Kulturalität

Der Begriff Kulturalität leitet sich aus dem Adjektiv kulturell ab. Bedingt durch kulturelle Differenzen entwickeln sich unterschiedliche Denkmuster, Fragestellungen etc. in Philosophie, Soziologie und anderen Geisteswissenschaften. Diese Differenzen begründen den Diskurs im Rahmen der „Interkulturellen Philosophie“. Man versteht daher „Kulturalität“ selbst als Bezeichnung von Differenz. Das „inter“ von interkulturell weist darauf hin, dass diese Differenzen zueinander in einem Verhältnis stehen.

Kultur und kulturelles Verhalten

Vielfältige Begriffsdefinitionen von „Kultur“ erleichtern dabei nicht das Verständnis. Kroeber und Kluckhohn definieren in Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions. New York: Vintage 1963 164 verschiedene Bedeutungen von „Culture“.[1]

Spricht man im Alltag von Kultur, so bezieht sich dies in der Regel auf sogenannte „kulturelle Veranstaltungen“, wie Theater, Kunst etc. – in den Medien meist unter dem Titel „Kulturnachrichten“ behandelt. Im Gegensatz dazu fallen Bereiche wie Sport und Politik, Arbeit und Freizeit nicht unter den Begriff der Kultur. Betrachtet man die Entstehung von Gesellschaft unter dem Aspekt der kulturellen Entwicklung, dann muss man davon ausgehen, dass sämtliche gesellschaftlichen Ausprägungen, wie auch die oben genannten Sport, Politik, Arbeit, Freizeit unter den Kulturbegriff fallen und damit einen Teil der „Kultur“ der Gesellschaft darstellen.[1]

Der Begriff der Kultur

Das Wort Kultur kommt vom lateinischen „cultura“, das selbst wieder von „colere: bebauen, bepflanzen“ abgeleitet ist, und stellt somit ursprünglich eine in der Natur gestaltende Tätigkeit dar, wie sie zu Zeiten von Ackerbau und Subsistenzwirtschaft die Regel war. Unter diesem Aspekt ist auch nachzuvollziehen, dass die Bedingungen für den Ackerbau (Erde, Wetter, Umwelt) großen Einfluss auf die Art und Weise der (Lebens-)Gestaltung und damit auf die Entwicklung der Gesellschaft hatten.

Hatte dieser Kulturbegriff lange Zeit ausschließlich die Bedeutung von gestaltenden Tätigkeiten, so hat sich im modernen Sprachgebrauch das Verständnis von Kultur auf die Sichtweise eines Kulturzustands verschoben. Dieser Kulturbegriff beschreibt somit einen Zustand, der als Ergebnis von erfolgreichen Verhaltensweisen im Umgang mit der Umwelt sich in bestimmter Art und Weise strukturiert hat. Diese Strukturen sind damit gleichzeitig Voraussetzung für die weiteren Veränderungen im Zusammenspiel mit der Umwelt. Humberto Maturana spricht im Zusammenhang von strukturdeterminiertem System (in diesem Fall eine bestimmte „Kultur“) und Umwelt (alles außerhalb dieser bestimmten „Kultur“) von „struktureller Kopplung“ und „strukturellem Driften“.[2]

Diese „cultura creata quae creat“[3] – die geschaffene Kultur, die gleichzeitig schafft – ist damit als dynamisch und statisch zugleich – eben in einer bestimmten Relation zueinander – zu betrachten.

Es kann also nicht allein von Kultur im Singular die Rede sein, sondern man muss von „Kulturen“ sprechen, die unterschiedliche Verhaltensweisen und Normen entwickelt haben. Dem Begriff der Kultur wird dabei neben der beschreibenden auch eine wertende Funktion zuteil. Das „anders sein“ (Differenz) führt zu Konflikten bezüglich Normen und Verhalten.[4]

Der Mensch als kulturelles Wesen

Abd al-Rahman Ibn Khaldun (1332 Tunis – 1406 Kairo) war der Erste, der sich wissenschaftlich mit dem Begriff der Kultur auseinandergesetzt hat und die Vielfältigkeit von Kultur in sozialen Strukturen von Menschen untersucht und als Lebensnotwendigkeit erkannt hat. Er findet eine Methode, die das Erkennen unwahrscheinlicher und unwahrer Überlieferungen möglich machen soll, und erforscht damit, was die Menschen dazu bringt, Natur zu gestalten, und wie dieses Ansinnen die menschlichen Gesellschaften formt. Der Mensch ist für Ibn Khaldun von Natur aus ein kulturelles Wesen. Menschliche Gesellschaften sind zwangsläufig notwendig, da einzelne Individuen keine Überlebenschance hätten. Diese Gesellschaften entwickeln sich unter dem Einfluss der geografischen und klimatischen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, unterschiedlich.

