Martin Selmayr
Martin Selmayr (* 5. Dezember 1970 in Bonn) ist ein deutscher Jurist und EU-Beamter, der seit 2019 die Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich leitet.[1] Von November 2014 bis Ende Februar 2018 war er Kabinettchef des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker[2][3] und fungierte als Sherpa des Kommissionspräsidenten.[4] Vom 1. März 2018 bis Juli 2019 war er Generalsekretär der Europäischen Kommission.[5] Er steht der CDU[6] und der Europäischen Volkspartei (EVP) nahe.[7]
Zudem ist Selmayr Honorarprofessor für Europäisches Wirtschafts- und Finanzrecht an der Universität des Saarlandes, Lehrbeauftragter für das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion an der Universität für Weiterbildung Krems[8] und ehrenamtlicher Direktor des an der Universität Passau ansässigen Centrums für Europarecht.[9]
Familie und Ausbildung
Selmayr wuchs in Bonn, Berlin, München und Karlsruhe auf. Sein Vater ist Gerhard Selmayr, Jurist und Gründungskanzler der Universität der Bundeswehr in München.[10][11] Er ist Enkel zweier Generale, sein Großvater Josef Selmayr gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg der Organisation Gehlen an und war erster Präsident des Militärischen Abschirmdienstes (MAD); mütterlicherseits war sein Großvater Heinz Gaedcke, einer der „Gründungsväter“ der Bundeswehr.[12]
Nach dem Abitur am Otto-Hahn-Gymnasium Karlsruhe studierte Selmayr ab 1990 Rechtswissenschaften[9] und wurde 1991 in die Studienstiftung des deutschen Volkes aufgenommen.[9] 1991/92 studierte er an der Universität Genf[9] und deren Institut universitaire d'etudes européennes, wo er beim Schweizer Staatssekretär Franz Blankart eine Diplomarbeit zu den Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum verfasste. Im Anschluss daran studierte er an der Universität Passau.[9] Anfang 1997 schloss er in Passau seine Studien mit dem Ersten Juristischen Staatsexamen ab.[9] Im Juni 2000 legte er in München das Zweite Juristische Staatsexamen ab.[9] Von 1997 bis 2000 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Passau bei Michael Schweitzer.[9] Dort wurde er 2001 mit dem Thema Die Vergemeinschaftung der Währung mit der Note „summa cum laude“ promoviert.[9]
Beruflicher Werdegang
Von 1998 bis 2000 arbeitete Selmayr für die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main. Seit 2004 ist er Beamter der Europäischen Kommission. Er war zunächst Kommissionssprecher für Informationsgesellschaft und Medien, das Ressort von Kommissarin Viviane Reding. Von Februar 2010 bis Juni 2014 war Selmayr Kabinettchef Redings, sowohl in ihrer Position als EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, als auch als Vizepräsidentin der Europäischen Kommission.[9]
Im April und Mai 2014 leitete Selmayr den Wahlkampf von Juncker als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei bei der Europawahl 2014.[13] Im Juli 2014 wurde er zum Kabinettchef Junckers ernannt. Zum 1. März 2018 wurde Selmayr als Nachfolger von Alexander Italianer Generalsekretär der Europäischen Kommission.[14] Am 16. Juli 2019 gab Selmayr seinen Rückzug vom Posten des Generalsekretärs für die darauffolgende Woche bekannt.[15] Ab November 2019 war er als Nachfolger von Jörg Wojahn Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich.[16] 2024 übernahm Wolfgang Bogensberger geschäftsführend die Leitung der Kommissionsvertretung in Wien, Selmayr erhielt eine Gastprofessur zu Europarecht am Institut für Innovation und Digitalisierung im Recht der Universität Wien.[17]
Kritik
Im Oktober 2017 wurde Selmayr in der britischen Presse vorgeworfen, Details der Brexit-Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien an Medienvertreter weitergegeben zu haben.[18][19] Selmayr bestritt diese Vorwürfe.[20]
Die Ernennung Selmayrs zum Generalsekretär der Europäischen Kommission erfolgte kurzfristig auf einer Sitzung der EU-Kommission am 21. Februar 2018. Selmayr wurde zunächst zum stellvertretenden Generalsekretär der Kommission ernannt und danach noch am selben Tag zum Generalsekretär,[21] nachdem an diesem Morgen Amtsinhaber Italianer – unerwartet für fast alle außer für Juncker – seine Frühpensionierung beantragt hatte.[22]
