Lengnau AG
Lengnau (schweizerdeutsch: , surbtalerjiddisch: [5][6]) ist eine Einwohnergemeinde im Schweizer Kanton Aargau. Sie gehört zum Bezirk Zurzach und liegt im Surbtal, in Luftlinie rund sieben Kilometer von der Grenze zu Deutschland entfernt. Im 18. und 19. Jahrhundert waren Lengnau und das Nachbardorf Endingen die einzigen Orte der Schweiz, wo sich Juden niederlassen durften.
AG ist das Kürzel für den Kanton Aargau in der Schweiz und wird verwendet, um Verwechslungen mit anderen Einträgen des Namens Lengnau zu vermeiden. |
Lengnau | |
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Staat: | Schweiz |
Kanton: | Aargau (AG) |
Bezirk: | Zurzach |
BFS-Nr.: | 4312 |
Postleitzahl: | 5426 |
Koordinaten: | 667101 / 263687 |
Höhe: | 415 m ü. M. |
Höhenbereich: | 398–609 m ü. M.[1] |
Fläche: | 12,67 km²[2] |
Einwohner: | 2866 (31. Dezember 2022)[3] |
Einwohnerdichte: | 226 Einw. pro km² |
Ausländeranteil: (Einwohner ohne Schweizer Bürgerrecht) | 15,6 % (31. Dezember 2022)[4] |
Website: | www.lengnau-ag.ch |
Dorfzentrum von Lengnau | |
Lage der Gemeinde | |
Geographie
Die Gemeinde liegt in der Übergangszone zwischen Tafeljura im Norden und dem Schweizer Mittelland im Süden. Das Dorf besteht aus den Ortsteilen Oberlengnau und Unterlengnau, deren Bebauung heute zusammengewachsen ist. Beide Ortsteile liegen an der Surb, die hier in nordwestlicher Richtung fliesst. Das wellige Gelände steigt im Norden zum Wannenbuck (591 m ü. M.) an. Ganz im Norden hat Lengnau einen kleinen Anteil am Tal des Chrüzlibachs, der bei Rekingen in den Hochrhein mündet. Im Süden befinden sich das Gländ (609 m ü. M.) und der Hüsliberg (605 m ü. M.); beide Hügel sind Teil des Siggenbergs, der die natürliche Grenze zum Limmattal bildet. Jeweils zwei Kilometer vom Dorfzentrum entfernt liegen die folgenden Weiler: Vogelsang (495 m ü. M.) im Norden, Himmelrich (560 m ü. M.) im Nordosten, Husen (475 m ü. M.) im Süden und Degermoos (495 m ü. M.) im Westen.[7]
Die Fläche des Gemeindegebiets beträgt 1267 Hektaren, davon sind 477 Hektaren bewaldet und 130 Hektaren überbaut.[8] Der höchste Punkt liegt auf 609 Metern auf dem Gländ, der tiefste auf 380 Metern an der Surb. Nachbargemeinden sind Zurzach im Norden, Schneisingen im Osten, Ehrendingen im Südosten, Freienwil im Süden, Obersiggenthal im Südwesten, Endingen im Westen.
Geschichte
Vor rund 2000 Jahren bestand in Lengnau ein römischer Gutshof. Ungefähr im 6. Jahrhundert siedelten sich die Alamannen an. Die erste urkundliche Erwähnung von Leginwanc erfolgte im Jahr 798, als der Thurgauer Graf Odalricus dem Kloster St. Gallen einige Grundstücke schenkte. Der Ortsname stammt vom althochdeutschen (ze demo) lengin wanc und bedeutet beim langgestreckten Abhang.[5] Von Mitte des 11. bis Mitte des 12. Jahrhunderts herrschten die Freiherren von Lengnau, von der Burg dieses Ministerialengeschlechts ist nichts erhalten geblieben. Die niedere Gerichtsbarkeit wurde von der Deutschritterkommende Beuggen ausgeübt, im Weiler Husen von der Johanniterkommende Leuggern. Weitere bedeutende Grundbesitzer waren die Klöster Einsiedeln, St. Blasien und Wettingen. Die Blutgerichtsbarkeit und die Landeshoheit lagen in den Händen der Habsburger.
