Kyllaros (Kentaur)

Kyllaros (altgriechisch Κύλλαρος Kýllaros) ist in der klassischen Mythologie ein Kentaur, der zusammen mit seiner Kentaurenfrau Hylonome auf Peirithoos’ Hochzeit, die zu einem Gemetzel zwischen Kentauren und Lapithen (Kentauromachie) ausartet, teilnimmt und stirbt. Sein Mythos findet sich ausschließlich im 12. Buch der Metamorphosen Ovids.

Piero di Cosimo: Hylonome fängt mit ihrem Mund Kyllaros' entweichende Seele auf.

Aussprache und Etymologie

Episode und Name des Kentauren wurden von Ovid erfunden.[1] Sein Name lautet auf altgriechisch: Κύλλαρος, Kýllaros; auf Latein: Cyllarus oder Cyllaros; Akkusativ bei Ovid, Vers 408: Cyllaron; Vokativ, Vers 393 und 421: Cyllare. Sprich lateinisch und deutsch: 'Kyl-la-rus oder 'Kyl-la-ros; Betonung auf der ersten Silbe, da zweite und dritte Silbe kurz.

Die Namen der Kentauren beziehen sich häufig auf Pferde.[2] Ovid hat wohl für seine Erzählung den Namen von Kyllaros, dem Wunderpferd der Dioskuren Castor und Pollux übernommen. In Vers 401 stellt er selbst den Bezug her: Castore dignus erit er ist des Castors würdig.

Kyllaros ist möglicherweise verwandt mit dem griechischen Verb κέλλειν kéllein und dem nicht gebräuchlichen lateinischen cellĕre[3], beide in der Bedeutung treiben, bewegen, passend zum pferdeähnlichen Kentauren, substantiviert: der Vorwärtstreibende und dann auch der Schnelle.[4] Papaioannou schlägt vor: Ableitung von κυλλόσ kyllós, deutsch krummbeinig, klumpfüßig,[5] was auch gut zu einem Pferd oder Kentauren passt.

Mythos und rhetorische Gestaltung

Nestor erzählt während des Trojanischen Kriegs bei einem Siegesmahl zu Ehren des Achills das Gemetzel zwischen Lapithen und Kentauren auf der Hochzeitsfeier des Peirithoos, war er doch selbst dabei. Mitten in diese ovidianische Kentauromachie, Vers 210–535, fällt der Kyllaros-Mythos, Vers 393–428. Die unten zitierten Hexameter sind in Prosa übersetzt.

Tod des Kentauren

Die Erzählung beginnt unvermittelt mit einem harten nec – und nicht, Abgrenzung zur vorhergehenden Gemetzelszene, und mit der Ankündigung des drohenden Unheils: Und nicht hat dich, o Kyllarus, den Kämpfenden, deine Schönheit gerettet.[6] Er wird getroffen, von wem bleibt offen, und stirbt: … ein Wurfspieß von der linken Seite flog heran und tiefer als dem Hals die Brust darunter ist (in Höhe des Herzens), o Kyllarus, hat er dich durchbohrt; als darauf der Spieß herausgezogen wurde, ist das Herz, obgleich verletzt (nur) von kleiner Wunde, erkaltet.[7]

Kyllaros und Hylonome

Zwischen Ankündigung und Vollzug des Unheils beschreibt Ovid seine Schönheit und Liebe zu Hylonome. Das Kentaurenpaar lebt, liebt und kämpft gleichberechtigt, Vers 416–418:

pár amor ést illís: erránt in móntibus úna,
ántra simúl subeúnt; et túm Lapitheía técta
íntraránt paritér, paritér fera bélla gerébant.

Gleich war jenen die Liebe gewesen: sie hatten durchschweift die Berge vereint,
Höhlen gemeinsam betreten; und damals das lapithische Haus (des Peirithoos)
betreten zusammen, zusammen wilde Schlachten geführt.[8]

Gleich beseelt sie die Liebe; vereint durchirren sie Berghöh’n,
Gehn dann gesellt in die Kluft. Auch nun ins lapithische Obdach
Trat miteinander das Paar, und focht miteinander den Blutkampf.[9]

Das historische Präsens vermittelt dem Leser den Eindruck des Augenscheins. Ihre gleichrangige Paarbeziehung wird betont durch eine verwobene chiastische Entfaltung des Wortfelds par/gleich (fett), anfangs variierend, am Ende wiederholend. Kyllaros ist auch stilistisch nicht der dominierende Part.

Hylonome fängt den Getroffenen auf, 424–425: óraqu(e) ad óra / ádmovet átqu(e) animaé fugiénti obsistere témptat … und den (ihren) Mund an den (seinen) Mund bewegt sie heran und versucht sich der entweichenden Seele entgegenzustellen. Die Wiederholungen (kursiv) und Alliterationen (fett) betonen ihre Seelenverwandtschaft.

Sie will nicht weiterleben: Als sie den Toten sah … warf sie sich in den Spieß, der jenen (Kyllaros) durchbohrt hatte, und sterbend umarmte sie ihren Gatten.[10]

Interpretation

Sie berücksichtigt Erzählfunktion des Kyllaros-Mythos und Ovids Umkehr der Geschlechterrollen und seine Neuausrichtung des Epos.

