Lektine

Lektine sind komplexe Proteine oder Glykoproteine, die spezifische Kohlenhydratstrukturen binden und dadurch in der Lage sind, sich spezifisch an Zellen bzw. Zellmembranen zu binden und von dort aus biochemische Reaktionen auszulösen.[1] Sie üben jedoch keine enzymatische Aktivität aus.

Hämagglutinin lateral

Lektine (lateinisch legere ‚lesen‘, ‚auswählen‘) können verschiedene Stoffwechselvorgänge wie die Zellteilung, die ribosomale Proteinbiosynthese, die Agglutination von Zellen (in Bezug auf rote Blutkörperchen ist das eine Hämagglutination) oder das Immunsystem (Ficoline) beeinflussen.

Lektine sind weit verbreitet. Sie können von Tieren,[1][2] Pflanzen[1][3][4][5] oder Mikroorganismen gebildet werden.

Einteilung

Zu den Lektinen gehören N-Acetylglucosamin-bindende Gramineae-Lektine, die Chitin-bindenden Solanaceae-Lektine, die Gruppe der Leguminosen-Lektine und die Mannose-bindenden Lektine aus Amaryllidaceae, Alliaceae und Orchidaceae. Die Lektine aus Aegopodium podagraria und Urtica dioica sind bisher keiner Gruppe zugeordnet. Darüber hinaus sind noch viele weitere Lektine bekannt.[6]

Zu Lektinen zählen auch einige AB-Toxine wie z. B. hochmolekulare Samenglykoproteine wie das Rizin oder wie die bakteriellen Toxine Shiga-Toxin, Vero-Toxin, Diphtherietoxin, Exotoxin A oder alpha-Sarcin. Abrin, Phasine (nach Phaseolus vulgaris, der Gartenbohne: Red kidney bean lectin, Erythroagglutinin, PHA-E, Phaseolin)[3] und IgSF (englisch I-type lectins ‚I Typ Lektine‘),[2][4] Calnexin und Calreticulin sind verschiedene Lektine. Ein Beispiel für ein Lektin ohne Zuckerrest ist Concanavalin A[3] aus den Samen der Jackbohne Canavalia ensiformis.

Lektin-Bezeichnungen, Vorkommen und Funktionen
BezeichnungOrganismenphysiologische FunktionBesonderheitenKohlenhydratspezifität
AbrinAbrus precatorius
alpha-SarcinSchimmelpilz Aspergillus giganteusTranslationshemmungToxin
CalnexinChaperon
CalreticulinChaperon
Concanavalin AJackbohneohne Zuckerresteα-D-mannosyl- und α-D-glucosyl-Reste
DiphtherietoxinCorynebacterium diphtheriaeEindringen in Zellen und TranslationshemmungDiphtherie
Exotoxin APseudomonas aeruginosaEindringen in ZellenToxin
Immunglobulin-SuperfamilieSäugetiere
Linsen-Lektin (LCH)Lens culinarisMannosylierte Fucose
MitogillinSchimmelpilz Aspergillus restrictus TranslationshemmungToxin
PhasineGartenbohne, KichererbseAgglutinineHämagglutination, Toxin, hitzedeaktivierbar
Winterling-LektinWinterling Eranthis hyemalisTranslationshemmungRibosom-inaktivierendes Protein Typ IIN-Acetyl-D-galactosamin[7]
Erdnuss-Agglutinin (PNA)ErdnussGalactose-β1-3-N-Acetylgalactosamin-α1-Ser/Thr
Favabohnen-Lektin (VFA)Favabohne
Hämagglutinin (HA)Influenzavirus
Holunder-Lektin (SNA)Schwarzer Holunderauch Nigrin B genanntNeu5Ac-α2-6-GalNAc-Reste
Jacalin (AIL)Artocarpus integrifolia(Sialinsäure)-Gal-β1-3-GalNAc-α1-Serin/Threonin
Maackia amurensis Leukoagglutinin (MAL)Asiatisches GelbholzNeu5Ac/Gc-α2-3-Gal-β1-4-GlcNAc
Maackia amurensis Hämoagglutinin (MAH)Asiatisches GelbholzNeu5Ac/Gc-α2-3-Gal-β1-3-(Neu5Ac-α2,6)GalNac
Orangeroter-Becherling-Lektin (AAL)Orangeroter BecherlingFucα1-2Galβ1-4(Fucα1-3/4)Galβ1-4GlcNAc, R2-GlcNAcβ1-4(Fucα1-6)GlcNAc-R1
Phytohämagglutinin (PHA)Leguminosen
RestrictocinSchimmelpilz Aspergillus restrictus TranslationshemmungToxin
Ricin (RCA)WunderbaumTranslationshemmungSamenglykoproteinGalactose-β1-4-N-Acetylgalactosamin-β1-Reste
RobinGewöhnliche Robinie
Schneeglöckchen-Lektin (GNA)Kleines Schneeglöckchenα-1-3- und α-1-6-verknüpfte Mannose
Shiga-ToxinShigella dysenteriaeTranslationshemmungShigellose
Soyabohnen-Lektin (SBA)Sojabohne
Stechginster-Lektine (Gorse, Furze, UEA-I)StechginsterUEA: Fucα1-2Gal-R
Vero-ToxinEnterohämorrhagische Escherichia coliBakterienruhr
Weizenkeim-Lektin (WGA)WeizenGlcNAc-β1-4-GlcNAc-β1-4-GlcNAc, 5-Acetyl-Neuraminsäure
Wicken-Lektin (VVL)Vicia villosa

