Lichterkette (Demonstration)
Die Lichterkette (auch Menschenlichterkette, englisch candlelight vigil, candlelight rally oder candlelight protest) ist eine friedliche Demonstrationsform, bei der Teilnehmende eine brennende Kerze oder eine andere Lichtquelle in der Hand halten. Die Teilnehmenden bilden häufig nebeneinander stehend eine Menschenkette. Lichterketten werden üblicherweise schweigend durchgeführt, unter Verzicht auf besondere politische Aussagen, an deren Stelle das Licht als Symbol einer umfassenden Friedensbotschaft tritt.[1] Verwandt sind Lichteraktionen anderer Art, bei denen Bürger zu einem verabredeten Zeitpunkt zum Beispiel eine brennende Kerze oder Lampe ins Fenster stellen.
Deutschland
Deutsche Demokratische Republik
In der DDR bediente sich die Opposition einer als „Kerzendemonstration“ oder „Kerzendemo“ bezeichneten Protestform. So demonstrierten am 8. November 1983 in Leipzig 20 bis 30 Personen vor dem Kino Capitol in der Petersstraße und entzündeten dort Kerzen, unter anderem um gegen die Stationierung sowjetischer Raketen in der DDR zu protestieren. Polizei und Staatssicherheit nahmen die Teilnehmenden innerhalb weniger Minuten fest; ein Leipziger Gericht verhängte Gefängnisstrafen von bis zu zwei Jahren wegen „Rowdytums“.[2][3] Diese Demonstration sowie das brutale Eingreifen der Staatsmacht wurden als Zäsur und Meilenstein in der Geschichte der oppositionellen Bewegungen in den 1980er Jahren in Leipzig bezeichnet.[4] Die Montagsdemonstrationen 1989/1990 der DDR-Bürgerrechtsbewegung im Verlauf der Friedlichen Revolution wurden häufig als Kerzendemonstrationen durchgeführt.[5][6] Im Museum in der Runden Ecke wird etwa eine abgebrannte Kerze der Montagsdemonstration vom 18. Dezember 1989 in Leipzig als Exponat gezeigt.[7] Im Vorfeld der Deutschen Wiedervereinigung bildeten am Sonntag, dem 3. Dezember 1989, bis zu 2.000.000 Menschen[8] durch die gesamte DDR entlang der Landstraßen Menschenketten teilweise in Form von Lichterketten unter dem Motto „Ein Licht für unser Land“ und „Das Gefühl der Gemeinsamkeit und der gemeinsamen Ziele ist noch wach“.[9]
Bundesrepublik vor 1989
Lichterketten wurden in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts von der westdeutschen Friedensbewegung als Protestform eingesetzt. So bildeten beispielsweise am 12. Dezember 1983 10.000 Menschen eine Lichterkette zwischen Duisburg und Dortmund, um gegen die Nachrüstung zu protestieren.[10]
Nach der Wiedervereinigung
Anfang der Neunzigerjahre wurde im wiedervereinigten Deutschland mit Lichterketten gegen Rechtsextremismus und Fremdenhass demonstriert, so etwa am 9. November 1992 in Hoyerswerda.[11] In München organisierten vier Bürger, TV-Produzent Gil Bachrach, Journalist Giovanni di Lorenzo, Filmproduzent Christoph Fisser und die Werbeagentin Chris Häberlein[12] mit 2500 Helfern[13] am 6. Dezember 1992 die Münchner Lichterkette mit 400.000 Teilnehmenden.[14] Zeitgleich fanden in weiteren bayerischen Städten weitere Lichterketten mit zehntausenden Teilnehmenden statt.[15] In der Folge kam es in zahlreichen weiteren deutschen Städten zu Lichterketten-Demonstrationen,[16] unter anderem in Hamburg mit 300.000 Teilnehmenden,[17] in Essen mit 300.000 Teilnehmenden,[18] in Berlin mit mehr als 200.000 Teilnehmenden,[19] in Nürnberg mit 100.000 Teilnehmenden[20] und in Leipzig mit bis zu 100.000 Teilnehmenden.[21] Anlass waren eine Welle rechtsextremer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland, wie die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und der Mordanschlag von Mölln in der Nacht auf den 23. November 1992.
