Miltiades der Jüngere
Miltiades (altgriechisch Μιλτιάδης Miltiádēs; * um 550 v. Chr.; † um 489 v. Chr.), Sohn des Kimon, war ein aus Athen stammender Feldherr und Politiker aus der Familie der Philaiden, bekannt durch Herodot, der ihn zum Sieger in der Schlacht bei Marathon erklärte.
Tyrann auf der Chersones
Nachdem er in Athen bereits 524/3 v. Chr. das Amt des Archon bekleidet hatte,[1] trat er, unterstützt von den attischen Tyrannen aus der Familie des Peisistratos, etwa 520 v. Chr. die Nachfolge eines gleichnamigen Verwandten, Miltiades des Älteren, als Tyrann der thrakischen Chersones (jetzige Halbinsel Gelibolu) an, die unter persischer Oberherrschaft stand. Nach der Ankunft setzte er die örtlichen Aristokraten gefangen und stellte eine private Söldnertruppe auf, die seinem Machterhalt diente. 514/3 v. Chr. nahm er am Feldzug des persischen Großkönigs Dareios I. gegen die Skythen teil. Miltiades erscheint bei Herodot in diesem Kontext – noch vor dem Ionischen Aufstand – indirekt als Verfechter der Freiheit der Ionier und als Gegner der Perser. Im Jahr 498 v. Chr. eroberte er die Insel Lemnos und fügte sie unter athenische Herrschaft.
Schlacht bei Marathon
Nach dem Ende des Ionischen Aufstands 493 v. Chr. kehrte Miltiades nach Athen zurück, wo er von seinen Feinden angeklagt, jedoch freigesprochen wurde. Er gilt als treibende Kraft bei der Verteidigung gegen die Perser. Am Sieg der Athener über eine persische Streitmacht bei Marathon im Jahre 490 v. Chr. hatte er als Strategos gemäß Herodot einen entscheidenden Anteil. Herodot schreibt allerdings auch, dass Miltiades nicht das Oberkommando innehatte, sondern die Befehlsgewalt mit neun weiteren Strategen teilen musste. Der Vorsitz des Kollegiums lag bei dem in der Schlacht gefallenen Polemarchen Kallimachos. Da es keine zeitgenössischen Schriftquellen zur Schlacht gibt, ist die genaue Rolle des Miltiades umstritten. Herodot schreibt, Miltiades habe Kallimachos davon überzeugt, anzugreifen und dieser habe dann den Befehl zum Angriff erteilt. Fragwürdig ist hierbei allerdings, ob der den Strategen übergeordnete Polemarch zu dieser Zeit nur der nominelle Oberbefehlshaber war oder mehr Befehlsgewalt besaß als die anderen Strategen. Erstaunlich ist auch, dass Miltiades in der Beschreibung der Schlacht von Herodot mit keinem Wort mehr erwähnt wird. Kallimachos wird dagegen noch einmal mit seiner Position in der Schlachtordnung genannt; ebenso wird sein Tod in der Schlacht erwähnt. Die Position des Miltiades oder seinen möglichen Einfluss auf die Schlachtordnung und -taktik erfährt man nicht.
Parosexpedition
Etwa um 490/89 überzeugte Miltiades die Athener davon, das Kommando über ein Unternehmen gegen einige Kykladeninseln zu führen, um sie aus dem persischen Einfluss, unter den sie während des Zuges des Mardonios gekommen waren, zu lösen, und dies notfalls mit Gewalt. Dafür wurde er von den Athenern mit 70 Schiffen ausgestattet.[2] 70 Schiffe dürften vor der Flottenrüstung Athens unter Themistokles alles gewesen sein, was die athenische Flotte zu bieten hatte.[3] Im Zuge der Angriffe gegen die Inseln ergaben sich einige widerstandslos, nicht aber Paros. Paros wurde in der Folge anscheinend erfolgreich belagert, und es fanden Verhandlungen über die Kapitulation statt. Ein Feuerschein in der Ferne (möglicherweise auf Mykonos), den die Parier für ein Zeichen der Perser hielten, führte zum Bruch der Vereinbarungen. Miltiades deutete den Feuerschein ähnlich, brach die Belagerung ab und segelte rasch nach Athen zurück. Dort wurde er in der Volksversammlung wegen Hochverrats, Bestechung durch die Perser und unautorisierten Abbruchs des Unternehmens angeklagt. Xanthippos, der Vater des Perikles, ist möglicherweise der Hauptkläger gewesen und plädierte für die Todesstrafe.[3] Miltiades konnte sich nicht persönlich verteidigen, da er an einer während der Expedition empfangenen Beinwunde litt, die sich infiziert hatte. Diese Verwundung hatte er sich in der Nähe eines Demeterheiligtums zugezogen (und möglicherweise als göttliches Zeichen gedeutet). Miltiades wurde vom Hochverrat freigesprochen, aber für die gescheiterte Expedition verantwortlich gemacht und zu einer Geldstrafe von 50 attischen Talenten verurteilt, deren Höhe sich an den Staatsausgaben für das Unternehmen orientierte. Miltiades wurde wahrscheinlich bis zur Zahlung des Geldes im Gefängnis festgehalten. Dort verstarb er an den Folgen seiner Verwundung. Die Schuld wurde von seinem Sohn Kimon beglichen. Dieser spielte in den folgenden Jahrzehnten eine wichtige Rolle in der Politik Athens. Bekannt ist auch Miltiades’ Tochter Elpinike.
