Geschichte Lettlands

Die Geschichte Lettlands umfasst die Entwicklungen auf dem Gebiet der Republik Lettland von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Lettland wurde 1918 zum ersten Mal ein eigenständiger Staat. Die Geschichte Lettlands umfasst insbesondere die Zeiten während des Deutschen Ordens und des Russischen Reiches, den ersten unabhängigen lettischen Staat nach der Unabhängigkeitserklärung 1918 bis zur Errichtung der so genannten Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik als Teil der Sowjetunion als Folge des Hitler-Stalin-Paktes, die deutsche Besetzung während des Zweiten Weltkriegs, die Zeit des Kalten Krieges und die Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1990.

Livland – Lettland und Estland auf einer Karte des 16. Jahrhunderts

Vor- und Frühgeschichte

Baltische Stämme im 12. Jahrhundert

Die Vorgeschichte Lettlands wird gewöhnlich in Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit eingeteilt und dauerte bis ins 12. Jahrhundert n. Chr.

Etwa 14.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung, am Ende der letzten Eiszeit, bildete sich die heutige Moränenlandschaft des Baltikums heraus.[1] Im Gefolge jagbarer Tiere erschienen etwa 9000 v. Chr. die ersten Menschen.

Ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. wanderten aus dem Norden und Nordosten finnugrische Stämme in dieses Gebiet ein. Sie wurden im 2. Jahrtausend v. Chr. von indogermanischen Stämmen teilweise verdrängt oder assimiliert. Diese Vorläufer der späteren Letten und Litauer lebten von Land- und Viehwirtschaft. In antiken Schriften werden die Balten als Aisti oder Aesti bezeichnet und das gesamte Land als „Estland“. Noch der angelsächsische Reisende Wulfstan benutzte im 9. Jahrhundert dieses Wort in der antiken Bedeutung.

Die Balten lebten unter lokalen Fürsten, hatten aber keinen einheitlichen Staat, was eine militärische Schwäche bedeutete und bereits in der Vendelzeit erste skandinavische, Kiewer, später dann polnische und deutsche Interessen anzog.

Man fand zum Beispiel kurische Waffen und Schmuckstücke aus dem 10. Jahrhundert (Ziernadeln, Fibeln und Schwerter) an der gotländischen Küste. In Hugleifs enthielt ein Frauengrab typisch kurischen Schmuck. Das Grab belegt die Anwesenheit von Kuren auf der Insel. Dieselben Ziernadeln und Schwerter findet man auch in großer Zahl in der Umgebung von heutigen Klaipėda und Kretinga. Die Funde auf Gotland und Öland sowie im mittelschwedischen Uppland deuten auf Handelsbeziehungen zu den Balten schon im 10. und 11. Jahrhundert.

Der Deutsche Orden

Die Unterwerfung der lokalen Fürstenstaaten von Liven, Letten, Esten, Kuren und Semgallen durch den Deutschen Orden und ihre Eingliederung in den Ordensstaat

Am 22. September 1236 erlitten Verbände des livländischen Schwertbrüderordens gegen einheimische nichtchristliche Schemaiten und Livländer (Großfürstentum Litauen) in der Schlacht von Schaulen (litauisch Šiauliai) eine schwere Niederlage. Der Deutsche Orden übernahm Lettland und gliederte Livland an den Ordensstaat an (siehe Livländischer Orden). Einige Landesteile blieben beim Bischof von Riga oder bei der Stadt Riga.

Nach der Unterwerfung der Stämme der Liven, Kuren und Semgallen durch den Deutschen Orden kamen deutsche Einwanderer nach Livland. Die deutsche Oberschicht stellte jahrhundertelang das Stadtbürgertum und die Großgrundbesitzer.

