Hilya

Der Ausdruck ḥilya (arabisch حِلْيَة ‚Schmuck, Zierrat, Ornament‘; Pl. حلى / ḥilan, ḥulan) oder hilye (als Lehnwort im Türkischen, Pl. hilyeler) bezeichnet im Kontext der islamischen Kalligrafie und islamischen Literatur eine Textgattung und bildliche Gestaltungsweise, in welcher innere und äußere Eigenschaften des Propheten Mohammed basierend auf schriftlich überlieferten und religiös tradierten Angaben beschrieben und ornamental oder figurativ dargestellt werden.[1][2] Im 17. Jahrhundert bildeten diese ḥilyas im Osmanischen Reich die Grundlage für eine neue kalligrafische Kunstform mit einem geometrischen Standardformat. Solche Werke fanden dann beispielsweise als Wandschmuck regionale Verbreitung.

Eine ḥilya von Hâfiz Osman (1642–1698), der das Standardformat für diese kalligrafische Kunstform etablierte

Texte

Eine ḥilya-i šarīfa, oft einfach nur ḥilya genannt, ist eine in kalligrafischer Form ausgeführte Beschreibung der äußerlichen und innerlichen Eigenschaften des Propheten. Die Grundlage hierfür bilden überlieferte Aussagen über Mohammeds körperliches Erscheinungsbild und seine Charaktereigenschaften. Ein berühmtes Beispiel ist eine Beschreibung, die auf Mohammeds Schwiegersohn und Vetter ʿAlī ibn Abī Tālib zurückgeführt wird; eine andere viel zitierte Beschreibung wird auf eine Frau namens Umm Maʿbad zurückgeführt, die Mohammed einmal begegnet war.[3]

In sehr kleiner Naschī-Schrift ausgeführt, wurden sie von frommen Muslimen in einer Brusttasche getragen.[2] Später wurden überlieferte Beschreibungen Mohammeds kombiniert und zu Dichtungen verarbeitet, von denen die 1599 verfasste, mehr als 700 Verse umfassende Hilye-i Şerif des türkischen Dichters Ḫāqānī Meḥmed (gestorben 1606–07) die bekannteste ist.[4][5][6]

Kunstform

Im Osmanischen Reich entwickelte sich, ausgehend von den Kalligrafien von Hâfız Osman (1642–1698), eine Kunstform (türkisch „hilye“), die Beschreibungen von Mohammeds Gestalt in visuell ansprechender Form darstellte.[2][7][8] Solche kalligrafischen Werke wurden oft gerahmt und als Wandschmuck in Häusern, Moscheen und Schreinen aufgehängt.[9][10][11] Sie erfüllten damit eine ähnliche Funktion wie Abbildungen von Jesus in der christlichen Tradition.[9] Als ornamentale Schriftkunst stellten sie eine ästhetisch ansprechende symbolische Darstellung des Propheten dar, ohne das innerhalb des Islam umstrittene Bilderverbot im Islam zu verletzen.[8]

Im Zentrum von ḥilyas steht eine Beschreibung, welche die Schönheit von Mohammeds äußerer Erscheinung und seinem Charakter hervorhebt.[12] Sie enthalten eine verbale Beschreibung von Mohammeds Aussehen, überlassen es aber der Vorstellungskraft des Lesers, diese in ein inneres Bild des Propheten umzusetzen.[9] Dies entspricht dem vorherrschenden Ideal unbildlicher Darstellungsformen in der islamischen Rechtswissenschaft.[9] Im Iran wurde allerdings öfters auch ein Porträt von Mohammed oder Ali beigegeben.[1]

Standardformat

Ḥilya von Kazasker Mustafa İzzet Efendi (1801–1876)

Hâfiz Osman entwickelte das Standardformat der ottomanischen hilye, das aus den folgenden Elementen besteht:[4]

