Lagrange-Resolvente
Die Lagrange-Resolvente ist in der Theorie algebraischer Gleichungen eine aus den Nullstellen (Wurzeln) eines Polynoms und den primitiven Einheitswurzeln gebildete Hilfsgröße, die eine andere Polynomgleichung, die Resolventengleichung, erfüllt. Neben der Lagrange-Resolvente gibt es auch andere Resolventen.
Hauptteil
Sie wurde von Joseph-Louis Lagrange um 1770 eingeführt[1], um die Lösbarkeit von algebraischen Gleichungen höheren Grades durch Radikale zu untersuchen, das heißt durch geschlossene Ausdrücke aus den Koeffizienten der Gleichung, die nur die Grundrechenarten und Wurzelziehen verwenden.
Entsprechende Formeln kannte man für Polynome dritten und vierten Grades seit Nicolo Tartaglia und anderen, und die Erweiterung auf Polynome höheren Grades war eines der Hauptziele der algebraischen Forschung bis Anfang des 19. Jahrhunderts, als durch die Arbeiten von Evariste Galois und Niels Henrik Abel klar wurde, dass dies im Allgemeinen für Gleichungen fünften und höheren Grades nicht möglich ist. Lagrange erkannte bei der Analyse des Problems, dass die Untersuchungen von Größen, die bei der Permutation der Wurzeln invariant bleiben, in diesem Zusammenhang wichtig sind, was schließlich später zur Lösung des Problems über die Struktur der beteiligten Permutationsgruppen durch Galois in den 1830er Jahren führte (eine Polynomgleichung ist nach Galois genau dann durch Radikale auflösbar, wenn die Galois-Gruppe des Polynoms eine auflösbare Gruppe ist).
Man betrachtet das Polynom -ten Grades
mit den Wurzeln und bekannten Koeffizienten , die elementarsymmetrische Polynome der Wurzeln sind.
Die Lagrange-Resolvente ist der Ausdruck
mit einer primitiven -ten Einheitswurzel (sie erfüllt ). Dabei wird vorausgesetzt, dass keine mehrfachen Wurzeln auftreten (die Wurzeln sind paarweise verschieden).
Durch Permutation der erhält man daraus die insgesamt Größen . Die Wurzeln der Ausgangsgleichung sollten sich durch die und die Koeffizienten ausdrücken lassen.
Die Lagrange-Resolventen selbst sind Wurzeln der Resolventengleichung :
Die Resolventengleichung ist ebenso wie die Ausgangsgleichung invariant unter Vertauschung der Wurzeln von . Die Koeffizienten der Resolventengleichung sind als elementarsymmetrische Funktionen in den symmetrische Funktionen in den Wurzeln von und nach dem Hauptsatz für elementarsymmetrische Funktionen Polynome in den (den elementarsymmetrischen Funktionen der Wurzeln von ).
Lagrange (und unabhängig Vandermonde) zeigten, dass sich die bekannten Lösungsformeln der Gleichungen dritten und vierten Grades (im Fall der Kubischen Gleichung die Cardano-Formel) durch Betrachtung der Resolventengleichung einheitlich erklären lassen. Im Fall der kubischen Gleichung ist sie sechsten Grades, lässt sich aber auf eine quadratische Gleichung reduzieren.[2] Die Gleichung vierten Grades führt zunächst auf eine Resolventengleichung 24. Grades, die sich aber auf eine kubische Gleichung reduzieren lässt. Bei der Gleichung fünften Grades stieß Lagrange auf die Grenzen seiner Methode, die in diesem Fall das Problem nicht vereinfachte. Abel zeigte später, dass sie nicht allgemein durch Radikale lösbar ist.
Allgemein versteht man unter Resolventen Polynome oder allgemeiner rationale Funktionen in den Wurzeln der Ausgangsgleichung (gebildet mit anderen bekannten Größen wie den Koeffizienten von ), aus denen sich die Wurzeln von eindeutig gewinnen lassen, und unter der Resolventengleichung eine Hilfsgleichung zur Bestimmung der Resolventen. Die Resolventen sollten nach Lagrange möglichst wenig Werte bei Permutation der Wurzeln von einnehmen. Die Resolventengleichung ist nach Konstruktion wie die Ausgangsgleichung invariant unter Vertauschung der Wurzeln von .
