia: Locomotives a essence. 6. Juli 1907, S. 302, abgerufen am 7. Januar 2023 (französisch).
    6. Vozy salonní a společenské. Abgerufen am 21. März 2023.
    7. Digitales Archiv des Landesarchivs in Opava. Abgerufen am 21. März 2023.
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