Die Hanse

Im Mittelalter verbanden sich die livländischen Städte, allen voran Riga, in der livländischen Konföderation mit der Hanse und waren wirtschaftlich durch die Handelsverbindungen vor allem mit den deutschen Hafenstädten, in die Niederlande und nach Flandern, nach Skandinavien und Russland geprägt.[2]

Die Reformation

Infolge der Reformation wurde der Ordensstaat ein Herzogtum und Livland wurde dabei lutherisch.[3] Der Livländische Krieg dauerte von 1558 bis 1583. Als Teil des Ordensstaates wurde Livland nach dem Ende des livländisch-litauischen Krieges durch die Union von Wilna (28. November 1561) aufgeteilt. Estnische Landesteile gingen an Schweden, einige kleinere Gebiete fielen an Dänemark oder kamen unter polnische Hoheit. Kurland wurde als Erbherzogtum vom letzten Deutschordensmeister Herzog Gotthard Kettler unter polnischer Oberherrschaft geführt, der restliche Teil kam zum vereinten Polen-Litauen. Riga kam nach kurzer Unabhängigkeit, ebenso wie einige der dänischen Besitzungen, ebenfalls zu Polen.

Schweden, Polen und Russland

1629 eroberte Schweden Livland. Kurland blieb ein selbständiges Herzogtum unter polnischer Oberhoheit (Herzogtum Kurland und Semgallen). Auch der südöstlichste Teil Livlands um Dünaburg blieb polnisch (Polnisch-Livland). Der Große Nordische Krieg von 1700 bis 1721 brachte einen erneuten Herrschaftswechsel. Durch den Frieden von Nystad (1721) wurden Livland und Estland russische Provinzen. Durch die Dritte Teilung Polens 1795 kam auch Kurland und Polnisch-Livland (Lettgallen) zu Russland. Kurland und Livland bildeten gemeinsam mit Estland die Ostseegouvernements, die eine gewisse Sonderstellung hatten: sie waren von deutschen Oberschichten geprägt und lutherisch; die städtische Selbstverwaltung war stärker ausgeprägt.

Die Gründung der Republik Lettland 1918 und die Zwischenkriegszeit

Lettland, 1920–1940
Wappen Lettlands (seit 1921)

Ein erwachendes Nationalgefühl der von Russland und der deutschen Oberschicht dominierten Letten führte zu Unabhängigkeitsbewegungen. Im Jahre 1917 wurden Gebiete im Baltikum umstrukturiert: Livland trat seinen estnischen Teil an Estland ab, bekam dafür aber im Süden Kurland angegliedert. Nach der deutschen Besetzung am Ende des Ersten Weltkrieges erklärte am 18. November 1918 der tags zuvor zusammengetretene Lettische Volksrat die Unabhängigkeit Lettlands. Es folgte der Lettische Unabhängigkeitskrieg (bis 1920). Die Roten Lettischen Schützen konnten den Anspruch Sowjetrusslands und der ersten Lettischen Sowjetrepublik gegen das von Esten und Deutsch-Balten (Baltische Landeswehr, Eiserne Division) unterstützte Lettland nicht durchsetzen und mussten sich aus dem Baltikum zurückziehen. Einem gescheiterten Putschversuch der deutsch-baltischen Minderheit folgte dann eine lettische Regierung, die am 11. August 1920 im Friedensvertrag von Riga auch die Anerkennung durch Sowjetrussland erreichte. Die in diesem Vertrag durch die Sprachgrenze bestimmte Grenzziehung sprach Lettland auch Lettgallen zu.

Am 15. Juni 1921 wurde vom Parlament der Beschluss über die Flagge und die Wappen Lettlands getroffen. Diese Insignien wurden von diesem Tag an von allen staatlichen Einrichtungen verwendet. Mit Stand vom 15. Juni 1921 hatte das unabhängige Lettland in vielen europäischen Ländern sowie in China und den USA diplomatische Vertretungen. Am 7. November 1922 trat die Verfassung der Republik Lettland in Kraft.[4] Schon im Dezember 1919 waren den im Land lebenden Minderheiten (Russen, Deutschen, Juden und anderen) weitgehende Rechte gesetzlich gesichert worden, unter anderem eigene Schulen und deren Selbstverwaltung.[5] Der Staat bezahlte einen Lehrer für je 50 Schüler.[6]