Mit diesen allgemeineren Resolventen lassen sich die Galoisgruppe der Gleichung und deren Untergruppen untersuchen (mit zugehörigen Resolventen) und sie waren im 19. Jahrhundert ein fester Bestandteil der Behandlung der Galoistheorie in Lehrbüchern (in diesem Zusammenhang spricht man von Galois-Resolvente).[3] Der Begriff Resolvente stammt ursprünglich von Leonhard Euler (1738) in Zusammenhang mit der Gleichung vierten Grades[4] und der Name kommt aus dem Lateinischen (resolvere für auflösen). Bei diesen klassischen Methoden der Lösung der Gleichung 4. Grades wird man auf eine Hilfsgleichung 3. Grades geführt, die kubische Resolvente der Quartik genannt wird.[5]
Beispiel Quadratische Gleichung
Der Fall wird hier dargestellt, um das Prinzip zu erläutern, obwohl es keine Vereinfachung durch das Resolventenverfahren gibt:
mit und .
Die Lagrange-Resolventen sind (mit den hier verwendeten quadratischen Einheitswurzeln +1, −1)
- und
Die Resolventengleichung ist ebenfalls quadratisch:
- .
Die Lösung wird auch Diskriminante der quadratischen Gleichung genannt.
Die Wurzeln der Ausgangsgleichung sind durch die Resolventen und Koeffizienten gegeben über
- und .
Mit ergibt sich und dies eingesetzt ergibt die übliche Lösungsformel der quadratischen Gleichung.
Beispiel Kubische Gleichung
Man betrachtet die normierte kubische Gleichung mit Leitkoeffizient 1 und den Wurzeln :
Die Koeffizienten sind die elementarsymmetrischen Funktionen in den Wurzeln :
- , ,
Gesucht wird nach der Resolventenkonstruktion eine Hilfsgleichung, aus der sich die Wurzeln bestimmen lassen.
Die Lagrange-Resolvente ist:
- ,
wobei eine primitive dritte Einheitswurzel ist, also eine Lösung von , , das heißt, einer der beiden Werte oder . Durch Vertauschung der Wurzeln erhält man sechs verschiedene
Aus der Gleichung für , und lassen sich bestimmen, falls die Resolventen bekannt sind.
Die sechs Werte für kann man nun als Lösung einer anderen Gleichung 6. Grades auffassen, der Resolventengleichung:
Dass eine quadratische Gleichung ist, ergibt sich aus folgendem Rechengang.
Wegen und ist
Eingesetzt ergibt sich:
Setzt man
- ,
schreibt sich die Gleichung
- .
Nach Substitution
erhält man die quadratische Gleichung .
Das lässt sich auch so einsehen, dass unter Vertauschung der Wurzeln zwar sechs Bilder hat (, , ,, , ), aber nur zwei (wegen ), sich selbst und , weshalb man als Resolventengleichung nehmen kann.
Dabei lassen sich und allein durch die Wurzeln der Ausgangsgleichung ausdrücken. Das kann man durch direktes Ausrechnen zeigen oder mit folgender Argumentation:
Die elementarsymmetrischen Funktionen von (also und ) sind bei Vertauschung von invariant und damit durch deren elementarsymmetrische Funktionen ausdrückbar, also durch .
Explizit ergibt sich und .
In der Galoistheorie wird die Lösbarkeit durch Radikale dadurch gezeigt, dass die Symmetriegruppe der drei Wurzeln auflösbar ist, denn es gibt die Kette (die Alternierende Gruppe der geraden Permutationen), 1 (Identität), wobei (Ordnung 3) zyklisch ist und ebenso die Quotientengruppe (Ordnung 2). vertauscht separat und untereinander. Die primitive Wurzel ist Erzeugende der zyklischen Gruppe .
Gleichungen 4. Grades
Die Diskussion lässt sich analog zur kubischen Gleichung mit Lagrange-Resolventen durchführen, aber auch mit anderen Resolventen. Im Folgenden werden Resolventen verwendet, die nicht mehr linear in den Wurzeln der Ausgangsgleichung sind, aber die Invarianten von Untergruppen der vollen Symmetriegruppe der Wurzeln bei der Gleichung vierten Grades sind.