Und diese Gesellschaften haben, wie Individuen, eine Zeit des Wachstums und des Todes. Als Lebensdauer nimmt Ibn Khaldun 4 Generationen = 4 × 30 Jahre = 120 Jahre an. „Die zentrale These von rhythmischem Aufstieg und Verfall einer Gesellschaft aufgrund einer gemeinschaftsstiftenden Kraft, der ‚asabija‘, wird von ihm in einer tatsächlich universalhistorischen Weise für die gesamte ihm bekannte Welt ausgeführt und ist bis heute im islamischen Raum einflussreich.“[5] Ibn Khaldun setzt damit den ersten Versuch, Kulturalität zu erfassen.

Selbst- und Fremdzuschreibungen

Der Mensch als Element eines kulturell geprägten Gesellschaftssystems neigt zu Selbst- und Fremdzuschreibungen. Dies zeigt Elmar Holenstein mit seiner Parabel der schweizerischen Japaner. Er verändert dazu einen Text von Peter Bichsel, in dem dieser Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz in der Kommunikation beschreibt, und ersetzt dabei Bezüge auf die Schweiz durch solche auf Japan und dementsprechend Bezüge auf Deutschland durch Europa. Dieser Text wurde mehrmals in Europa und in Japan vorgetragen und zitiert, niemand zweifelte an der Darstellung.[6] Er wollte damit zeigen, dass sowohl zwischen unterschiedlichen Kulturen als auch innerhalb einer Kultur (Europa) sich die Variationen nicht unterscheiden. Wiewohl auch innerhalb von Europa kulturelle Differenzen anzunehmen sind.

Differenz als Defizienz

Eine Bewertung des „Anders Seins“ als minder oder ungenügend findet sich vielfach in der Geschichte der Kolonialisierung der Welt durch Europa. Die portugiesische Kolonialisierung Brasiliens brachte es mit sich, dass die Betrachtung und Wertung der brasilianischen Gesellschaften an der Sprache gemessen wurde. Die Feststellung, dass die Laute „F“, „L“ und „R“ diesen Menschen unbekannt waren, führte zu der Annahme, dass diese Gesellschaften nicht zivilisiert sein konnten, da ihnen damit drei Grundlagen für Zivilisation aus Sicht der Portugiesen fehlten. „Fides, Lex und Rex“ – Glaube, Gesetz und König.[7]

Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatte festgestellt, dass Schwarzafrikaner (er nannte sie „Neger“) anders und damit auch andersartig seien. „Der [...] stellt den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar; von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muss man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.“[8]

Im Gegensatz dazu spricht Elmar Holenstein in seinem Vortrag vom Oktober 2002 von beeindruckender sprachlicher Fähigkeit und Multilingualität der Schwarzafrikaner und davon, dass die soziale und philosophische Kompetenz aller Menschen alleine von der Fähigkeit der Vorstellungen 1., 2. und 3. Ordnung bestimmt wird. (1. Ordnung – ich denke / 2. Ordnung – ich denke, was du denkst / 3. Ordnung ich denke, was du denkst, dass ich denke)[9]

Kulturalität im philosophischen Denken

Das Dilemma der Kulturalität der Philosophie äußert sich in unterschiedlichen Kulturen in Form von unterschiedlichen Wertungen, Grundhaltungen, Fragen ... Zu diesem Dilemma ergeben sich:

Vier Thesen zur Stellung und Aufgabe von Philosophie im kulturellen Kontext

These 1: Kultur und Philosophiegeschichte sind in erster Linie eurozentristisch. – Die Darstellung der Philosophie in der Neuzeit ist abendländisch, griechisch geprägt und orientiert sich an den Fragen nach dem Sein (Ontologie), nach der Wirklichkeit (Erkenntnistheorie) und nach dem Sollen (Ethik).
Stimmt diese Position, dann ergibt sich die Problematik, dass Philosophie zu einer Art Ethnophilosophie, einer regionalen Philosophie wird und nicht als Philosophie der Menschheit betrachtet werden kann. Die Grundfragen würden sich in verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich darstellen.