In den 1920er Jahren erlebte Lettland eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte. Allein im Jahre 1922 wurden 300 kommunale Bibliotheken eröffnet.[7] Bei der Anzahl der veröffentlichten Bücher (bezogen auf die Einwohnerzahl) stand Lettland – nach Island – in Europa an zweiter Stelle.[7]

Durch einen Staatsstreich am 15. Mai 1934 endete die Zeit der parlamentarischen Regierung.[8] Fortan regierte Kārlis Ulmanis den Staat autoritär.

Das Ende der Unabhängigkeit de facto 1939/1940

Unterzeichnung des Nichtangriffsvertrages zwischen Estland, Lettland und Deutschland am 7. Juni 1939. Von links nach rechts: Außenminister Munters (Lettland), Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und Außenminister Selter (Estland).

Während der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg geriet Lettland zunehmend unter Druck der Sowjetunion und Deutschlands. Am 7. Juni 1939 wurde in Berlin der deutsch-lettische Nichtangriffspakt unterzeichnet. In einem geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes am 23. August 1939 vereinbarten die beiden Großmächte jedoch, dass Lettland zur Einflusssphäre der Sowjetunion zählte.

Die Sowjetunion zwang Lettland ein Beistands- und Stützpunktabkommen auf, das der lettische Außenminister Vilhelms Munters am 5. Oktober 1939 unterzeichnen musste.[9] Am 31. Oktober 1939 wurde ein Umsiedlungsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und Lettland unterzeichnet. Die Umsiedlungen wurden unverzüglich durchgeführt: 48.600 Deutschbalten wurden nach Deutschland umgesiedelt. Diese so genannte Repatriierung wurde am 15. Dezember 1939 für abgeschlossen erklärt. Unter Gewaltandrohung musste Lettland im Juni 1940 der Stationierung von weiteren sowjetischen Truppen zustimmen, welche Lettland am 17. Juni 1940 besetzten.

Eine prosowjetische Regierung wurde installiert und ersuchte um Eingliederung in die Sowjetunion. Die meisten westlichen Staaten erkannten Lettland aber de jure nicht als Teil der Sowjetunion an, der überwiegende Teil davon aber de facto.[10]

Etwa 35.000 Letten wurden 1940 bis 1941 nach Sibirien deportiert, davon allein 15.000 in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 1941.[11] Ein Drittel der in jener Nacht deportierten Letten waren Juden.[12] Die geheimen Befehle zur Deportation der Letten hatte Iwan Serow, General des NKWD, bereits am 11. Oktober 1939, sechs Tage nach dem Sowjetisch-Lettischen „Beistandsabkommen“, unterzeichnet.[13] Die Reste der deutschen Minderheit, die jahrhundertelang die Bildungsschicht des Landes gestellt hatte, wurden umgesiedelt.

Die deutsche Besetzung 1941–1945 und der Holocaust in Lettland

Deutsche, pro-nazistische und anti-sowjetische Propagandatafel (Sommer 1941), Aufnahme einer Propagandakompanie

Vom 10. Juli 1941 bis 1945 war Lettland von der Wehrmacht besetzt. Es wurde als Generalbezirk Lettland unter deutsche Zivilverwaltung gestellt, die dem Reichskommissariat Ostland unterstand, vom 25. Juli 1941 bis zur Düna (ohne Riga) und ab dem 1. September 1941 auch nordöstlich davon. Diese Zivilverwaltung war mit wenigen Leuten besetzt, die es nach dem Jahr der stalinistischen Schreckensherrschaft jedoch leicht hatten, sich als Befreier darzustellen und eine kollaborierende lettische Selbstverwaltung aus so genannten Vertrauensleuten aufzubauen.[14]