1415 eroberten die Eidgenossen den Aargau. Lengnau gehörte nun zum Amt Ehrendingen der Grafschaft Baden, einer Gemeinen Herrschaft. Zwischen 1623 und 1633 wurden die Juden aus den Schweizer Städten vertrieben und in Oberlengnau angesiedelt. Zahlreiche Flüchtlinge stammten aus dem Deutschen Reich, wo der Dreissigjährige Krieg wütete. Ab 1678 liessen sich die Juden auch im Nachbardorf Endingen nieder. Sie unterstanden direkt dem Landvogt in Baden und durften weder Landwirtschaft betreiben noch ein Handwerk ausüben. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie vor allem an der international bedeutenden Zurzacher Messe und am Markt in Baden. Ab 1696 mussten sie sich alle 16 Jahre einen teuren Schutz- und Schirmbrief erkaufen. Ab 1776 war das Wohnrecht sämtlicher Juden in der Schweiz auf Endingen und Lengnau beschränkt.[9] Da sie sich nachts nur in den beiden Dörfern aufhalten durften, war ihr Aktionsradius stark eingeschränkt.
Im März 1798 nahmen die Franzosen die Schweiz ein und riefen die Helvetische Republik aus, Lengnau gehörte zunächst zum kurzlebigen Kanton Baden. Der neue Staat war bald in weiten Kreisen der Bevölkerung verhasst. Dieser Hass entlud sich am 21. September 1802 im so genannten «Zwetschgenkrieg» gegen die Juden, die als Anhänger der neuen liberaleren Ordnung galten. Eine Horde von über 800 Bewohnern aus den Nachbardörfern fiel über Endingen und Lengnau her und bereicherte sich am Hab und Gut der wehrlosen Juden, die christlichen Einwohner hingegen blieben weitgehend unbehelligt[10].
Seit 1803 gehört Lengnau zum Kanton Aargau. Die jüdische Korporation verwaltete sich selbst und führte eine eigene Schule. Erst mit der revidierten Bundesverfassung von 1874 erhielten die Juden die vollständige Gleichberechtigung. In der Folge zogen fast alle in die grossen Städte (vor allem nach Zürich), wo sie bessere Verdienstmöglichkeiten vorfanden. Dadurch sank die Bevölkerungszahl des Dorfes markant. Von 1875 bis 1903 gab es im Dorf die damals einzige Mazzenbäckerei der Schweiz. Heute leben in Lengnau nur noch wenige jüdische Einwohner, die meisten davon im Israelitischen Altersheim. 1847 wanderte Meyer Guggenheim und seine Familie über Hamburg in die USA aus und liess sich in Philadelphia nieder. Die Familie Guggenheimstieg innerhalb einer Generation zu einer der reichsten Familien in den USA auf.
Nach der Eröffnung der Bahnstrecke Turgi–Koblenz–Waldshut im Jahr 1859 und der Bahnstrecke Dielsdorf–Niederweningen im Jahr 1891 reichten die Gemeinden des Surbtals eine Konzession für den Bau einer Verbindungsstrecke zwischen Niederweningen und Döttingen ein. Doch der Erste Weltkrieg verhinderte den Bau der Surbtalbahn, und das Projekt wurde 1937 endgültig abgeschrieben. Vor allem seit Beginn der 1960er Jahre ist das Dorf stark gewachsen. Dazu beigetragen haben die Ansiedlung zahlreicher kleiner und mittlerer Gewerbebetriebe sowie die Nähe zu den Städten Baden und Zürich.
Sehenswürdigkeiten
Die Synagoge Lengnau entstand zwischen 1845 und 1847 nach Plänen von Ferdinand Stadler im Rundbogenstil der Neuromanik. Direkt gegenüber der Synagoge und wie diese auf einer erhöhten Plattform steht die katholische Kirche St. Martin, die älteste Kirche des gesamten Surbtals.