Österreich
In der Folge der Münchner Lichterkette 1992 kam es auch in Österreich zu ähnlichen Kundgebungen. Im Januar 1993 fand das Lichtermeer statt, eine Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz sowie insbesondere gegen ein von der FPÖ initiiertes „Anti-Ausländer“-Volksbegehren. Die Initiative zu diesen Aktionen ging anfangs nicht von Parteien oder anderen politischen Organisationen aus, sondern von Privatpersonen. Die zentrale Veranstaltung mit bis zu 300.000 Teilnehmern – die bislang größte Demonstration in Österreich – fand in Wien statt. Weitere Demonstrationen gab es in Graz, Linz, Innsbruck[22] und Salzburg.
Ostasien
In Ostasien haben sich Lichterdemomonstrationen seit Beginn der Neunzigerjahre zu einer wichtigen Form des Massenprotests entwickelt. In Hongkong fanden ab 1990 jährlich am 4. Juni Lichterdemonstrationen mit bis zu 150.000 Teilnehmenden statt, um der Opfer des Tian’anmen-Massakers zu gedenken.[23] Ab 2020 wurden die Gedenkveranstaltungen unterbunden.[24][25][26] In Südkorea stellen Lichterdemonstrationen einen wichtigen Teil der Protestkultur dar, etwa im Rahmen der Bewegung für den Rücktritt von Präsidentin Park Geun-hye.[27]
Weitere Beispiele
Die Lichterkette hat sich inzwischen zu einer gängigen Form der Demonstration entwickelt.
- Große Lichterketten-Aktionen gab es anlässlich des bevorstehenden Irakkrieges im Jahr 2003.
- Ein Zeichen für Toleranz und gegenseitige Akzeptanz haben mehr als 3000 Menschen am 5. Februar 2015 in Nordhorn gesetzt.[28]
- Um ein Zeichen zu setzen für Toleranz, Mitgefühl und Solidarität mit den Opfern der Terroranschläge am 13. November 2015 in Paris rief der Freundeskreis Hannover in Kooperation mit der Landeshauptstadt Hannover zur Bildung einer Lichterkette am 17. November 2015 auf. Zu dieser gemeinsam organisierten Veranstaltung wurde zunächst das Neue Rathaus der Stadt in den Farben der Trikolore illuminiert.
- Kirchenvertreter, Unternehmer, Lehrer und Schüler, ehemalige Einwohner, Politiker von SPD, Grünen, Linkspartei, Piraten und CDU, darunter Bundesinnenminister Thomas de Maizière fordern ein "friedliches und menschliches Miteinander" und führten am 10. Dezember 2015, dem "Tag der Menschenrechte, eine Lichterkette in Meißen durch.[29]
- Am 17. Oktober 2015 gingen tausende Berliner mit Kerzen auf die Straße. Auch Flüchtlinge kamen zur Lichterkette. Anlass für die Lichterkette war die bröckelnde Akzeptanz von Flüchtlingen in der Bevölkerung. Sie stand unter dem Motto „Flüchtlinge willkommen - Fluchtursachen überwinden - Lichtzeichen setzen“.[30]
- Anfang Januar 2016 fanden Lichterketten gegen das Rechtsbündnis in Leipzig statt.[31]
- Als Demonstration für den Bau des neuen Dokumentationszentrums der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen versammelten sich am 27. Januar 2017 mehrere Hundert Menschen mit Kerzen zu einer Lichterkette auf dem Baufeld für das geplante Gebäude in Gardelegen und bildeten dessen Grundriss nach.[32] Nach dieser friedlichen Versammlung von zivilgesellschaftlicher Seite bewilligte der Landtag von Sachsen-Anhalt die Haushaltsmittel für die Umsetzung des zuvor in Frage gestellten Bauvorhabens.[33]
- Die Stadt Neuenstein im Hohenlohischen setzte am 26. Januar 2019 mit einer Menschenlichterkette am Kulturbahnhof ein Zeichen gegen Fremdenhass. Anlass war der Brandanschlag am 20. Januar 2019 auf die dort geplante Flüchtlingsunterkunft.[34]
- Eine Lichterkette gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Gewalt fand am 8. März 2017 in Berlin statt.[35]
- Unter dem Motto „Unsere Ministerien nicht in die Hände von Rechtsextremen“ veranstaltete SOS Mitmensch am 16. November 2017 eine Lichterkette mit 3000 bis 10.000 Teilnehmern am innerstädtischen Ballhausplatz in Wien.[36]