Sei die reduzierte quartische Gleichung (der Term dritten Grades wurde mit einer Tschirnhaus-Transformation beseitigt)
- .
Man bilde die Resolventen
- .
Dann erfüllten diese die Resolventengleichung (kubische Resolvente):
mit
- , , .
Außerdem werden die Resolventen durch die Permutationen der Kleinschen Vierergruppe in sich übergeführt. Diese ist Bestandteil der Normalteiler-Kette , , , , Identität zur Auflösung der symmetrischen Gruppe (mit der zyklischen Gruppe der Ordnung 2 und der alternierenden Gruppe der Ordnung 4). Die Faktorgruppen sind jeweils zyklische Gruppen. Diese Kette erklärt die Lösbarkeit der Gleichung vierten Grades durch Radikale in der Galoistheorie.
Dies ist ein Beispiel für Resolventen, die nicht mehr unter der vollen Symmetriegruppe der Permutation der Wurzeln invariant sind, sondern nur unter einer Untergruppe.
Gleichungen 5. Grades
Lagrange konnte das Problem nur auf eine Resolvente reduzieren, die 24 verschiedene Werte annahm bei Permutation der Wurzeln
mit den Wurzeln der Quintik und der primitiven fünften Einheitswurzel . Die Resolventengleichung war also vom Grad 24.
1861 fand Arthur Cayley eine Resolvente, die in nur sechs verschiedene Werte transformiert wurde bei Permutation aller Wurzeln:
Diese Resolvente wird auch als Malfatti-Resolvente bezeichnet (nach Gianfrancesco Malfatti, der sie schon 1771 einführte[6]).
Sie nimmt sechs Werte bei Permutation der Wurzeln an, erfüllt also eine Resolventengleichung sechsten Grades. Eine Quintik mit rationalen Koeffizienten ist genau dann durch Radikale lösbar, falls eine der Lösungen rational ist.[7]
Im Allgemeinen ist sie, wie in der Galoistheorie gezeigt wird,[8] nicht mehr durch Radikale lösbar, was auch für alle Gleichungen höheren Grades gilt.
Galois-Resolvente
Galois betrachtete zu einer vorgegebenen algebraischen Gleichung vom Grad die Symmetrien, die in Bezug auf die Wurzeln bestehen. Formal lassen sich diese Symmetrien, sofern die Wurzeln verschieden sind, mittels der Gesamtheit der Polynome charakterisieren, die bei Einsetzen der Wurzeln der Gleichung identisch verschwinden: . Die Gruppe der Permutationen der , welche die Menge in sich überführt, ist dann die Galoisgruppe von .
Um sich vereinfachend auf Polynome in nur einer Variablen beschränken zu können, bildete Galois die heute nach ihm benannte Resolvente:
Dabei sind, was immer möglich ist, ganze Zahlen derart zu wählen, dass alle Werte
- ,
die sich bei den insgesamt Permutationen der Wurzeln ergeben, paarweise verschieden sind.[9] Jede Wurzel der Gleichung lässt sich dann nämlich als Polynom des Wertes ausdrücken, was in heutiger Terminologie dem Satz vom primitiven Element entspricht: . In Folge kann die Polynom-Menge auf Basis einer einzigen Polynomgleichung für den Wert , nämlich zu dessen Minimalpolynom, charakterisiert werden kann.
Dieses Minimalpolynom erhält man auf folgendem Weg, den bereits Galois beschritt: Mit einer gefundenen Galois-Resolvente wird zunächst das Polynom vom Grad berechnet, das sich als Produkt aller Linearfaktoren der Form ergibt. Dieses Polynom wird dann in irreduzible Faktoren zerlegt. Unter den derart gefundenen Faktoren ist der Faktor der den Linearfaktor enthält, das gesuchte Minimalpolynom für die Galois-Resolvente . Außerdem besteht die Galoisgruppe aus genau denjenigen Permutationen deren korrespondierende Linearfaktoren als Produkt das Minimalpolynom ergeben.