These 2: Philosophie tendiert zu universell gültigen Aussageformen. – Aus der Annahme, dass Philosophie nicht universell, sondern kulturell geprägt ist, ergibt sich ein Problem, auch wenn Philosophen prinzipiell generalistisch argumentieren und sowohl zeit- als auch ortlos formulieren.
Philosophie ist immer kulturell verankert – durch die Tendenz nach Universalität ergibt sich ein Dilemma der Kulturalität. Dazu meint Johan Galtung: „Es wäre nützlich gewesen, wenn Kant bei der Untersuchung der Beschränkung des menschlichen Geistes seine eigenen Beschränkungen näher untersucht hätte. Seine, nicht im persönlichen Sinn, sondern – seine- als Teil einer Nation, einer Klasse, einer Tradition, einer Zivilisation und dergleichen. Aber es war kein Zeitalter vergleichender Studien um Punkt für Punkt eine Zivilisation an der anderen zu messen.“[10]

These 3: Die Ausweitung des kulturellen Horizonts der Philosophiegeschichte ist nötig und auch möglich. – Ein generischer Begriff von Philosophie ist dazu erforderlich.

These 4: Das Bewusstsein von der Überlegenheit europäisch tradierter Philosophie ist kritisierbar und soll auch kritisiert werden.

Stile der Sozialwissenschaften

Nach Johan Galtung gibt es vier Stile, Sozialwissenschaften zu betreiben. Er beschreibt zivilisatorische Ebenen, auf denen Soziologie und Philosophie betrieben wird. So werden bei wissenschaftlichen Untersuchungen, die angestellt werden, um die Wirklichkeit zu erkennen und zu verstehen, nach der Analyse und Bildung einer Theorie, die eigenen Bedingungen für die Forschungstätigkeit analysiert und danach die Thesen und Analysen anderer kommentiert und verglichen.

In der Betrachtung und Kommentierung fremder Thesen treten diese vier Wissenschaftsstile hervor, es werden dabei spezifische Fragen gestellt:[11]
1. Saxonisch (englisch): Wie können sie die These belegen?
2. Teutonisch (deutsch): Wie leiten sie die These ab?
3. Gallisch (französisch): Wie drückt man dies in gutem Französisch aus?
4. Nipponisch (japanisch): Wer ist ihr Lehrer, in welcher Tradition stehen sie?

Der Einfluss der Sprache

Galtung betont, dass die Sprache einen entscheidenden Einfluss auf die Art und Weise des Denkens und des Verstehens ausübt. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass mehrmals die Ansicht geäußert wurde, dass Kants Kritik der reinen Vernunft für Menschen mit deutscher Muttersprache in englischer Sprache leichter verständlich sei.[12]

“[…] it has been said that a German can understand Kant’s Critique of Pure Reason only if he reads it in English. Obviously, an English translation makes it necessary to transform the long Kantian sentences into simple, short sentences.”

„[…] es wird gesagt, dass ein Deutscher die Kritik der reinen Vernunft Kants versteht, wenn er sie auf Englisch liest. Offensichtlich macht die englische Übersetzung eine Umwandlung der langen Sätze in einfache, kurze Sätze notwendig.“

Die Sprache als Basis und gleichzeitig Ausprägung von Kulturen und damit kulturellen Differenzen, ist selbst einem historischen zu beobachtenden Veränderungsprozess unterworfen.[13] Die Frage nach dem Verständnis von historischen Texten, die möglicherweise auch noch mehrmals übersetzt wurden, lässt somit immer kulturell differenzierte Betrachtungsweisen von mehreren Dimensionen zu. Dass Worte auch differenzierte Bedeutung haben können, lässt sich an Hegels Dialektik und dem Begriff des „Aufhebens“ deutlich machen:[14]

  • „aufheben“ im Sinne von negieren / negare, tollere,
  • „aufheben“ im Sinne von konservieren / conservare,
  • „aufheben“ im Sinne von hochheben / elevare.

Im Falle der Vieldeutigkeit von Begriffen in einer Sprache ergeben sich damit für Menschen mit anderer Muttersprache zusätzliche kulturelle Differenzen.

