Hungersnot in Nordkorea 1994–1998

Die Hungersnot in Nordkorea 1994–1998 wird in Nordkorea als Beschwerlicher Weg oder der Weg des Leidens bezeichnet und beschreibt eine Periode der massenhaften Lebensmittelknappheit und des Hungers im Land.[1] Politisch fällt die Hungersnot mit dem Ende der Herrschaft von Staatsgründer Kim Il-sung sowie den ersten Jahren der Herrschaft von Kim Jong-il zusammen. Als Gründe gelten Ernteausfälle und die Einstellung von Hilfszahlungen aus dem Ausland nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sowie die weitverbreitete Misswirtschaft des Regimes. Verlässliche Zahlen zu der Anzahl an Toten, die durch die Hungersnot starben, sind nicht vorhanden und die Erinnerung daran wird im Land bis heute unterdrückt. Hochrechnungen aufgrund der Erzählungen von nordkoreanischen Flüchtlingen gingen ursprünglich von 2 bis 3 Millionen Toten bei einer Bevölkerung von etwas über 22 Millionen aus. Damit würde sie zu den schwersten Hungersnöten des 20. Jahrhunderts zählen.[2] Da die meisten Flüchtlinge allerdings aus den besonders betroffenen Norden des Landes stammen, könnten diese Schätzungen zu hoch gegriffen sein. Die niedrigsten Schätzungen gehen von 200.000 Toten aus. Eine ausführliche Datenanalyse des United States Census Bureau der Volkszählungen in Nordkorea von 1993 und 2008 ging 2011 von einer erhöhten Sterblichkeit in der Periode der Hungersnot von 500.000 bis 600.000 aus.[3]

Hintergrund

Nur etwa 20 % des bergigen Geländes Nordkoreas sind Ackerland. Ein Großteil des Landes ist nur sechs Monate lang frostfrei und erlaubt nur eine Ernte pro Jahr. Das Land war nie autark in Bezug auf Lebensmittel, und viele Experten halten es für unrealistisch, dies zu erreichen.[4] Vor dem Zusammenbruch des Ostblocks war das Land weitestgehend abhängig von Lebensmittelhilfen und Wirtschaftshilfe aus dem Ausland. Wichtigste Partner waren die Sowjetunion und die Volksrepublik China. Die meisten Nordkoreaner hatten lange vor Mitte der neunziger Jahre Nahrungsmittelmängel erlebt, da das zentral geplante Wirtschaftssystem schon vorher die Nahrungsmittelversorgung nicht garantieren konnte und nicht in der Lage war, auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren zu können.

Ablauf

In den 1980er Jahren begann die Sowjetunion mit politischen und wirtschaftlichen Reformen. Sie forderten von Nordkorea die Rückzahlung früherer und aktueller Hilfe – Beträge, die Nordkorea nicht zurückzahlen konnte. Bis zum Jahr 1991 löste sich die Sowjetunion auf und beendete alle Hilfs- und Handelskonzessionen wie z. B. billiges Öl.[5] Ohne sowjetische Hilfe endete der Importfluss in den nordkoreanischen Agrarsektor, und die Regierung erwies sich als zu unflexibel, um darauf zu reagieren. Die Wirtschaft des Landes kollabierte und das staatliche System der Versorgung brach zusammen. Der wirtschaftliche Niedergang und die gescheiterte Politik bildeten den Kontext für die Hungersnot, aber die Überschwemmungen Mitte der neunziger Jahre galten als die unmittelbare Ursache. Die verheerenden Überschwemmungen 1995 verwüsteten das Land, es wurden Ackerland, Ernten, Getreidereserven sowie soziale und wirtschaftliche Infrastruktur zerstört.[6][7] 1996 gab es weitere große Überschwemmungen und 1997 eine Dürre.[8] Aufgrund des Mangels an Energie und Elektrizität konnten Lebensmittel auch nicht mehr über weite Strecken transportiert werden. Mit der weit verbreiteten Zerstörung von Ernten und Nahrungsreserven suchte die Mehrheit der Bevölkerung verzweifelt nach Nahrungsmitteln, sogar in den Gebieten, in denen die Nahrungsmittelproduktion gut etabliert war. 1996 wurde berichtet, dass die Menschen in "den sogenannten bessergestellten Teilen des Landes so hungrig waren, dass sie die Maiskolben aßen, bevor die Ernte voll entwickelt war". Dies verringerte die erwartete Produktion einer bereits verwüsteten Ernte um 50 %.[9] Die Regierung rationierte Lebensmittel und führte eine Kampagne mit dem Namen "Iss zwei Mahlzeiten am Tag" ein.[10] Von den Staatsmedien wurde der Kampf der Bevölkerung gegen den Hunger mit dem revolutionären Kampf von Kim Il-sung verglichen. Im August 1995 beantragte Nordkorea offiziell humanitäre Hilfe, und die internationale Gemeinschaft reagierte entsprechend.[11] Das Land erhielt daraufhin Lebensmittelhilfen aus Südkorea, China, den Vereinigten Staaten, Pakistan, Japan und der Europäischen Union. Das Nordkoreanische Regime zeigte aber weiterhin große Intransparenz hinsichtlich der Krise gegenüber der Weltöffentlichkeit und versuchte politische Konzessionen zu erpressen.[12]