Lettische SS-Verbände aus Freiwilligen,[15] später auch zwangsrekrutierte Soldaten, kämpften im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite gegen die Sowjetunion. Einheimische Kollaborateure waren in allen Bereichen am von den Besatzern initiierten Holocaust beteiligt, von Erschießungsaktionen bis zur Registrierung und Beschlagnahme jüdischen Eigentums.[16] Während der deutschen Besetzungszeit fanden Vernichtungsaktionen der deutschen Besatzungsmacht gegen Juden statt, die zur fast völligen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Lettlands führten. Wichtiges Instrument waren hierbei die lettische Hilfspolizei und ein lettisches Sonderkommando unter Viktors Arājs, das dem SD unterstand und einen Teil der Massenerschießungen durchführte.

Am 2. Januar 1942 wurde der Ort Audriņi von deutschen Sicherheitskräften dem Erdboden gleichgemacht und 205 Einwohner in einem nahe gelegenen Wald erschossen. 30 Männer aus Audrini wurden am 4. Januar 1942 in Rēzekne öffentlich erschossen. Grund für das Massaker war die angebliche Unterstützung sowjetischer Soldaten und Partisanen. Neben dem Ghetto Riga bestanden weitere jüdische Ghettos in Daugavpils und Liepāja. Berüchtigte Orte von Massenmorden waren der Wald von Rumbula, der Bickernsche Wald (Biķernieki) und Šķēde (nördlich von Liepāja).

Die zweite Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion 1944/1945

Bis zum 8. Mai 1945 hielten deutsche Truppen, einschließlich der etwa 14.000 Soldaten der 19. SS-Division, die „Festung Kurland“, wo noch im März 1945 unter deutscher Besatzung eine unabhängige Republik Lettland ausgerufen worden war. Nachdem die Rote Armee im Juni 1944 die Landesgrenze überschritten und bis Mai 1945 das gesamte Land unter Kontrolle gebracht hatte, wurden etwa 57.000[17] Einwohner zur Roten Armee eingezogen, vor allem in das 130. Lettische Schützen Korps. Außerdem setzte die Deportation, Inhaftierung und Tötung von Letten – vor allem aus der Ober- und Mittelschicht und Kollaborateure – durch die sowjetische Besatzungsmacht wieder ein. Etwa 200.000 Flüchtlinge waren vor Kriegsende nach Deutschland und etwa 5000 nach Schweden gelangt.[17] Die meisten zogen später weiter in die USA und nach Australien. In diesen Ländern entstanden diverse Exilanten-Gemeinden. Bis 1953 hielten sich im Baltikum Widerstandsnester der „Waldbrüder“, lose Gruppen antikommunistischer Untergrundkämpfer, die offiziell erst 1953 nach dem Tode Josef Stalins und einer politischen Amnestie die Waffen niederlegten.

Lettische SSR 1945–1990

Grenzveränderungen zugunsten Russlands in der Zeit der sowjetischen Okkupation

In der Nachkriegszeit wurde die so genannte Lettische SSR erneuert, die laut der sowjetischen Geschichtsschreibung bereits seit 1940 bestand. Die völkerrechtlich illegale[18] Zugehörigkeit Lettlands zur Sowjetunion wurde von den Alliierten bei den Vereinbarungen zur Nachkriegsordnung (Konferenzen von Teheran und Jalta 1943 und 1945) und bei der Gründung der UNO nicht in Frage gestellt. Aus Sicht der Westmächte waren die baltischen Staaten kein Thema, um dessen Willen man eine Konfrontation mit dem östlichen Kriegsalliierten einzugehen bereit war.[19] Jedoch verfolgten später die wichtigsten westlichen Staaten, vor allem die USA, Großbritannien, Frankreich und auch die Bundesrepublik, die Politik der Nichtanerkennung der sowjetischen Okkupation der baltischen Staaten.[20]