Selbstreflexion der Philosophie

Eine Aufgabe der Philosophie ist somit, sich ihrer Kulturalität bewusst zu werden, da nicht außerhalb von Kultur philosophiert werden kann.[15] Kulturalität ist als Differenz zu verstehen.

Kulturalität fordert von der interkulturellen Philosophie damit folgende Orientierung:

  • Interkulturelle Philosophie soll implizite, kulturell bedingte Denkweisen analysieren.
  • Interkulturelle Philosophie soll Stereotype der Selbst- und Fremdwahrnehmung kritisieren.
  • Interkulturelle Philosophie soll Offenheit und Verständnis befördern.
  • Interkulturelle Philosophie soll in gegenseitiger Aufklärung bestehen.
  • Interkulturelle Philosophie kann und soll Humanität und Frieden fördern.[15]

Literatur

  • Andreas Arndt, Wilhelm Raimund Beyer, Karol Bal, Henning Ottmann: Hegel Jahrbuch. Akademie Verlag, Berlin 1995.
  • Johan Galtung: Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft. In: Alois Wierlacher (Hrsg.): Das Fremde und das Eigene: Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. Iudicium-Verlag, München 1985, S. 151–196.
  • Vergleichende Kulturphilosophie. Chinesische Bilder, japanische Beispiele, schweizerische Verhältnisse. In: Elmar Holenstein: Kulturphilosophische Perspektiven. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, S. 346–371.
  • Anton Hügli, Poul Lübcke (Hrsg.): Philosophielexikon. Rowohlt, Hamburg 2005.
  • Humberto Maturana, Varela Francisco: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Scherz, Bern/München/Wien 1987.
  • Claude Shannon: The Redundancy of English. In: Claus Pias, Joseph Vogl (Hrsg.): Kybernetik / Cybernetics. Band 1. diaphanes, Zürich/Berlin 2003.
  • Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Facultas, Wien 2004, ISBN 3-8252-2470-8.
  • Franz Martin Wimmer: Überlegungen zur Frage nach Maßstäben kultureller Entwicklung. In: JEP. Journal für Entwicklungspolitik. 20, Nr. 3 (2004), S. 11–45.

Einzelnachweise

  1. Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Facultas, Wien 2004, ISBN 3-8252-2470-8, S. 43.
  2. vgl. Humberto Maturana, Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Scherz, Bern/München/Wien 1987, S. 251 ff.
  3. Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung, S. 45.
  4. vgl. Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung, S. 46.
  5. Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung, S. 242.
  6. vgl. Vergleichende Kulturphilosophie. Chinesische Bilder, japanische Beispiele, schweizerische Verhältnisse. In: Elmar Holenstein: Kulturphilosophische Perspektiven. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, S. 360–362.
  7. vgl. Franz Martin Wimmer: Überlegungen zur Frage nach Maßstäben kultureller Entwicklung. In: JEP. Journal für Entwicklungspolitik. 20, Nr. 3 (2004), S. 11–45.
  8. Andreas Arndt, Wilhelm Raimund Beyer, Karol Bal, Henning Ottmann: Hegel Jahrbuch. Akademie Verlag, Berlin 1995, S. 342.
  9. Elmar Holenstein: Anfänge der Philosophie. Vortrag München Oktober 2002 (online).
  10. Johan Galtung: Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft. In: Alois Wierlacher (Hrsg.): Das Fremde und das Eigene: Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. Iudicium-Verlag, München 1985, S. 151–196, Fußnote 4.
  11. Vgl. Johan Galtung: Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft. In: Alois Wierlacher (Hrsg.): Das Fremde und das Eigene: Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. Iudicium-Verlag, München 1985, S. 151–196.
  12. Claude Shannon: The Redundancy of English. In: Claus Pias, Joseph Vogl (Hrsg.): Kybernetik / Cybernetics. Band 1. diaphanes, Zürich/Berlin 2003 (zuerst 1950), S. 263.
  13. Vgl. Humberto Maturana, Francisco Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Scherz, Bern/München/Wien 1987, S. 224–229.
  14. Vgl. Anton Hügli, Poul Lübcke (Hrsg.): Philosophielexikon. Rowohlt, Hamburg 2005, S. 65.
  15. Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung, S. 134.
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