Im Jahr 1997 wurde der nordkoreanische Landwirtschaftsminister So Kwan-hui beschuldigt, für die Regierung der Vereinigten Staaten spioniert und die nordkoreanische Landwirtschaft absichtlich sabotiert zu haben, was zur Hungersnot führte.[13] Infolgedessen wurde er von der nordkoreanischen Regierung öffentlich von einem Exekutionskommando hingerichtet.[14] In den staatlichen Medien wurde die Hungersnot euphemistisch als beschwerlicher Weg bezeichnet und die Erwähnung des Wortes Hungersnot wurde verboten, da dieses auf ein Versagen der Regierung hindeuten könnte. Wer eine Hungersnot erwähnte oder sich beschwerte, hatte mit ernsthaften Sanktionen zu rechnen.[15]

Folgen

Die Hungersnot verursachte den unmittelbaren Tod von hunderttausenden Menschen. Die genaue Zahl der Todesfälle in der akuten Phase der Krise von 1994 bis 1998 ist ungewiss. Laut dem Forscher Andrei Lankow werden sowohl das extrem hohe als auch das niedrige Extrem der Schätzungen als ungenau angesehen.[16] In den Jahren 2001 und 2007 haben unabhängige Forschergruppen geschätzt, dass zwischen 600.000 und 1 Million Menschen oder 3 bis 5 Prozent der Bevölkerung vor der Krise an Hunger und Unterernährung gestorben sind.[17][18] Hungernde Bauern und Kinder zogen in der Zeit über das Land auf der Suche nach Nahrung und sollen auch Gras und Baumrinde gegessen haben. Es gibt Berichte über Leichen, die in den Straßen lagen, und Vorkommnisse von Kannibalismus.[19] Das Regime weigerte sich dennoch, eine Politik zu verfolgen, die die Einfuhr und Verteilung von Lebensmitteln ohne Diskriminierung in allen Regionen des Landes ermöglicht hätte. Das Essen wurde entsprechend ihrer politischen Stellung und ihrer Loyalität gegenüber dem Staat an die Menschen verteilt.[20] Menschen überall waren von der Krise betroffen, unabhängig von Geschlecht, Zugehörigkeit oder sozialer Schicht. Während der Hungersnot war allerdings die Bevölkerung der östlichen und nördlichen Provinzen des Landes besonders stark betroffen. Da der Staat selbst alle Nahrungsmittel verteilte, verhungerten insbesondere von dem Staat als unerwünscht angesehene Personen und Familien massenhaft, welche durch das Songbun-System klassifiziert wurden. Kinder, insbesondere unter zwei Jahren, waren am stärksten von der Hungersnot und der Armut dieser Zeit betroffen. Die Weltgesundheitsorganisation meldete Sterblichkeitsraten für Kinder bei 93 von 1000, während die von Säuglingen bei 23 von 1000 angegeben wurden. Die Hungersnot führte zu einer Bevölkerung von obdachlosen Migrantenkindern, welche bettelnd und nach Nahrung suchend durch das Land zogen, die als Kotjebi bekannt wurden.[21] Obwohl das Militär eine bevorzugte Stellung in Nordkorea besitzt, wurde es für seine eigene Versorgung verantwortlich gemacht und so hungerten auch viele Soldaten.

Als weitere Folgen der Hungersnot gelten steigende Zahlen von Flüchtlingen aus Nordkorea, welche den Grenzfluss Yalu überquerten, um nach China zu gelangen. Das System der staatlichen Versorgung von Nahrungsmittel brach zusammen und wurde durch Schwarzmärkte ersetzt. Andrei Lankow hat diesen Prozess als „natürlichen Tod des nordkoreanischen Stalinismus“ beschrieben.