Archäologische Funde
Bei den Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Olympia fand man im Jahre 1940 das Fragment eines bronzenen Helms aus dem Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. Nachdem die Grabungen in Olympia Anfang der 1950er-Jahre unter Leitung von Emil Kunze wiederaufgenommen worden waren, entdeckte Hans-Volkmar Herrmann bei der Reinigung des Helms die Weiheinschrift:
- Μιλτιάδες ἀνέ[θ]εκεν [⋮ τ]οῖ Δί Miltiádes anétheken toí Dí, deutsch ‚Miltiades hat (diesen Helm) Zeus geweiht‘[4]
Die Waffenweihung wird von der Forschung sowohl mit der Eroberung von Lemnos als auch der Schlacht von Marathon in Verbindung gebracht, allerdings konnte nicht eindeutig nachgewiesen werden, dass es sich bei dem besagten Helm um den Helm von Miltiades dem Jüngeren handelte.[5]
Quellenlage
Hauptquelle zu Miltiades sind Herodots Historien. Herodot berichtet als Zeitzeuge über die damaligen Vorgänge und strebt wohl nach exakten historischen Berichten. Zu diesem Zweck nutzt er Quellen, die er auf Verlässlichkeit prüft,[6] und betreibt zudem Forschungsarbeit auf Reisen.[7] Ebenso versucht er das „Menschendasein in weiteren Dimensionen zu ergründen“.[2] Jedoch können bei Herodot anti-philaidische Tendenzen festgestellt werden[8] sowie Vorurteile den athenischen Demos betreffend.[9] Zahlen- und Personenangaben bei Herodot sollten kritisch hinterfragt werden, da diese spezifischen Informationen häufig nicht ausreichend durch Quellen belegt werden.[10]
Aus den Historien ging wohl das Werk des Historikers Ephoros von Kyme hervor. Sein Werk ist jedoch nur fragmentarisch erhalten. Das Werk des Ephoros diente wohl Cornelius Nepos, Stephanos von Byzanz und den Aristeidesscolia als Vorlage. Diese Texte erlauben auch in Teilen eine Rekonstruktion des Werkes des Ephoros.[11]
Insgesamt zeichnet Herodot ein sehr facettenreiches Bild von Miltiades. Er erscheint als mächtiger und reicher Aristokrat, der unter den Peisistratiden leidet, als autonomer Tyrann am Hellespont und als Perserfeind; er schafft die Vorbedingungen für den Sieg bei Marathon und erscheint zuletzt als mächtiger Politiker, als gescheiterter Feldherr und als schicksalhafter Hybristes. Herodots Darstellung von Miltiades’ Rolle in der Schlacht bei Marathon ist vermutlich stark, direkt und indirekt, durch die Bau- und Kunstwerke der Kimonischen Ära, insbesondere das Marathongemälde in der Stoa Poikile und das erweiterte Phylenheroenmonument in Delphi, beeinflusst worden, welche Miltiades heroisierten und die allgemeinen Erinnerungen an die Marathonschlacht gelenkt haben, was an den späteren literarischen Quellen abgelesen werden kann. Durch seine literarische Formung des Stoffes und die unterschiedliche Gewichtung verschiedener Aspekte hat Herodot jedoch auch einiges zum letztlich entstandenen Miltiades-Bild beigetragen. Durch fiktive Reden, persönliche Wertungen und vor allem die Ausrichtung der Erzählung auf bestimmte Motive hat er auch das Bild von Miltiades verändert.
Rezeption
1782 schuf der klassizistische Maler Pierre Peyron (1744–1814) in Rom das Historiengemälde Das Begräbnis des Miltiades im Auftrag des Comte d’Angiviller. Es zeigt eine Episode, die Cornelius Nepos in seiner Vita Kimons des Jüngeren überliefert und nach der der Sohn sich anstelle seines Vaters anketten ließ, um so dessen Leichnam auszulösen. Dieses Sujet hat außerdem Anatole Devosge (1770–1850) in einer Zeichnung 1806 behandelt.[12] Es handelt sich um eine antirepublikanische Fabel, welche die Undankbarkeit des Demos gegenüber dem Retter vor der persischen Invasion anprangert. Die Episode konnte in der Frühen Neuzeit als Allegorie auf das ungerechte Schicksal verdienter, zeitgenössischer Staatsmänner genutzt werden. Beispielsweise spielt ein niederländisches Glasfenster mit der Miltiadesvita auf die Gefangenschaft von Rombout Hogerbeets und (indirekt) Hugo Grotius an.[13]
Der Dichter und Philhellene Johann Gottfried Seume schuf 1808 das Trauerspiel Miltiades, in welchem er den Strategen als republikanischen Gegenentwurf zu Napoleon Bonaparte zeichnet.[14]
Literatur
- Helmut Berve: Miltiades. Berlin 1937.