Die für Lengnau und Endingen typischen Häuser mit zwei nebeneinander liegenden Haustüren (jeweils eine für Juden, eine für Christen) sind die Folge diskriminierender behördlicher Erlasse. Den Juden war untersagt, Grund und Liegenschaften zu besitzen. Da sie auch nicht mit Christen unter einem Dach leben durften, boten zweitürige Häuser die Möglichkeit, das Kohabitationsverbot zu umgehen. Die verschiedenen jüdischen Bauwerke des Dorfes sind durch den Jüdischen Kulturweg Endingen-Lengnau miteinander verbunden. Aus dem Vermittlungsprojekt «Doppeltür»[11] entstand der gleichnamige Verein, der im Oktober 2018 mit dem Kauf eines Doppeltür-Hauses in Lengnau die Realisierung eines Besucherzentrums umzusetzen begann.[12]
Wappen
Die Blasonierung des Gemeindewappens lautet: «In Rot auf grünem Boden schreitendes weisses Pferd.» Das Wappen erschien erstmals 1808 auf dem Gemeindesiegel. Angeblich soll es sich um das Wappen von Kaspar Josef Bucher handeln, der damals Gemeindeammann war und die Taverne «Zum Rössli» betrieb.[13]
Bevölkerung
Die Einwohnerzahlen entwickelten sich wie folgt:[14]
Jahr | 1799 | 1850 | 1900 | 1930 | 1950 | 1960 | 1970 | 1980 | 1990 | 2000 | 2010 | 2020 |
Einwohner | 950 | 1761 | 1119 | 1197 | 1355 | 1356 | 1592 | 1882 | 2052 | 2287 | 2541 | 2770 |
Am 31. Dezember 2022 lebten 2866 Menschen in Lengnau, der Ausländeranteil betrug 15,6 %. Bei der Volkszählung 2015 bezeichneten sich 49,2 % als römisch-katholisch und 19,0 % als reformiert; 31,8 % waren konfessionslos oder gehörten anderen Glaubensrichtungen an.[15] 93,1 % gaben bei der Volkszählung 2000 Deutsch als ihre Hauptsprache an, 1,8 % Albanisch, 1,2 % Italienisch und 0,7 % Englisch.[16]
Politik und Recht
Die Versammlung der Stimmberechtigten, die Gemeindeversammlung, übt die Legislativgewalt aus. Ausführende Behörde ist der fünfköpfige Gemeinderat. Er wird im Majorzverfahren vom Volk gewählt, seine Amtsdauer beträgt vier Jahre. Der Gemeinderat führt und repräsentiert die Gemeinde. Dazu vollzieht er die Beschlüsse der Gemeindeversammlung und die Aufgaben, die ihm vom Kanton zugeteilt wurden. Für Rechtsstreitigkeiten ist in erster Instanz das Bezirksgericht Zurzach zuständig. Lengnau gehört zum Friedensrichterkreis XVII (Zurzach).[17]
Wirtschaft
In Lengnau gibt es gemäss der im Jahr 2015 erhobenen Statistik der Unternehmensstruktur (STATENT) rund 950 Arbeitsplätze, davon 11 % in der Landwirtschaft, 36 % in der Industrie und 53 % im Dienstleistungssektor.[18] Mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen sind Wegpendler und arbeiten in den umliegenden Gemeinden und vor allem in der Region Baden.
Verkehr
Lengnau liegt an der Hauptstrasse 17, die von Döttingen durch das Surbtal und das Wehntal nach Zürich führt. Drei Postautolinien erschliessen das Dorf: Von Tegerfelden bzw. Endingen zum Bahnhof Baden sowie von Döttingen nach Niederweningen. Beim Bahnhof Niederweningen besteht Anschluss an die S-Bahn Zürich. An Wochenenden verkehrt ein Nachtbus von Baden über das Surbtal und Klingnau nach Bad Zurzach.
Bildung
Die Gemeinde verfügt über zwei Kindergärten und vier Schulhäuser für Primarschule, Sekundarschule und Realschule. Die Bezirksschule kann in Endingen besucht werden. Die nächstgelegenen Gymnasien sind die Kantonsschule Baden und die Kantonsschule Wettingen.
Persönlichkeiten
- Selig Pinchas Bamberger (1872–1936), Rabbiner
- Markus G. Dreyfus (1812–1877), Publizist
- Alis Guggenheim (1896–1958), Bildhauerin und Malerin
- Meyer Guggenheim (1828–1905), Stammvater der amerikanischen Guggenheim-Linie
- Karl Kloter (1911–2002), Schriftsteller
- Theodor Kloter (1916–1990), Politiker
- Silvia Trummer (* 1940), Schriftstellerin
- Alina Müller (* 1998), Eishockeyspielerin
- Patrik Müller (* 1975), Journalist
Literatur
- Andreas Steigmeier: Lengnau (AG). In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- Alexandra Binnenkade: KontaktZonen. Jüdisch-christlicher Alltag in Lengnau, Köln 2009 (Diss. Basel).
- Alexandra Binnenkade, Ekaterina Emeliantseva, Svjatoslav Pacholkiv: Vertraut und fremd zugleich: jüdisch-christliche Nachbarschaften in Warschau – Lengnau – Lemberg. Geleitwort von Heiko Haumann (= Jüdische Moderne. Band 8). Böhlau, Köln, Weimar, Wien 2009, ISBN 978-3-412-20177-7.
- Edith Hunziker, Ralph Weingarten: Die Synagogen von Lengnau und Endingen und der jüdische Friedhof. In: Schweizerische Kunstführer. Band 771/772. Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, Bern 2005, ISBN 3-85782-771-8.
