Kissinger Diktat

Das Kissinger Diktat bezeichnet ein von Otto von Bismarck am 15. Juni 1877 in Bad Kissingen diktiertes diplomatisches Aktenstück, das wichtige Grundzüge seiner außenpolitischen Konzeption enthielt.

Erste Seite des Kissinger Diktates in der Handschrift Herbert von Bismarcks

Hintergrund

Otto von Bismarck fürchtete Koalitionen der anderen europäischen Mächte gegen das neu entstandene Deutsche Kaiserreich von 1871 („Albtraum von Koalitionen“ oder französisch cauchemar des coalitions) mit seiner verwundbaren geographischen Position in der Mitte Europas. Dabei ging er von einer prinzipiellen Gegnerschaft Frankreichs aus, da die Vereinigung Deutschlands im Jahre 1870/71 in einem Krieg gegen Frankreich erreicht wurde. Frankreich hatte am Ende das Elsaß und einen Teil von Lothringen verloren und Bismarck fürchtete daher eine französische Revanche.

1877 war der Friede in Europa durch die Balkankrise bedroht: Nach Aufständen der christlichen Bevölkerung auf dem Balkan gegen die osmanische Hoheit intervenierte Russland angeblich zu deren Schutz, russische Truppen rückten auf Konstantinopel vor. Dies schien das europäische Gleichgewicht zu stören.

Inhalt

Im Kissinger Diktat, das Otto von Bismarck am 15. Juni 1877 seinem Sohn Herbert in seiner Kur-Wohnung in Bad Kissingen im Zusammenhang mit der Balkankrise (1875–78) diktierte, entwarf er das Idealbild „nicht irgendeines Ländererwerbes, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden.“[1]

Das Dokument beschreibt eine Politik der freiwilligen Machtbeschränkung, um einen Krieg in Mitteleuropa zu vermeiden und so die Position Deutschlands zu sichern. Um Bündnisse gegen Deutschland zu verhindern, wollte Bismarck die Interessenkonflikte zwischen den anderen europäischen Mächten an der Peripherie oder außerhalb Europas nutzen. Eine Unterstützung oder zumindest neutrale Stellung Deutschlands in diesen Konflikten sollte für die anderen Großmächte notwendig sein.

Konkret plante Bismarck, Großbritannien zu Kolonialerwerb in Ägypten zu ermutigen, was zu Spannungen mit Russland führen würde, von dem er annahm, es würde Konstantinopel besetzen und damit die Durchfahrt durch den Bosporus kontrollieren:

„Wenn England und Russland auf der Basis, dass ersteres Ägypten, letzteres das Schwarze Meer hat, einig würden, so wären beide in der Lage, auf lange Zeit mit Erhaltung des Status quo zufrieden zu sein, und doch wieder in ihren größten Interessen auf eine Rivalität angewiesen, die sie zur Teilnahme an Koalitionen gegen uns […] kaum fähig macht.“[2]

Das Kissinger Diktat konzipierte das im Bündnissystem Bismarcks verwirklichte Programm seiner Diplomatie, die aus einer gewissen realistischen Einsicht in das internationale Kräfteverhältnis um die Sicherung der außenpolitischen Stellung des preußisch-deutschen Reiches bemüht war, dazu aber – um die Interessengegensätze der europäischen Mächte zum Gewinn deutscher Bündnispartner ausnutzen zu können – kein internationales Problem wirklich lösen wollte.

Siehe auch

Literatur

  • Konrad Canis, Lothar Gall, Klaus Hildebrand, Eberhard Kolb (Hrsg.): Otto von Bismarck. Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abteilung III: 1871-1898. Band 3: 1877–1878. Schöningh, Paderborn [u. a.] 2008, ISBN 978-3-506-76525-3, S. 152–154.
  • Jakob Dannenberg: Bismarcks Leitgedanken in der Balkankrise. Das Kissinger Diktat vom 15. Juni 1877. Grin, München 2010, ISBN 978-3-668-00102-2.
  • Karl Alexander Hampe: Neues zum Kissinger Diktat Bismarcks von 1877. In: Historisches Jahrbuch. Band 108. Verlag Karl Alber, München 1988, ISSN 0018-2621, S. 204–212.
  • Henning Köhler: Das Kissinger Diktat – ein Schlüsseldokument zur Außenpolitik Bismarcks? In: derselbe (Hrsg.): Deutschland und der Westen. Vorträge und Diskussionsbeitrage des Symposions zu Ehren von Gordon A. Craig. Veranstaltet von der Freien Universität Berlin vom 1.–3. Dezember 1983. Colloquium Verlag, Berlin 1984, ISBN 3-7678-0638-X, S. 34–43.
  • Lothar Machtan: Bismarck und das Kissinger Diktat. (= Bad Kissinger Museums-Informationen. Heft 5). Verlag Stadt Bad Kissingen, Bad Kissingen 2015, ISBN 978-3-934912-19-9.
  • Rainer F. Schmidt: Die Balkankrise von 1875 bis 1878 – Strategien der großen Mächte. In: Historische Mitteilungen. Band 58. Steiner Verlag, Stuttgart 2004, ISSN 0936-5796, S. 36–96.

Einzelnachweise

  1. Institut für Auswärtige Politik in Hamburg (Hrsg.): Die Auswärtige Politik des Deutschen Reiches 1871–1914. Band. 1. Berlin 1928, S. 58 f.
  2. Michael Fröhlich: Imperialismus. Deutsche Kolonial- und Weltpolitik 1880 bis 1914. dtv, München 1994, S. 37.
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