- Peter J. Bicknell: The Command Structure and Generals of the Marathon Campaign. In: L’Antiquité classique. Band 39, 1970, S. 427–439.
- Peter J. Bicknell: The Date of Miltiades’ Parian Expedition. In: L’Antiquité classique. Band 41, 1972, S. 225–227.
- Edwin M. Carawan: Eisangelia and Euthyna: The Trials of Miltiades, Themistocles, and Cimon. In: Greek, Roman and Byzantine Studies. Band 28, 1987, S. 167–209.
- Alessandra Coppola: Milziade e i tirannicidi. In: Historia. Band 52, 2003, S. 283–299.
- Lloyd W. Daly: Miltiades, Aratus and Compound Fractures. In: The American Journal of Philology. Band 101, 1980, S. 59–60.
- Robert Develin: Miltiades and the Parian expedition. In: L’Antiquité classique. Band 46, 1977, S. 571–577.
- James A. S. Evans: Herodotus and Marathon. In: Florilegium. Band 6, 1984, S. 1–27.
- Martin Flashar: Die Sieger von Marathon. In: Martin Flashar, Hans Joachim Gehrke, Ernst Heinrich (Hrsg.): Retrospektive. Konzepte von Vergangenheit in der griechisch-römischen Antike. München 1996, S. 63–83.
- Konrad Kinzl: Miltiades’ Parosexpedition in der Geschichtsschreibung. In: Hermes. Band 104, 1976, S. 280–307.
- Konrad Kinzl: Miltiades 2. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 8, Metzler, Stuttgart 2000, ISBN 3-476-01478-9.
- Stefan Link: Das Paros-Abenteuer des Miltiades. In: Klio. Band 82, 2000, S. 40–53.
- Fritz Schachermeyr: Die Sieger der Perserkriege. Große Persönlichkeiten zwischen Beifall und Mißgunst (= Zur Problematik des geschichtlichen Erfolges. Persönlichkeit und Geschichte. Band 82). Göttingen u. a. 1974.
- Lionel Scott: Miltiades’ Expedition to Paros and ‘Other Islands’? In: The Ancient History Bulletin. Band 6, 2002, S. 111–126.
- Benjamin Shimron: Miltiades an der Donaubrücke und in der Chersones. In: Wiener Studien. Band 100, 1987, S. 23–34.
Weblinks
- Miltiades-Vita des Cornelius Nepos (lateinisch und deutsch) – Nepos unterscheidet nicht zwischen dem Älteren und Jüngeren Miltiades
- Jona Lendering: Miltiades. In: Livius.org (englisch)
Anmerkungen
- Inscriptiones Graecae I³ 1031
- Konrad H. Kinzl: Miltiades’ Parosexpedition in der Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Klassische Philologie. Wiesbaden, 1976, S. 280–307, S. 284.
- Peter Karavites: Realities and Appearances, 490-480 B.C. In: Historia: Zeitschrift für Alte Geschichte. Band 26, Nr. 2. Franz Steiner Verlag, 1977, S. 129–147.
- Supplementum Epigraphicum Graecum 14,351. Diskussion des Forschungsstands: Holger Baitinger: Waffenweihungen in griechischen Heiligtümern (= Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums. Band 94). Verlag des Römisch-Germanischen-Zentralmuseums, Mainz 2011, S. 153 (online).
- Vgl. Harald Schulze: Der Helm des Miltiades: Was vom Siege übrig blieb, in: FAZ Nr. 46, 24. Februar 2010, S. N3.
- Reinhold Bichler und Robert Rollinger: Herodot (= Studienbücher Antike. Band 3). Hildesheim 2000, S. 130f.
- Reinhold Bichler und Robert Rollinger: Herodot (= Studienbücher Antike. Bd. 3). Hildesheim 2000, S. 111ff.
- Stefan Link: Das Paros-Abenteuer des Miltiades. In: Klio. 82 (1), 2000, S. 40–53.
- Konrad H. Kinzl: Miltiades’ Parosexpedition in der Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Klassische Philologie. Wiesbaden 1976, S. 280–307, S. 283f.
- Konrad Kinzl: Miltiades [2]. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 8, Metzler, Stuttgart 2000.
- Konrad H. Kinzl: Miltiades’ Parosexpedition in der Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Klassische Philologie. Wiesbaden 1976, S. 280–307, S. 293–303.
- Projekt Utpictura18: Centre Interdisciplinaire d’Étude des Littératures d’Aix-Marseille (CIELAM, EA4235). Cimon et Miltiade. Le dévouement de Cimon – Rude d’après Devosge
- https://www.rijksmuseum.nl/nl/collectie/RP-T-2013-2
- Inge Stephan: Johann Gottfried Seume. Ein politischer Schriftsteller der deutschen Spätaufklärung. Stuttgart 1973, S. 53. Digitalisat des Werkes: http://hdl.handle.net/2027/chi.088260896 (Hathi Trust digital library)