In der Folge drohten Maßnahmen der sowjetischen Zentralregierung die lettische Bevölkerung zur Minderheit in ihrem eigenen Land zu machen. Der bereits erwähnten ersten großen Welle der Massendeportation im Jahr 1941 folgten zwei noch größere im Jahre 1945 und im März 1949. Betroffen waren überwiegend lettische Bauern, mehrheitlich Frauen und Kinder, die in diverse Gebiete Sibiriens zwangsumgesiedelt wurden. Neueren Berechnungen zufolge wurden in den Jahren 1940 bis 1953 etwa 140.000 bis 190.000 lettische Staatsbürger von der Sowjetmacht deportiert oder inhaftiert.[21] Bürger aus anderen Regionen der UdSSR wanderten dagegen in Lettland ein und übernahmen dort führende Positionen. Einige altgediente lettische Parteimitglieder, die sich schon vor dem und im Zweiten Weltkrieg für die Partei eingesetzt hatten (oft im Untergrund) und die als „Nationalkommunisten“ bezeichnet wurden,[22] widersprachen vergeblich, als die Parteileitung den Gebrauch des Russischen in der Öffentlichkeit durchzusetzen begann und die lettische Landessprache zu verdrängen versuchte. Denn die russischsprachige Minderheit in Lettland war in der Kommunistischen Partei Lettlands in der Mehrheit.[22] Lettland wurde „zu einem Laboratorium des Neo-Stalinismus“.[22]

Wer die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen in Sibirien überlebte, durfte erst nach Stalins Tod im Jahr 1956 zurückkehren.[23] Es war jedoch verboten, über das geschehene Unrecht zu reden, so dass die Aufarbeitung erst im Zuge der politischen Veränderungen ab 1987 erfolgen konnte.

Die Landwirtschaft wurde kollektiviert. Die lettische Industrie wurde verstaatlicht und in Kombinaten organisiert. Vor allem in und um Riga wurden neue Fabriken gebaut, deren Belegschaften großteils aus anderen Unionsrepubliken, insbesondere aus der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik kamen. Die forcierte Industrialisierung diente auch der Russifizierung. 1935 lebten in Lettland 77 % Letten, 8,8 % Russen, etwa 5 % Juden, etwa 4 % Deutsche, 2,5 % Polen, 1,4 % Weißrussen und 0,1 % Ukrainer. Dagegen 1989 waren es nur noch 52 % Letten, aber 34 % Russen, 4,5 % Weißrussen, 3,5 % Ukrainer, 2,3 % Polen und 1,3 % Litauer. Während der sowjetischen Zeit führte Lettland stets Finanzen an andere Teile der Sowjetunion ab. Die Dokumente über die Finanzströme zwischen der Zentrale der Gosbank in Moskau und ihrer Außenstelle in Riga zeigen, dass die Lettische SSR durchweg ein Nettozahler war.[24]

Wiederherstellung der Unabhängigkeit 1990

Am 28. Juli 1989 verabschiedete der Oberste Sowjet der Lettischen SSR eine Erklärung, der zufolge Lettland durch „die verbrecherische stalinistische Außenpolitik 1939/1940“ seine Souveränität eingebüßt habe. Fortan, so die Erklärung weiter, würden die in Lettland verabschiedeten Gesetze Vorrang vor denen der Sowjetunion haben – ein Affront gegen Michail Gorbatschows Bemühen, die UdSSR zusammenzuhalten.[25]

Am 18. März 1990 wählten die Bürger Lettlands letztmals einen Obersten Sowjet, der sich als Oberster Rat der Republik Lettland, das heißt als vorläufiges Parlament, konstituierte. Am 4. Mai 1990 erklärte der Oberste Rat der Republik Lettland die Unabhängigkeit des Landes für wiederhergestellt. Dieser Vorgang, dem die sogenannte Singende Revolution vorausgegangen war, wurde seitens der Sowjetunion am 6. September 1991 gemeinsam mit der Unabhängigkeit Litauens und Estlands anerkannt.