Einzelnachweise

  1. David C. Kang: They Think They're Normal: Enduring Questions and New Research on North Korea—A Review Essay. In: International Security. Band 36, Nr. 3, 2011, ISSN 1531-4804, S. 142–171 (englisch, online [abgerufen am 18. März 2020]).
  2. Barbara Crossette: Korean Famine Toll: More Than 2 Million. In: The New York Times. 20. August 1999, abgerufen am 18. März 2020 (englisch).
  3. A Reassessment of Mortality in North Korea, 1993-2008. (PDF; 242 kB) US Census Bureau, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 17. September 2019; abgerufen am 18. März 2020 (englisch).
  4. Don Oberdorfer, Robert Carlin: The Two Koreas: A Contemporary History. Basic Books, 2014, ISBN 978-0-465-03123-8, S. 291 (englisch).
  5. Marcus Noland, Sherman Robinson, Tao Wang: Famine in North Korea: Causes and Cures. (PDF) Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 15. Juni 2020; abgerufen am 18. März 2020 (englisch).
  6. Steve Coll: North Korea’s Hunger. In: The New Yorker. Abgerufen am 18. März 2020 (englisch).
  7. Adrian Buzo: The Making of Modern Korea. Routledge, London 2002, ISBN 978-0-415-23749-9, S. 175 (englisch).
  8. Bruce Cumings: Korea's Place in the Sun: A Modern History. W. W. Norton & Company, New York 2005, ISBN 978-0-393-32702-1, S. 442 (englisch).
  9. Hazel Smith: Hungry for Peace: International Security, Humanitarian Assistance, and Social Change in North Korea, S. 66, United States Institute of Peace, 2005 (englisch).
  10. Don Oberdorfer: The Two Koreas: A Contemporary History. Warner Books 1997 (englisch)
  11. Quantity Reporting – Food Aid to North Korea (Memento vom 24. Dezember 2014 im Internet Archive), World Food Program, 2. Februar 2013 (englisch)
  12. Bernd Weiler: Nordkorea verhungert – und droht damit. In: Die Welt. 25. Juli 1999, abgerufen am 18. März 2020.
  13. J. P. Floru: A Nightmare Called North Korea. In: The Sun Tyrant. Biteback Publishing, London, U.K. 2017, ISBN 978-1-78590-221-5, S. 21 (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche): When the size of the catastrophe he had caused became apparent, Kim Jong-il had his agricultural minister Seo Gwan Hee executed by firing squad. Seo was accused of being a spy for ‘the American imperialists and their South Korean lackeys’ and of having sabotaged North Korea’s self-reliance in agriculture.
  14. Choe Sang-Hun: N. Korea Is Said to Execute Finance Chief. In: The New York Times. 18. März 2010, abgerufen am 10. Juli 2017 (englisch): North Korea publicly executed Seo Gwan-hee, a party secretary in charge of agriculture, on spying charges in 1997 when a famine decimated the population, according to defectors.
  15. Sandra Fahy: Mapping a hidden desaster. Personal Histories of Hunger in North Korea. In: Natural Hazards Observer. September 2015, archiviert vom Original am 28. November 2016; abgerufen am 18. März 2020 (englisch).
  16. Andrei Lankov: The Real North Korea: Life and Politics in the Failed Stalinist Utopia. Oxford University Press, Oxford 2015, ISBN 978-0-19-939003-8, S. 81 (englisch).
  17. Daniel Goodkind, Loraine West: The North Korean Famine and Its Demographic Impact In: Population and Development Review 27, Nr. 2 (Juni 2001) (englisch)
  18. Stephen Haggard, Marcus Noland, Famine in North Korea: Markets, Aid, and Reform, New York, Columbia University Press, 2007, S. 72–76 (englisch)
  19. Jürgen Kremb: NORDKOREA: Im Reich der Gespenster. In: Der Spiegel. Nr. 26, 1997 (online 23. Juni 1997).
  20. Stephen Haggard, Marcus Noland, Famine in North Korea: Markets, Aid, and Reform, New York, Columbia University Press, 2007, S. 54 (englisch)
  21. Barbara Demick: Nothing to Envy: Love, Life and Death in North Korea. Fourth Estate, Sydney 2010, ISBN 978-0-7322-8661-3, S. 160 (englisch).
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