- Mehrere Hundert Menschen haben am 17. November 2019 in Merten-Bornheim an einer Aktion des Pfarrausschusses Merten teilgenommen und eine Lichterkette als Zeichen gegen Fremdenhass gebildet.[37]
- Eine Menschenlichterkette fand am 15. Dezember 2018 unter dem Motto „Für Toleranz und Solidarität! Gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ in Harburg statt.[38]
- In einer Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Amoklaufes von Winnenden und Wendlingen zum zehnjährigen Jahrestag fand am 11. März 2019 eine Lichterkette in Winnenden statt.[39]
- Am 2. Juli 2021 fand in Würzburg anlässlich des Anschlags am 25. Juni eine Lichterkette mit Hunderten Menschen statt.[40]
Unterstützung von Projekten und Aktionen
Der ersten Lichterkettenaktion 1992 in München folgte die Gründung des gemeinnützigen Vereins Lichterkette e.V., das seitdem Projekte und Aktionen unterstützt, die im Sinne der Völkerverständigung die Begegnung, den interkulturellen Austausch und das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft in München fördern. Hierzu finden laufend Veranstaltungen und Aktionen statt.[41][42] Eines der Projekte ist Youthnet, ein interkulturelles und interreligiöses Netzwerk für München. Dort begegnen sich Jugendliche mit christlichem, muslimischem, jüdischem, ezidischem und anderem Hintergrund.[43][44]
Weblinks
Einzelnachweise
- Heinz Kleger: Toleranz und "tolerantes Brandenburg". LIT-Verlag, Münster / Hamburg / London 2006 (= Region - Nation - Europa, 34), S. 30ff. ("Lichterketten-Bewegung")
- Andreas Tappert: Die kaum bekannte Kerzendemonstration in Leipzig von 1983 - Protestaktion bei Eröffnung des Dokfilmfestivals wurde in der DDR totgeschwiegen / Stadträte wollen Erinnerung. In: Osterländer Volkszeitung. 4. März 2022, S. 18.
- Klaus Staeubert: Wie das DDR-Regime vor Kerzen Angst bekam. In: Leipziger Volkszeitung - Hauptausgabe. 18. November 2023, S. 20 (lvz.de).
- Ralf Julke: Der Stadtrat tagte: Kerzendemo vom 18. November 1983 soll Teil der Leipziger Erinnerungskultur werden. Leipziger Zeitung, 20. März 2022, abgerufen am 1. Februar 2024 (deutsch).
- Björn Menzel: Montagsdemonstration: Die 70.000 SanftMutigen von Leipzig. In: Die Zeit. 9. Oktober 2014, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 1. Februar 2024]).
- Revolution mit 70 000 Kerzen: Montagsdemos in Leipzig. In: Westfälische Nachrichten. 2. Januar 2024, abgerufen am 1. Februar 2024.
- Kerze von der Montagsdemonstration am 18. Dezember 1989. In: Objekt- und Fotodatenbank Online im Museum in der Runden Ecke. Abgerufen am 1. Februar 2024.
- Hanns Jürgen Küsters, Daniel Hofmann (Bearbeiter), Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Deutsche Einheit: Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, Oktober 1998, ISBN 978-3-486-56361-0 (Dokumente zur Deutschlandpolitik), S. 601 (online)
- Birge-Dorothea Pelz: Revolution auf der Kanzel: Politischer Gehalt und theologische Geschichtsdeutung in evangelischen Predigten während der deutschen Vereinigung 1989/90. Vandenhoeck & Ruprecht, 2018, ISBN 978-3-647-55793-9, S. 53 (google.com).
- Tausende protestieren gegen Nachrüstung. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 286, 13. Dezember 1983, S. 8.
- Demos und Aktionen - Gegen Rassismus. In: taz. Nr. 3853, 6. November 1992, S. 2.
- Martina Scherf: 25 Jahre Lichterkette - München leuchtet weiter. In: Süddeutsche Zeitung. 6. Dezember 2017, abgerufen am 28. Januar 2024.
- Norbert Kostede: Erleuchtung für die Politik. In: Die Zeit. 29. Januar 1993, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 29. Januar 2024]).
- Die Münchner Lichterkette: Mehr als 400 000 standen auf den Straßen. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 283/1992, 8. Dezember 1992, S. 38.