Anfangs galt Lettland politisch und wirtschaftlich als instabil. Dem Land stellte sich die Aufgabe, die nationale Identität Lettlands mit der lettischen Identität (der Identität der ethnischen Letten) und der Identität der nicht-lettischen Ethnien in Lettland in Einklang zu bringen,[26] was durch eine besondere Integrations- und Minderheitenpolitik[27] versucht wurde. Zugleich mussten das politische und das wirtschaftliche System vom Kommunismus zu westlicher Demokratie und Marktwirtschaft transformiert werden. Im Laufe der 1990er Jahre erlebte die Wirtschaft einen Aufschwung.

Am 20. September 2003 stimmten in einem Referendum 67 % der Letten für den Beitritt ihres Landes am 1. Mai 2004 zur EU, 32 % stimmten dagegen und 0,7 % enthielten sich bei einer Wahlbeteiligung von 72,5 %. Am 29. März 2004 wurde Lettland auch Mitglied der NATO. Seit dem 1. Januar 2014 nimmt Lettland an der Europäischen Währungsunion teil, der Euro löste den Lats ab.

Siehe auch

Literatur

in der Reihenfolge des Erscheinens

  • Alfreds Bilmanis: Latvijas Werdegang: Vom Bischofstaat Terra Mariana bis zur freien Volksrepublik. Ein Handbuch über Lettlands Geschichte und Gegenwart. 4. Auflage, Lamey, Leipzig 1934.
  • Hans von Rimscha: Die Staatswerdung Lettlands und das baltische Deutschtum. Plates, Riga 1939.
  • Susanne Nies: Lettland in der internationalen Politik. Aspekte seiner Außenpolitik (1918–95). Lit, Münster 1995, ISBN 3-8258-2624-4.
  • Sonja Birli: Lettland, Letten. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 18, Walter de Gruyter, Berlin/New York 2001, ISBN 3-11-016950-9, S. 277–281.
  • Katrin Reichelt: Kollaboration und Holocaust in Lettland 1941–1945. In: Wolf Kaiser (Hrsg.): Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden. Propyläen, Berlin und München 2002, ISBN 3-549-07161-2, S. 110–124.
  • Daina Bleiere, Ilgvars Butulis: Geschichte Lettlands. 20. Jahrhundert. Jumava, Riga 2008, ISBN 978-9984-38-417-7.
  • Ralph Tuchtenhagen: Geschichte der Baltischen Länder. C.H. Beck, München, 3., aktualisierte Auflage 2009, ISBN 978-3-406-50855-4.
  • Björn M. Felder: Lettland im Zweiten Weltkrieg. Zwischen sowjetischen und deutschen Besatzern 1940–1946. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2009, ISBN 978-3-506-76544-4.
  • Ilgvars Butulis, Antonijs Zunda: Latvijas Vēsture. Jumava, Riga 2010, ISBN 978-9984-38-827-4.
  • Katja Wezel: Geschichte als Politikum. Lettland und die Aufarbeitung nach der Diktatur. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-8305-3425-9.
  • Ivars Ījabs, Jan Kusber, Ilgvars Misans, Erwin Oberländer (Hrsg.): Lettland 1918–2018. Ein Jahrhundert Staatlichkeit. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2018, ISBN 978-3-506-78905-1.
  • Valters Nollendorfs, Valters Ščerbinskis (Hrsg.): The impossible resistance: Latvia between two totalitarian regimes 1940–1991. Zinātne, Riga 2021, ISBN 978-9934-599-22-4.
  • Hélène Richard: Wie Lettland das Erbe der Sowjetunion loswerden will – Bündnisse und Initiativen. In: Le Monde diplomatique. Deutsche Ausgabe, 9. Dezember 2021. ISSN 1434-2561 (monde-diplomatique.de).
Commons: Geschichte Lettlands – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Lettland – Quellen und Volltexte

Historisches Kartenmaterial

Grenze zu Russland 1993[28]