Funktionen und Wirkungen

Wirkung in der Ernährung

Einige Gemüsearten enthalten in frischem Zustand Lektine, die giftig für den Menschen oder Haustiere sind. Diese Lektine werden durch Erhitzen beim Kochen, Frittieren oder andere Formen von Garen denaturiert und dabei in eine ungefährliche chemische Form umgewandelt. Sie behalten diese ungefährliche Form auch, nachdem die Speise wieder abgekühlt ist. Gartenbohnen, Kichererbsen und Sojabohnen sollten daher nur gegart konsumiert werden.[4]

Die giftige Wirkung von Lektinen in der Ernährung besteht darin, dass sie rote Blutkörperchen verklumpen lassen.[8] Ab einer bestimmten Menge führen manche Lektine zu Kopfschmerzen, Erbrechen, Durchfall sowie zu Magen- und Darmbeschwerden, in extremen Fällen kann der Verzehr tödlich enden. Bei besonders lektinreichen Arten, wie beispielsweise Feuerbohnen, können bereits vier oder fünf rohe Samen beim Erwachsenen ernste Symptome verursachen. Vergiftungssymptome treten rasch ein, meist ein bis drei Stunden nach Verzehr, und verschwinden in der Regel ebenso rasch wieder – etwa drei bis vier Stunden nach dem Einsetzen.[5][9]

Antibiotische Wirkung

In ihrer Wirkungsweise ähneln Lektine oftmals den Antibiotika. So ist Rizin ein potenter Hemmer der ribosomalen Proteinbiosynthese. Zum Teil wirken Lektine toxisch auf Kleinlebewesen und finden somit Verwendung als Pflanzenschutzmittel gegen Insekten.

Botenstoffe

Lektine sind in der Regel an der äußeren Membranoberfläche angelagert. Zudem spielen sie eine Rolle bei der Kommunikation und Interaktion von Zellen und Organismen. Sie sind beispielsweise an vielen Erkennungsprozessen beteiligt. So können sich mit Hilfe der Lektin-Polysaccharid-Interaktion Bakterien wie das Rhizobium trifolii an die Wurzeln von Klee heften. Mit der Erkennung wird die Symbiose von Knöllchenbakterien und Hülsenfrüchtlern erst möglich und ist dadurch spezifisch.

Ähnliche Erkennungsmechanismen spielen bei der Befruchtung der menschlichen Eizelle eine Rolle.

Keimung

Lektine können im Rahmen der Ontogenese eine Rolle spielen. Durch den Keimvorgang werden einige pflanzliche Lektine inaktiviert.

Chaperone

Beispiele für Lektine sind Calnexin und Calreticulin, die als Chaperone bei der Proteinfaltung dienen.

