Polymorphie (Stoffeigenschaft)
Als Polymorphie (griechisch polymorphia ‚Vielgestaltigkeit‘) wird das Phänomen bezeichnet, dass ein chemisches Element, eine chemische Verbindung oder ein Mineral in mehreren Kristallformen (Modifikationen) auftritt. Bei nur zwei Modifikationen wird das Phänomen auch als Dimorphie bezeichnet. Die Bezeichnung wurde 1821 von Eilhard Mitscherlich geprägt.[1]
Polymorphe Substanzen haben die gleiche chemische Zusammensetzung (Stöchiometrie), unterscheiden sich aber in der räumlichen Anordnung der Atome und haben unterschiedliche Eigenschaften. Die Bildung verschiedener Modifikationen einer Substanz kann durch Einflüsse wie Druck und/oder Temperatur hervorgerufen werden (Solvothermalsynthese). Modifikationen kristalliner Substanzen unterscheiden sich in ihrer Kristallstruktur.
Bei Vorkommen ein und desselben Elements in verschiedenen Zustandsformen spricht man dagegen von Allotropie.
Eine besondere Form der Polymorphie ist die Polytypie, welche bei chemischen Verbindungen auftritt, die in Schichtgittern kristallisieren, wie Siliciumcarbid oder Siliciumnitrid.
Der Begriff Polymorphie spielt heute nicht nur in der Mineralogie und Chemie, sondern auch in den Werkstoffwissenschaften eine Rolle.
Auch manche organische Moleküle wie Arzneistoffe, Pigmente, Fette oder Sprengstoffe können im kristallinen Zustand polymorph sein.[2] Die Modifikationen unterscheiden sich dann in der unterschiedlichen Packung der Moleküle im Kristall und damit in der Regel in den Raumgruppen und Gitterparametern.
In vielen Fällen unterscheiden sich die Modifikationen bereits durch ihr äußeres Erscheinungsbild. Auf atomarer Ebene enthüllt die Kristallstrukturanalyse die Unterschiede im Aufbau der untersuchten Substanzen.
Beispiele
- Elemente
- Kohlenstoff tritt in den Modifikationen Graphit und Diamant (natürliche Vorkommen als Minerale) sowie Fullerene, Graphen und Cyclo[18]carbon auf. Diamant ist ein Isolator, während Graphit ein anisotroper Leiter ist.
- α-Schwefel, β-Schwefel (Mineral Klinoschwefel) und γ-Schwefel (Mineral Rosickýit) sind Modifikationen von Schwefel.
- Weißer Phosphor, roter Phosphor, schwarzer Phosphor und violetter Phosphor sind Modifikationen von Phosphor.
- Selen kommt in fünf Modifikationen vor.
- Zinn kommt als α-Zinn, β-Zinn und γ-Zinn vor (Zinnpest).
- Umwandlung der Elementarzelle von Eisen bei bestimmten Temperaturen: kubisch raumzentriertes δ-Ferrit, kubisch flächenzentrierte γ-Eisen (Austenit), kubisch raumzentrierte α-Eisen (Ferrit).
- natürliche Verbindungen (Minerale)
- Von Siliciumdioxid kommen in der Natur Quarz (unter Normalbedingungen stabile Form), als Hochtemperatur-Modifikationen Tridymit und Cristobalit sowie als Hochdruck-Modifikationen Coesit und Stishovit (jeweils metastabil) vor.
- Aluminiumoxid (Al2O3) kommt in der Natur als trigonaler Korund und kubische Tonerde vor.
- Drei Modifikationen des Calciumcarbonats sind orthorhombischer Aragonit, trigonaler Calcit (auch Kalkspat) und hexagonaler Vaterit.
- Pyrit (kubisch) und Markasit (orthorhombisch) sind natürliche Modifikationen von Eisen(II)-disulfid (FeS2).
- Drei Modifikationen des Aluminiumsilikats Al2SiO5 sind Andalusit, Disthen und Sillimanit.
- Anatas, Brookit und Rutil sind die drei bekanntesten natürlichen Modifikationen von Titandioxid.
- synthetische Verbindungen
- Ammoniumnitrat (NH4NO3) tritt in fünf Modifikationen auf.
- Die kristallinen Bereiche in isotaktischem Polypropylen, einem teilkristallinen Kunststoff, treten als monokline (α-Form), pseudohexagonale (β-Form) und unter besonderen Bedingungen auch trikline (γ-Form) Modifikationen auf.
- Von Paracetamol sind mindestens zwei Modifikationen (orthorhombisch und monoklin) bekannt.
- Candesartancilexetil
Begriffe
Bei zwei Modifikationen spricht man von Dimorphie, bei dreien von Trimorphie und bei vieren von Tetramorphie. Tritt eine spiegelbildliche Modifikation auf, so wird sie als Enantiomorphie bezeichnet.
Wenn verschiedene Modifikationen wechselseitig ineinander umgewandelt werden können, liegt Enantiotropie vor; wenn die direkte Umwandlung nur in einer Richtung möglich ist, Monotropie.
Literatur
- Eilhard Mitscherlich: Sur la Relation qui existe entre la forme cristalline et les proportions chimiques. In: Annales de Chimie et de Physique. Band 19, 1821, S. 350–419 (französisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 2. Oktober 2023]).
- Joel Bernstein: Polymorphism in Molecular Crystals. Oxford University Press, New York 2002, ISBN 978-0-19-850605-8 (englisch).
Weblinks
Einzelnachweise
- Eilhard Mitscherlich: Sur la Relation qui existe entre la forme cristalline et les proportions chimiques. In: Annales de Chimie et de Physique. Band 19, 1821, S. 350–419 (französisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 2. Oktober 2023]).
- Joel Bernstein: Polymorphism in Molecular Crystals. Oxford University Press, New York 2002, ISBN 978-0-19-850605-8 (englisch).