- Lichterketten in ganz Bayern: Friedlicher Protest gegen Fremdenhaß - Trotz klirrender Kälte gehen am Nikolaustag zehntausende Menschen auf die Straße. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 282/1992, 7. Dezember 1992, S. 42.
- George Katsiaficas: The Subversion of Politics: European Autonomous Social Movements and the Decolonization of Everyday Life, AK-Press, Oakland [u. a.] 2006, S. 161
- Hamburg leuchtet, Frankfurt rockt gegen Fremdenhass - Lichterkette und Open-air-Konzert. In: taz. Nr. 3884, 14. Dezember 1992, S. 1.
- 300 000 bilden Lichterkette in Essen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 1/53, 2. Januar 1993, S. 1.
- Anita Kugler: Lichterkette: Ganz Berlin war eine Kerze. In: taz. Nr. 3894, 28. Dezember 1992, S. 17.
- Wolfgang Heilig-Achneck: Lichterkette rund um die Altstadt setzte machtvolles Zeichen für menschliches Miteinander - Stiller Protest gegen die Gewalt - Nach einer Schätzung beteiligten sich 100 000 Menschen - Zufahrten zum Zentrum zeitweise blockiert. In: Nürnberger Nachrichten. 18. Dezember 1992.
- Weizäcker: Zeichen des Aufwachens gegen Gewalt. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 295/1992, 22. Dezember 1992, S. 2.
- 20 Jahre "Lichtermeer" für mehr Menschlichkeit, Katholische Kirche in Österreich, 21. Januar 2013. Abgerufen am 7. April 2019.
- Keith Bradsher: Thousands Gather in Hong Kong for Tiananmen Vigil. In: The New York Times. 4. Juni 2009, ISSN 0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 1. Februar 2024]).
- Reuters: Hong Kong Tiananmen vigil organisers convicted under national security law. In: The Guardian. 4. März 2023, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 1. Februar 2024]).
- Hong Kong’s 4 June Tiananmen vigil over the years – in pictures. In: the Guardian. 2. Juni 2021, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 1. Februar 2024]).
- Tiffany May: Hong Kong Remembered the Tiananmen Massacre, Until It Couldn’t. In: The New York Times. 4. Juni 2023, ISSN 0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 1. Februar 2024]).
- Jai Kwan Jung: The candlelight protests in South Korea: a dynamics of contention approach. In: Social Movement Studies. Band 22, Nr. 5-6, 2. November 2023, ISSN 1474-2837, S. 767–785, doi:10.1080/14742837.2022.2053515 (tandfonline.com [abgerufen am 1. Februar 2024]).
- 3000 Menschen bei Lichterkette gegen Fremdenhass, Grafschafter Nachrichten, 5. Februar 2015. Abgerufen am 8. April 2019.
- Lichterkette in Meißen – Nazis wollen Demo für Weltoffenheit kapern, Der Tagesspiegel, 2. Dezember 2015. Abgerufen am 7. April 2019.
- Flüchtlinge in Berlin – Keine Kette - aber viele Lichter, Tagesspiegel, 17. Oktober 2015. Abgerufen am 8. April 2019.
- Legida-Jahrestag – Lichterketten gegen Rechtsbündnis in Leipzig, Deutschlandfunk, 12. Januar 2016. Abgerufen am 7. April 2019.
- Marc Rath: Mit Kerzen ein Zeichen setzen. In: Volksstimme. 16. Januar 2016, abgerufen am 26. Dezember 2019.
- Stefan Schmidt: "Das ist der Durchbruch". In: Altmark-Zeitung. 1. Februar 2016, abgerufen am 26. Dezember 2019.
- Zeichen gegen Fremdenhass. In: Schwäbische Post. 25. Januar 2017, abgerufen am 9. April 2019.
- Gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Gewalt: Menschen-Lichter-Kette für den Frieden am 8.März 2017 um 19:05 h in Berlin, AVAAZ. Abgerufen am 8. April 2019.
- Tausende bei Lichterkette im Wiener Regierungsviertel, meinbezirk.at, 16. November 2017. Abgerufen am 8. April 2019.
- Hunderte Bornheimer bilden Lichterkette gegen Rechts, Generalanzeiger, 19. November 2019. Abgerufen am 8. April 2019.
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- Youthnet | Jugendnetzwerk München. 22. September 2023, archiviert vom am 22. September 2023; abgerufen am 2. Februar 2024.
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