Dieses Verfahren stieß auf Kritik bei Parlamentariern der anderen Fraktionen im EU-Parlament, bei Teilen der EU-Kommission sowie bei Journalisten.[23][24][25][26] Die Fraktion der Grünen/EFA verlangte eine parlamentarische Untersuchung im Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlaments.[27] Der französische Journalist Jean Quatremer, der die Beförderungsaffäre aufdeckte, bezeichnete sie als „Staatsstreich“. Ihm zufolge soll sich Selmayr die Zustimmung der Kommissare zu seiner Beförderung erkauft haben, indem er zusagte, die monatlichen Zahlungen an ausgeschiedene Kommissare von zwei Jahren auf bis zu fünf Jahre zu verlängern.[28]
Die Europäische Bürgerbeauftragte zweifelte die Ernennung Selmayrs vom stellvertretenden Generalsekretär zum Generalsekretär an und kam zu dem Schluss, dass die Europäische Kommission „das EU-Recht nicht befolgt hat“.[29] Die Erklärung des Bürgerbeauftragten wurde von der Kommission zurückgewiesen.[30]
Neben dem „Durchstechen“ von Informationen und „Postenschieberei“ wird Selmayr politische Einflussnahme auf Kommissionsentscheidungen etwa bei der PKW-Maut vorgeworfen.[31] Das Magazin Spiegel warf ihm in der Ausgabe 12/2018 unter dem Obertitel „Aktion Eigenlob“ vor, zwischen Weihnachten und Silvester 2017 die deutsch- und englischsprachigen Wikipedia-Artikel über seine Person so „aufgehübscht“ zu haben, dass seine Rolle bei Entscheidungen der EU stärker hervorgehoben wurde.[32]
Selmayr geriet Anfang September 2023 in die öffentliche Kritik mit der Aussage, es werde „Blutgeld“ aus Österreich mit der Gasrechnung an Russland gezahlt.[33] Die Aussage bezieht sich auf den Umstand, dass Österreichs Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen auch nach dessen Angriffskrieg auf die Ukraine besteht und so zu russischen Deviseneinnahmen führt. Seit Ausbruch des Krieges im Februar 2022 wurde der russische Anteil am Gesamtgasimport Österreichs von rund 80 auf unter 60 % reduziert, daneben bestanden aber langfristige Liefervereinbarungen mit russischen Konzernen.[34][35][36] Die Kommission distanzierte sich von den „bedauerlichen und unangemessenen Aussagen“ des Leiters der Repräsentanz in Österreich.[37][38] „Zu der Sache ist alles gesagt, was gesagt worden ist.“ (Selmayr)[39]
Monographien
- The Law of The European Central Bank, Oxford (2001), in Zusammenarbeit mit Chiara Zilioli, Leiterin der Abteilung Institutionelles Recht der Europäischen Zentralbank.
- Das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion – Erster Band: Die Vergemeinschaftung der Währung, Baden-Baden (2002).
- La Banca centrale europea, Mailand (2007), in Zusammenarbeit mit Chiara Zilioli und Prolog von Tommaso Padoa-Schioppa, Wirtschafts- und Finanzminister Italiens.
Herausgeberschaften
- Zeitschrift für Datenschutz, erscheint seit September 2011 monatlich im Beck-Verlag, Mit-Herausgeber: Thomas Hoeren et al.
- European Competition Law. Europäisches Wettbewerbsrecht. Texte und Materialien. Deutsch-Englisch., München (2010), in Zusammenarbeit mit Hans-Georg Kamann (700 Seiten).
- Beck’scher Kurz-Kommentar zur Datenschutz-Grundverordnung, München (2017), gemeinsam mit Eugen Ehmann.[40]
Einzelnachweise
- czar: Martin Selmayr ist auf seinem Wunschposten. In: Wiener Zeitung. 7. November 2019, abgerufen am 9. November 2019: „Nun steht er seit einer Woche an der Spitze einer Stelle, die 20 Mitarbeiter hat und als Bindeglied zur Brüsseler Behörde fungieren soll.“
- Hendrik Kafsack: Der starke Mann hinter Juncker. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. September 2014.
- President Juncker's team - European Commission. 23. Oktober 2014, abgerufen am 29. Dezember 2017 (englisch).
- Ian Traynor, Nicholas Watt: Meet the sherpas: the key people quietly negotiating UK-EU reforms. In: The Guardian. 17. Februar 2016, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 29. Dezember 2017]).
- EURACTIV mit Agenturen: Generalsekretär Martin Selmayr tritt zurück. In: euractiv.com. 16. Juli 2019, abgerufen am 4. August 2019 (deutsch).
- Bettina Klein: Neuer EU-Generalsekretär – Eine umstrittene Wahl. In: Deutschlandfunk, Sendung Europa heute, 28. Februar 2018.
- Michael Stabenow: Martin Selmayrs Beförderung – Maßgeschneiderter Aufstieg. In: Frankfurter Allgemeine (online), 9. März 2018.
- Donau-Universität Krems - Universität für Weiterbildung.: Martin Selmayr - Faculty - Department für Wirtschaftsrecht und Europäische Integration - Donau-Universität Krems. Abgerufen am 29. Dezember 2017.
- Prof. Dr. Martin Selmayr - Lebenslauf In: Centrum für Europarecht, Universität Passau.
- James Rothwell: Who is Martin Selmayr, the 'monster' Eurocrat accused of trying to wreck Brexit? (Memento vom 18. März 2018 im Internet Archive) In: The Telegraph, www.telegraph.co.uk, 26. Oktober 2017. Abgerufen am 17. März 2018.