Narrativer Aspekt

Genau in ihrer Mitte findet die Kentauromachie den Ruhepunkt und die Ablenkung vom Gemetzel durch die Kyllaros-Hylonome-Episode. Die Gewaltszenen sind kurz und unblutig, das Gemetzel pausiert und der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der Schönheit und Liebe des Kentaurenpaares. Er zeigt, dass es auch andere Kentauren gibt, die nicht so monströs sind, und dass es neben der Welt des Kampfes auch noch die Welt des Friedens und Liebesglücks gibt. Für diesen Zweck wird das halbtierische Paar sehr menschlich dargestellt.

Inhaltlicher Aspekt

Ovid weicht vom traditionellen Heldenepos ab und zeigt eine gleichberechtigte lyrisch-elegische Liebesbeziehung im Gegensatz zur episch-heroischen Dominanz des Mannes.[11] Der fast noch jugendliche Kyllaros ist Objekt der Begierde, wird von Hylonome umworben und genommen. Ovid spielt mit der Erwartungshaltung des Lesers und kehrt das traditionelle Bild der wilden Kentauren und der Paarbeziehung humorvoll-ironisch um.[12]

Cyllarus durch das Hubbleteleskop

Rezeption

  • Piero di Cosimo: Schlacht zwischen Lapithen und Kentauren, Gemälde, 1500–1515, im Mittelpunkt das Kentaurenpaar, siehe oben Ausschnitt, das gesamte Bild auf Commons.
  • Asteroid: (52975) Cyllarus, 1998 entdeckt und benannt nach dem Kentauren.

Literatur

  • Jeri Blair DeBrohun: Centaurs in Love and War: Cyllarus and Hylonome in Ovid Metamorphoses 12.393-428. In: American Journal of Philology. Band 125, Johns Hopkins University Press, Baltimore 2004, Seite 417–452.
  • Eduard Gerhard: Griechische Mythologie, Zweiter Teil, Drittes Buch, Heroensage. Verlag Georg Reimer, Berlin 1855, § 666, Seite 38, Anmerkung 2, ausführliche Hinweise zu den Namen der Kentauren samt ihrer Einteilung.
  • Vittorio Hösle: Ovids Enzyklopädie der Liebe. Verlag Winter, Heidelberg 2020, Seite 211ff.: „Die symmetrische Liebe eines Kentaurenpaars im Wahnsinn einer Schlacht: Cyllarus und Hylonome.“
  • Sophia Papaioannou (1): Redesigning Achilles, ‘Recycling’ the Epic Cycle in the ‘Little Iliad’ (Ovid, Metamorphoses 12.1–13.622). (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte. Band 89). Verlag De Gruyter, Berlin 2007, Seite 105–110: Interpretation des Mythos.
  • Sophia Papaioannou (2): Searching for the original Cyllarus. (= Studi di letteratura e storia dell’ antichità. Band 98). Athenaeum, Università di Pavia 2010, S. 173–179.
  • Lothar Spahlinger: Ars latet arte sua: Untersuchungen zur Poetologie in den Metamorphosen Ovids. (= Beiträge zur Altertumskunde. Band 83). Teubner, Stuttgart 1996, Interpretation Seite 277–280.
  • Heinrich Wilhelm Stoll: Kyllaros 2. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 2,1, Leipzig 1894, Sp. 1700 (Digitalisat).

Anmerkungen

  1. Papaioannou, S. 134: „… Cyllarus, Ovid’s invented Centaur.“
  2. Zu den Namen der Kentauren: Gerhard, siehe Literatur.
  3. Siehe Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. 1913, Stichwort cello, zeno.org
  4. So Stoll in Roschers Mythologie, Stichwort: Kyllaros, 2. Abschnitt, siehe Literatur.
  5. Papaioannou, Seite 134, Anmerkung 285, siehe Literatur; vergleiche Eintrag κυλλόσ in Liddell-Scott.
  6. 393: Néc te púgnantém tua, Cýllare, fórma redémit.
  7. 419–421: … iaculúm de párte sinístra / vénit et ínferiús quam cóllo péctora súbsunt, / Cýllare, té fixít; parvó cor vúlnere laésum / córpore cúm totó post téla edúcta refríxit.
  8. Übersetzung des Präsens historicum als Plusquamperfekt unter Beibehaltung der Wortfolge
  9. Übersetzung: Johann Heinrich Voß
  10. 426–428: út videt éxstinctúm … / … teló, quod inhaéserat ílli, / íncubuít moriénsque suúm conpléxa marít(um) est. Damit endet abrupt die Episode.
  11. Papaioannou (1) fasst zusammen, S. 105: „The Cyllaros-Hylonome pair and their fated love story … invert the epic politics of gender and genre.“ Siehe Literatur.
  12. Papaioannou (2), S. 173: „An Ovidian invention, Cyllarus and Hylonome, the star-crossed Centaur lovers… are striking beings, each representing an atypical embodiment of the Centaur stereotype… One may safely argue that in their creation Ovid composes an amusing piece of witty mockery, as he takes for granted the existence of the impossible Centaurs and, instead, pretends to be seriously concerned about the ‘true nature’ of such creatures.“ Siehe Literatur.
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