Im Fall einer algebraischen Gleichung mit lauter ganzzahligen Koeffizienten und einem Leitkoeffizient gleich 1 kann die gerade beschriebene Vorgehensweise zu Bestimmung der Galoisgruppe mit Hilfe von numerisch genügend genau berechneten Lösungen entscheidend vereinfacht werden: Zunächst muss durch Probieren eine geeignete Galois-Resolvente gefunden werden, wobei die Verschiedenheit der Werte numerisch geprüft werden kann. Auch die anschließende Berechnung des Polynoms kann numerisch geschehen, da man weiß, dass alle Koeffizienten ganz sein müssen. Und selbst die abschließende Zerlegung in irreduzible Faktoren kann mit numerischen Berechnungen vorbereitet und damit deutlich vereinfacht werden, weil auch die Koeffizienten der irreduziblen Faktoren ganzzahlig sein müssen.[9]
Die Anforderung, dass alle Werte verschieden sind, ist sichergestellt, wenn man die Werte als Variable in einem entsprechenden Polynomring auffasst. Da das Produkt der Linearfaktoren symmetrisch in den Wurzeln ist, besitzt es als Polynom in der Variablen Koeffizienten, die im Polynomring liegen. Damit kann dieses Produkt-Polynom im Ring in irreduzible Faktoren zerlegt werden, wobei die Linearfaktoren, die zusammen mit dem Linearfaktor einen irreduziblen Faktor bilden, mit den Elementen der Galoisgruppe korrespondieren. Allerdings ist dieses Verfahren weniger von praktischem als von theoretischem Interesse, nämlich im Hinblick auf Restklassen-Analysen.[10]
Literatur
- Jörg Bewersdorff: Algebra für Einsteiger: Von der Gleichungsauflösung zur Galois-Theorie. 2004, 6. Auflage, 2019, Springer-Spektrum, ISBN 978-3-658-26151-1, doi:10.1007/978-3-658-26152-8.
- Ian Stewart: Galois Theory, Chapman and Hall 2004, ISBN 978-1584883937
- Jean-Pierre Tignol: Galois’ Theory of Algebraic Equations. 2001, 2. Auflage 2016, World Scientific, ISBN 978-9-814-70469-4, doi:10.1142/9719
- Harold Edwards: Galois Theory, Springer Verlag 1984, ISBN 038790980X
Ältere Literatur zur Galoistheorie mit Resolventen:
Einzelnachweise
- Joseph-Louis Lagrange: Réflexions sur la résolution algébrique des équations., Sitzungsberichte Berliner Akademie 1770/71
- Siehe z. B. Harold Edwards Galois Theory
- Jean-Marie Arnaudiés, Annick Valibouze Lagrange Resolvents, Journal of Pure and Applied Algebra, Band 117/118, 1997, S. 23–40, pdf
- RWD Nickalls: The quartic equation: invariants and Euler’s solution revealed. (PDF; 548 kB) In: The Mathematical Gazette. Vol. 93, 2009.
- Zum Beispiel Helmut Knaust The quartic formula, oder Ian Stewart Galois theory, Chapman and Hall 2004, S. 11
- Auch Carl Gustav Jacobi kannte diese (1831). Malfatti ging vom Formalismus der Lagrange-Resolvente aus. Zu Malfatti siehe Bewersdorff, Algebra für Einsteiger, S. 90
- Darstellung hier nach Ian Stewart. Analysiert werden die speziellen Fälle, in denen sie durch Radikale lösbar ist, durch G. N. Watson in einer Vorlesung, die später in Mathematical Intelligencer, Band 24, 2002, Nr. 4 veröffentlicht wurde
- Die alternierende Gruppe der Ordnung 5 ist eine einfache Gruppe, es lässt sich keine Normalteilerkette mit zyklischen Gruppen als Faktorgruppen bis zur Identität bilden.
- Bewersdorff, Algebra für Einsteiger, 6. Aufl., S. 149–155, doi:10.1007/978-3-658-26152-8_9
- Bartel Leendert van der Waerden: Algebra, 8. Auflage der Modernen Algebra, 1971, ISBN 978-3-540-03561-9, S. 203–295, doi:10.1007/978-3-642-96044-4_9