- Universitätskanzler Dr. Gerhard Selmayr erhält Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Abgerufen am 29. Dezember 2017.
- „Gründungsvater“ der Bundeswehr, NWZ online 18. März 2011.
- Christoph Schult: Junckers neuer Strippenzieher In: Spiegel Online, 25. März 2014.
- Martin Selmayr wird Generalsekretär der EU-Kommission. Zeit Online, 21. Februar 2018.
- Umstrittener EU-Spitzenbeamter Martin Selmayr verlässt Brüssel. Spiegel Online, 16. Juli 2019, abgerufen am selben Tage.
- Karoline Krause-Sandner: Martin Selmayr: EU-Spitzenbeamter ab jetzt in Österreich. In: Kurier (Tageszeitung). 7. November 2019, abgerufen am 9. November 2019: „Er wird in Zukunft Vorsitzender der Vertretung der EU-Kommission in Österreich sein und damit Nachfolger von Jörg Wojahn, der die Leitung der Kommissionsvertretung in Berlin übernimmt.“
- Selmayr verlässt Vertretung der EU-Kommission und wird Gastprofessor an Uni Wien. In: DerStandard.at. 2. Februar 2024, abgerufen am 31. Januar 2024.
- Porträt von Alexander Mühlauer: Der Bad Boy aus Brüssel. In: sueddeutsche.de. 2017, ISSN 0174-4917 (sueddeutsche.de [abgerufen am 29. Dezember 2017]).
- Thomas Gutschker: Brexit-Verhandlungen: Ohne Qualen geht es nicht. In: FAZ.NET. 22. Oktober 2017, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 29. Dezember 2017]).
- Politico: Morgen Europa, Florian Eder im Gespräch mit Martin Selmayr (Video). Abgerufen am 29. Dezember 2017.
- Peter Müller: Umstrittene EU-Personalie: Blitzbeförderung von Junckers "Monster" sorgt für Empörung. In: Spiegel Online. 27. Februar 2018 (spiegel.de [abgerufen am 27. Februar 2018]).
- Streit um die Blitzbeförderung von Selmayr. In: Süddeutsche Zeitung. 12. März 2018, abgerufen am 16. März 2018.
- Jean Quatremer: Martin Selmayr braque la Commission européenne In: Libération, 3. März 2018.
- Michael Stabenow: Maßgeschneiderter Aufstieg. FAZ 10. März 2018 (S. 5).
- Eine seltsame Affäre: Selmayrgate bringt Brüssel in Wallung, In: zeit.de, 12. März 2018.
- Bernd Riegert: Kritik an EU-Blitz-Beförderung: Martin wer? In: dw.com, 12. März 2018.
- Selmayr-Aufstieg: Nacht-und-Nebel-Aktion muss parlamentarisch untersucht werden - Sven Giegold - Mitglied der Grünen Fraktion im Europaparlament. In: Sven Giegold - Mitglied der Grünen Fraktion im Europaparlament. 26. Februar 2018 (sven-giegold.de [abgerufen am 27. Februar 2018]).
- Affäre um deutschen EU-Spitzenpolitiker zeigt Brüssels größtes Problem, Huffington Post vom 10. März 2018 (wohl bezugnehmend auf diesen Artikel (frz.) von Quatremer).
- Einspruch der Europäischen Bürgerbeauftragten gegen die Ernennung Selmayrs zum Generalsekretär der Europäischen Kommission Abgerufen am 20. Februar 2019.
- Antwort der Europäischen Kommission auf den Einspruch des Europäischen Bürgerbeauftragten Abgerufen am 20. Februar 2019.
- „Junckers Monster“: Posten-Streit um deutschen EU-Politiker Selmayr eskaliert, Kölner Stadtanzeiger vom 12. März 2018. Zuletzt abgerufen am 18. März 2018.
- Peter Müller: Korrekturen um 3.45 Uhr. In: Der Spiegel. Nr. 12, 2018, S. 30 (online).
- "Blutgeld" an Russland: EU-Diplomat kritisiert Österreich heftig. 8. September 2023, abgerufen am 11. September 2023.
- Unabhängigkeit von russischem Gas. Abgerufen am 11. September 2023.
- Vienna seeks to calm Selmayr ‘blood money’ furor. In: POLITICO. 10. September 2023, abgerufen am 11. September 2023 (englisch).
- Wolfgang Vichtl: Österreich bleibt bis 2040 abhängig von russischem Gas. Abgerufen am 11. September 2023.
- ORF at/Agenturen red: „Blutgeld“-Sager: EU-Vertreter Selmayr sorgt für Irritation. In: orf.at. 7. September 2023, abgerufen am 8. September 2023.
- ORF-Radiothek. Abgerufen am 10. September 2023.
- ORF at/Agenturen red: Nach „Blutgeld“-Sager: Selmayr will Job in Wien behalten. 13. September 2023, abgerufen am 13. September 2023.
- Ehmann / Selmayr | Datenschutz-Grundverordnung: DS-GVO | 2017. Abgerufen am 29. Dezember 2017.