  • Baş makam: die Kopfzeile mit einer Basmala.[2]
  • Göbek (Nabel): ein kreisrundes Feld, das den ersten Teil des in Naschī-Schrift geschriebenen Haupttextes enthält.[2][13]
  • Hilâl (Mondsichel): ohne Text und oft in Gold; zusammen symbolisieren Nabel und Mondsichel auch Sonne und Mond.[2][13]
  • Kösheler (Ecken): gewöhnlich vier rundliche Elemente, die den Nabel umgeben und die Namen der vier rechtgeleiteten Kalifen (al-ḫulafāʾ ar-rāšidūn) enthalten.[13] Die Reihenfolge ihrer Nennung entspricht der sunnitischen Lehre, d. h. der historischen Chronologie ihrer Herrschaft, ohne Vorrangstellung (tafḍīl) des vierten Kalifen ʿAlī. Von rechts nach links: Abū Bakr, ʿUmar, ʿUthmān, ʿAlī, stets verbunden mit der tarḍiya „Gott habe Wohlgefallen an ihm.“
Ḥilya als Wandschmuck. Oben: der Prophetenname mit Segenswünschen; unten: Allah mit seinen Beinamen nebst Bittgebet. Die Trennungslinie ist mit Sure 21, Vers 107 ausgefüllt.
  • Ayet (Vers): Feld unterhalb des Nabels und der Mondsichel mit einem Koranvers, in der Regel Sure 21, Vers 107: „Und wir haben dich nur deshalb (mit der Offenbarung) gesandt, um den Menschen in aller Welt Barmherzigkeit zu erweisen.“ Manchmal auch Sure 68, Vers 4: „Und du bist eine gewichtige Persönlichkeit“, oder Sure 48, Vers 28–29: „Gott genügt (dafür) als Zeuge. Mohammed ist der Gesandte Gottes“.[2][13]
  • Etek (der „Rock“ oder untere Abschnitt): hier stehen die Fortsetzung des im Nabel enthaltenen Haupttextes, ein kurzes Gebet und die Unterschrift des Künstlers.[2]
  • Koltuklar („Achseln“): zwei Felder zu beiden Seiten des unteren Abschnittes, die in der Regel nur als Zierelemente dienen und keinen Text enthalten. Manchmal sind dort aber auch Namen von Prophetengefährten, vor allem die Namen derjenigen sechs weiteren Gefährten angeführt,[2][13] denen, neben den ersten vier Kalifen, Mohammed das Paradies versprochen haben soll (al-mubaššarūn al-ʿašara).[14]
  • bzw. dış pervaz (innerer und äußerer Rahmen): Zierrahmen, die den Text umgeben.[13]

Im Vers und den Ecken wird in der Regel Thuluth-Schrift verwendet, während die Basmala in der Kopfzeile in Muḥaqqaq oder Thuluth ausgeführt ist.[15][16] Dies sind die Standardelemente, aber es gibt gelegentlich auch Abweichungen vom Standardmodell.[2] Die Erstellung von mindestens einer ḥilya mit den drei Schriftarten Muḥaqqaq, Nasch und Thuluth gehörte seit Osman zu den Pflichtübungen für jeden türkischen Kalligraphen.[15]

Verbreitung

Die geografische Verbreitung der ḥilya-Kalligrafie beschränkt sich im Wesentlichen auf die Türkei, Südosteuropa und den östlichen Mittelmeerraum; es gibt allerdings auch außerhalb dieser Regionen Künstler, die ḥilyas erstellen, so zum Beispiel den pakistanischen Kalligrafen Rasheed Butt (* 1944) und den amerikanischen Kalligrafen Mohamed Zakariya (* 1942).[8]

Beispiele

Einzelnachweise

  1. Bakker, 209
  2. Derman u. a., 36
  3. Brockopp, 130, 274–276
  4. Gruber, 131–133
  5. Digitalisat der Ausgabe 1898 bei archive.org
  6. Hierzu: Yakup Poyraz: Hâkim Seyyid Mehmed Efendi’nin “Nazire-i Hilye-i Hâkanî” Adlı Eseri. In: Turkish Studies 2/3 (2007), 449–484 (online; PDF; 407 kB).
  7. Beinhauer-Köhler u. a., 58
  8. Ernst, 103–104
  9. Peters, 160–161
  10. Schimmel, 200
  11. Safi, 276
  12. Safi, 273–274
  13. Osborn, 236–239
  14. A. J. Wensinck, J. H. Kramers: Handwörterbuch des Islam. Brill, Leiden 1943, S. 57–58; dort ist das falsche Lemma (Al-ʿĀshara (sic) ʾL-Mubashshara) zu korrigieren
  15. Ali, 8
  16. Mansour, 187, 189.