Aus dem Atlas To Freeman’s Historical Geography, Edited by J.B. Bury, Longmans Green and Co. Third Edition 1903 ist von der Universität zu Texas (Austin):

Einzelnachweise

  1. Ilgvars Butulis, Antonijs Zunda: Latvijas vēsture. Riga 2010, ISBN 978-9984-38-827-4, S. 13.
  2. Karl Bosl: Europa im Mittelalter. Weltgeschichte eines Jahrtausends. Carl Ueberreuter Verlag, Wien 1970, S. 274.
  3. Peter Hauptmann: Art. Baltikum. II. Das Christentum in Baltikum. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 5: Autokephalie – Biandrata, 1980, S. 145–159, hier S. 148–149.
  4. Adolfs Šilde: Die Entwicklung der Republik Lettland. In: Boris Meissner (Hrsg.): Die baltischen Nationen: Estland, Lettland, Litauen. Markus-Verlag, Köln 1990, ISBN 3-87511-041-2, S. 63–74, hier S. 64.
  5. Adolfs Šilde: Die Entwicklung der Republik Lettland. In: Boris Meissner (Hrsg.): Die baltischen Nationen: Estland, Lettland, Litauen. Markus-Verlag, Köln 1990, S. 66.
  6. Martin Pabst: Meisterboxer und der Koffer mit Schmutzwäsche. Eine Schulzeit im Lettland der 1920er und 1930er. In: Kulturkorrespondenz östliches Europa, Nr. 1427 (Januar / Februar 2022), S. 16–19, hier S. 16.
  7. Adolfs Šilde: Die Entwicklung der Republik Lettland. In: Boris Meissner (Hrsg.): Die baltischen Nationen: Estland, Lettland, Litauen. Markus-Verlag, Köln 1990, S. 68.
  8. Adolfs Šilde: Die Entwicklung der Republik Lettland. In: Boris Meissner (Hrsg.): Die baltischen Nationen: Estland, Lettland, Litauen. Markus-Verlag, Köln 1990, S. 71.
  9. Arveds Schwabe: Histoire du peuple letton. Bureau d’Information de la Légation de Lettonie à Londres, Stockholm 1953, S. 223.
  10. Peter Van Elsuwege: From Soviet Republics to EU Member States: A Legal and Political Assessment of the Baltic States’ Accession to the EU. Leiden 2008, ISBN 978-90-04-16945-6, S. 34 f.
  11. Ansgar Graw: Der Freiheitskampf im Baltikum. Straube, Erlangen 1991, ISBN 3-927491-39-X, S. 127.
  12. Lettland. In: Eberhard Jäckel (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Band 2: H–R. Argon, Berlin 1993, ISBN 3-87024-302-3, S. 854–857, hier S. 856.
  13. Valdis O. Lumans: Latvia in World War II. Fordham University Press, 2006, ISBN 0-8232-2627-1, S. 135.
  14. „Wir hatten nur die SS – und die Rote Armee“. In: Welt Online. Abgerufen am 16. Mai 2015 (Edgars, damals ein Teenager, kann nicht genau beschreiben, wie er den Kriegsbeginn erlebte, was er fühlte. Kriegsbeginn, das war hier im Sommer 1940. Er war auf dem Schulweg, als er den ersten sowjetischen Panzer sah. „Der Nachbar kommt mit dem Panzer, was kann da schon fröhlich sein?“ Aber die Skreijas hatten Glück. Niemand wurde deportiert, niemand verhaftet. Die Familie konnte weiter wirtschaften, fast wie bisher, auch wenn sie aus lettischen über Nacht zu Sowjetbürgern geworden waren. […] Es war wiederum im Sommer, im Jahre ’41, als Panzer der Wehrmacht durch die Straßen rollten. Edgars strahlt: „Ein schöner, fröhlicher, heller Tag. Für die Letten.“ Blumen, Fahnen, Lieder auf den Straßen. Hat er die Deutschen als Befreier gesehen? „Bestimmt! Als Befreier von dieser Mordregierung.“ Die Sowjets hatten schlechte Erinnerungen hinterlassen. Sie hatten zehntausende Letten bei Nacht und Nebel nach Sibirien deportiert und eine Marionettenregierung installiert.).