- Anna Rapp: Jüdisches Kulturgut in und aus Endingen und Lengnau. Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2008, ISBN 978-3-89735-493-7.
- Peter Stein: Lebendiges und untergegangenes jüdisches Brauchtum, Brauch gestern und heute, Brauch hier und dort, mit besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Judendörfer Endingen und Lengnau. Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2008, ISBN 978-3-89735-551-4.
Weblinks
- Offizielle Website der Gemeinde Lengnau
- Bundesamt für Kultur: Lengnau im Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz
- Vermittlungsprojekt «Doppeltür»
- Jüdische Geschichte in Lengnau und Endingen hautnah erleben. In: SRF, 28. April 2016
- Was die Guggenheim-Museen mit einem Aargauer Dorf zu tun haben In: Zeitblende auf Schweizer Radio und Fernsehen vom 9. März 2024 (Audio)
Einzelnachweise
- Generalisierte Grenzen 2023. Bei späteren Gemeindefusionen Flächen aufgrund Stand 1. Januar 2020 zusammengefasst. Abruf am 7. September 2023.
- Generalisierte Grenzen 2023. Bei späteren Gemeindefusionen Flächen aufgrund Stand 1. Januar 2020 zusammengefasst. Abruf am 7. September 2023.
- Ständige Wohnbevölkerung nach Staatsangehörigkeitskategorie, Geschlecht und Gemeinde, definitive Jahresergebnisse, 2022. Bei späteren Gemeindefusionen Einwohnerzahlen aufgrund Stand 2022 zusammengefasst. Abruf am 5. September 2023
- Ständige Wohnbevölkerung nach Staatsangehörigkeitskategorie, Geschlecht und Gemeinde, definitive Jahresergebnisse, 2022. Bei späteren Gemeindefusionen Einwohnerzahlen aufgrund Stand 2022 zusammengefasst. Abruf am 5. September 2023
- Beat Zehnder: Die Gemeindenamen des Kantons Aargau. In: Historische Gesellschaft des Kantons Aargau (Hrsg.): Argovia. Band 100. Verlag Sauerländer, Aarau 1991, ISBN 3-7941-3122-3, S. 245–247.
- Material Sprachatlas der deutschen Schweiz, vgl. sprachatlas.ch.
- Landeskarte der Schweiz, Blatt 1070, Swisstopo.
- Arealstatistik Standard – Gemeinden nach 4 Hauptbereichen. Bundesamt für Statistik, 26. November 2018, abgerufen am 15. Juni 2019.
- Caspar Battegay, Naomi Lubrich: Jüdische Schweiz: 50 Objekte erzählen Geschichte. Hrsg.: Jüdisches Museum der Schweiz. Christoph Merian, Basel 2018, ISBN 978-3-85616-847-6, S. 62–65.
- Erika Hebeisen: Das Pogrom von 1802 gegen die jüdischen Gemeinden im Surbtal. Abgerufen am 7. September 2019.
- Vermittlungsprojekt Endingen Lengnau DOPPELTÜR
- Neues Zentrum soll Geschichte der Aargauer Juden erzählen. Schweizer Radio und Fernsehen, 30. Oktober 2018, abgerufen am 30. Oktober 2018.
- Joseph Galliker, Marcel Giger: Gemeindewappen des Kantons Aargau. Lehrmittelverlag des Kantons Aargau, Buchs 2004, ISBN 3-906738-07-8, S. 200.
- Bevölkerungsentwicklung in den Gemeinden des Kantons Aargau seit 1850. (Excel) In: Eidg. Volkszählung 2000. Statistik Aargau, 2001, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 8. Oktober 2018; abgerufen am 15. Juni 2019.
- Wohnbevölkerung nach Religionszugehörigkeit, 2015. (Excel) In: Bevölkerung und Haushalte, Gemeindetabellen 2015. Statistik Aargau, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 20. Oktober 2019; abgerufen am 15. Juni 2019. Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Eidg. Volkszählung 2000: Wirtschaftliche Wohnbevölkerung nach Hauptsprache sowie nach Bezirken und Gemeinden. (Excel) Statistik Aargau, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 12. August 2018; abgerufen am 15. Juni 2019.
- Friedensrichterkreise. Kanton Aargau, abgerufen am 15. Juni 2019.
- Statistik der Unternehmensstruktur (STATENT). (Excel; 157 kB) Statistik Aargau, 2016, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 8. Mai 2019; abgerufen am 15. Juni 2019. Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.