Literatur

  • Wijdan Ali: From the Literal to the Spiritual: The Development of the Prophet Muhammad's Portrayal from 13th Century Ilkhanid Miniatures to 17th Century Ottoman Art (PDF; 1,1 MB). In: EJOS (Electronic Journal of Oriental Studies). IV, Nr. 7, S. 1–24, ISSN 0928-6802 (= M. Kiel, N. Landman & H. Theunissen (Hrsg.): Proceedings of the 11th International Congress of Turkish Art, Utrecht, The Netherlands, August 23–28, 1999).
  • Alexandra Bain: The late Ottoman "En'am-i Serif": Sacred text and images in an Islamic prayer book. Diss. Victoria 1999, bes. S. 70ff (Digitalisate: 37–78 (PDF; 3,7 MB) und 75–100; PDF; 3,0 MB).
  • Freek L. Bakker: The challenge of the silver screen: an analysis of the cinematic portraits of Jesus, Rama, Buddha and Muhammad. BRILL, Leiden 2009, ISBN 978-90-04-16861-9 (Google Books).
  • Bärbel Beinhauer-Köhler, Claus Leggewie, Alen Jasarevic: Moscheen in Deutschland: religiöse Heimat und gesellschaftliche Herausforderung. C. H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-58423-7 (Google Books).
  • Jonathan E. Brockopp (Hrsg.): The Cambridge companion to Muḥammad. Cambridge University Press, Cambridge 2010, ISBN 978-0-521-71372-6 (Google Books).
  • M. Uğur Derman: Yazı Sanatımızda Hilye-i Saadet. In: İlgi 13/28 (1979), S. 32–39.
  • M. Uğur Derman, Metropolitan Museum of Art (New York, N.Y.), Los Angeles County Museum of Art: Letters in gold: Ottoman calligraphy from the Sakıp Sabancı collection, Istanbul. Metropolitan Museum of Art, New York 1998, ISBN 3-525-54124-4 (Google Books).
  • Carl W. Ernst: Mohammed folgen: Der Islam in der modernen Welt. Aus dem Englischen von Kurt Maier. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, ISBN 978-0-8078-5577-5 (Google Books).
  • Christiane J. Gruber: The Islamic manuscript tradition: ten centuries of book arts in Indiana University collections. Indiana University Press, Bloomington 2010, ISBN 978-0-253-35377-1 (Google Books).
  • Nassar Mansour (Autor), Mark Allen (Hrsg.): Sacred Script: Muhaqqaq in Islamic Calligraphy. I.B. Tauris & Co Ltd, New York 2011, ISBN 978-1-84885-439-0 (Google Books).
  • J. R. (Wayne) Osborn: The type of calligraphy: Writing, print, and technologies of the Arabic alphabet. ProQuest, Ann Arbor 2008, ISBN 978-0-549-51769-6 (Google Books).
  • F. E. Peters: Jesus and Muhammad: Parallel Tracks, Parallel Lives. Oxford University Press, New York 2010, ISBN 978-0-19-974746-7 (Google Books).
  • Omid Safi: Memories of Muhammad: why the Prophet matters. HarperCollins, New York 2009, ISBN 978-0-06-123134-6 (Google Books).
  • Annemarie Schimmel: Die Zeichen Gottes: die religiöse Welt des Islam, C. H. Beck, München 1995, ISBN 3-406-39754-9 (Google Books).
  • Annemarie Schimmel, Abdoldjavad Falaturi: We believe in one god: the experience of God in Christianity and Islam, Seabury Press, New York 1979, ISBN 0-8164-0451-8 (Google Books).
  • Priscilla Soucek: The Theory and Practice of Portraiture in the Persian Tradition (PDF; 2,6 MB). In: Muqarnas. 17, 2000, S. 97–108.
  • Faruk Taşkale, Hüseyin Gündüz: Hat sanatında hilye-i şerife: Hz. Muhammed'in özellikleri. Antik A.Ş. Kültür yayınları, Istanbul 2006, ISBN 975-7843-07-5 (Kopie auf der Webseite des Autors).
Commons: Hilye – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
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