Sialoadhesin, ein SIGLEC (ein IgSF) komplexiert mit einem Sialinsäure-Glycan.
lila: Glycan, grün: Protein-Kohlenstoff, rot: Sauerstoff, blau: Stickstoff, weiß: Wasserstoff

IgSF

Über 500 verschiedene Proteine der IgSF-Immunglobulin-Familie wurden aufgrund bioinformatischer Analysen von Säugetier-Genomen vorausgesagt.[2] Dazu gehört die SIGLEC-Familie (englisch sialic acid–binding immunoglobulin-type lectins), eine Gruppe Sialinsäure bindender Lektine.[2]

Vorkommen in Hülsenfrüchten

Folgende Tabelle stellt den Lektingehalt verschiedener Hülsenfrüchte dar (laut USFDA):[5]

SorteLektingehalt in hämagglutinierenden Einheiten (HAE)
Rote Kidney-Bohne, roh20.000–70.000
Weiße Kidneybohne, roh7.000–23.000
Ackerbohne, roh1.000–7.000
Rote Kidney-Bohne, gargekocht200–400

Einzelnachweise

  1. Irwin J. Goldstein, Colleen E. Hayes: The lectins: carbohydrate-binding proteins of plants and animals. In: Advances in Carbohydrate Chemistry and Biochemistry. Band 35, 1978, S. 127–340. doi:10.1016/S0065-2318(08)60220-6
  2. Varki Ajit, Paul R. Crocker: I-type lectins. In: A. Varki, R. D. Cummings, J. D. Esko u. a.: Essentials of Glycobiology. 2. Auflage. 2009. PMID 20301278, Kapitel 32
  3. Patent EP1008852: Verfahren zum spezifischen Nachweis von glykosylierten Proteinen. Angemeldet am 15. November 1999, veröffentlicht am 3. September 2003, Anmelder: Aventis Behring, Erfinder: Annette Feussner, Jürgen Römisch.
  4. Jacqueline Kupper, Cornelia Reichert: Vergiftungen mit Pflanzen. In: Therapeutische Umschau. Band 66, Nr. 5, 2009, S. 343–348, doi:10.1024/0040-5930.66.5.343.
  5. FDA: Bad Bug Book: Foodborne Pathogenic Microorganisms and Natural Toxins Handbook Phytohaemagglutinin. (Memento vom 8. März 2013 im Internet Archive)
  6. Arpad Pusztai, Susan Bardocz: Lectins – Biomedical Perspectives. Taylor & Francis, 2005, ISBN 0-7484-0177-6, S. 2ff.
  7. M. T. McConnell, D. R. Lisgarten, L. J. Byrne, S. C. Harvey, E. Bertolo: Winter Aconite (Eranthis hyemalis) Lectin as a cytotoxic effector in the lifecycle of Caenorhabditis elegans. In: PeerJ. Band 3, 2015, S. e1206, doi:10.7717/peerj.1206, PMID 26312191, PMC 4548470 (freier Volltext).
  8. Nathan Sharon, Halina Lis: Lectins: Cell-Agglutinating and Sugar-Specific Proteins. In: Science. 177. Jahrgang, Nr. 4053, 1972, S. 949–959, doi:10.1126/science.177.4053.949, PMID 5055944, bibcode:1972Sci...177..949S.
  9. Informationszentrale gegen Vergiftungen: Gartenbohne

Literatur

  • Rudolf Hänsel, Otto Sticher (Hrsg.): Pharmakognosie – Phytopharmazie. 9., überarb. und aktualisierte Auflage. Springer, Heidelberg 2010, ISBN 978-3-642-00962-4, Kapitel 21: Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung ihrer immunmodulatorischen Aktivität, S. 638–666, doi:10.1007/978-3-642-00963-1_21 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  • A. Pusztai, S. Bardocz: Biological Effects of Plant Lectins on the Gastrointestinal Tract:Metabolic Consequences and Applications. In: Trends in Glycoscience and Glycotechnology. Band 8, Nr. 41, 1996, S. 149–165, doi:10.4052/tigg.8.149.
  • Harold Rüdiger: Lectine: Vorkommen, Anwendung und Funktion. In: Chemie in unserer Zeit. 15. Jahrg., Nr. 5, 1981, S. 155–162. doi:10.1002/ciuz.19810150505
  • D. Nelson, M. Cox: Lehninger Biochemie. 4. Auflage. Springer, Berlin 2011, ISBN 978-3-540-68638-5, S. 343–347. doi:10.1007/978-3-540-68638-5
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