  15. Inesis Feldmanis, Kārlis Kangeris: The Volunteer SS Legion in Latvia. (Memento vom 5. Juni 2011 im Internet Archive) Lettisches Außenministerium, 2004.
  16. Katrin Reichelt: Kollaboration und Holocaust in Lettland 1941–1945. In: Wolf Kaiser: Täter im Vernichtungskrieg. Der Überfall auf die Sowjetunion und der Völkermord an den Juden. Berlin/München 2002, S. 115.
  17. Ilgvars Butulis, Antonijs Zunda: Latvijas vēsture. Riga 2010, ISBN 978-9984-38-827-4, S. 148.
  18. Peter Van Elsuwege: From Soviet Republics to EU Member States: A Legal and Political Assessment of the Baltic States’ Accession to the EU. BRILL, 2008, ISBN 978-90-04-16945-6 (google.com [abgerufen am 12. August 2016]).
  19. Joachim Tauber: Die Geschichte der baltischen Staaten bis 1945. In: Michèle Knodt, Sigita Urdze (Hrsg.): Die politischen Systeme der baltischen Staaten. Eine Einführung. Springer VS, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-531-19555-1, S. 17–33, hier S. 30.
  20. Siehe beispielsweise die Erklärung des US-Außenministers John Foster Dulles vom 29. Mai 1957 zur Nichtanerkennung der Einverleibung Lettlands durch die Sowjetunion („that the Incorporation of Latvia by the Union of Soviet Socialist Republics is not recognised by the Government of the United States of America“), zitiert in Agnis Balodis: Latvijas un latviešu tautas vēsture. Neatkarīgā Teātra „Kabata“ Grāmatu Apgāds, Riga 1991, S. 339 (lettisch: Geschichte Lettlands und des lettischen Volkes).
  21. Daina Bleiere, Ilgvars Butulis, Antonijs Zunda, Aivars Stranga, Inesis Feldmanis: Latvijas vēsture: 20. gadsimts. Jumava, Rīga 2005, ISBN 9984-05-865-4, S. 304.
  22. Juris Rozenvalds: Baltische Staaten und ihre Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Michèle Knodt, Sigita Urdze (Hrsg.): Die politischen Systeme der baltischen Staaten. Eine Einführung. Springer VS, Wiesbaden 2012, S. 55–74, hier S. 63.
  23. Rasma Silde-Karklins: Formen des Widerstands im Baltikum 1940–1968. In: Theodor Ebert (Hrsg.): Ziviler Widerstand. Fallstudien zur gewaltfreien, direkten Aktion aus der innenpolitischen Friedens- und Konfliktforschung. Bertelsmann Universitätsverlag, Düsseldorf 1970, ISBN 3-571-09256-2, S. 208–234.
  24. Rudolf Hermann: Das Baltikum will Gerechtigkeit. Kompensationsforderungen an Moskau in Milliardenhöhe. In: Neue Zürcher Zeitung vom 14. Dezember 2016, S. 7.
  25. Florian Anton: Staatlichkeit und Demokratisierung in Lettland. Entwicklung – Stand – Perspektiven. Ergon-Verlag, Würzburg 2009, ISBN 978-3-89913-702-6, S. 181.
  26. Julija Perlova: Identitätskonstruktionen in den Medien am Beispiel Lettlands. Eine Frameanalyse zu den Europawahlen 2004 und 2009. (PDF; 891 kB) 2010, S. 16 f.
  27. Toms Ancitis: Geschenkte Einbürgerung? In Lettland wird nach einer Unterschriftenaktion erneut über den Status der Nichtbürger debattiert. Neues Deutschland, 19. September 2012.
  28. RIA Novosti archive, image #631781 / V. Borisenko (CC-BY-SA 3.0)
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