Biyan Lu

Das Biyan Lu (Bi-Yän-Lu, chinesisch 碧巖錄 / 碧岩录, Pinyin Bìyán lù, W.-G. Pi-yen lu; jap. 碧巌録, Hekiganroku; dt. etwa Aufzeichnungen vom türkisblauen Felsen) ist eine Sammlung von 100 Kōans in 10 Faszikeln aus der Blütezeit des chinesischen Chan-Buddhismus in der Song-Dynastie.

Das Werk, dessen Name sich vom Tempel-Zimmer Bìyán Yuàn (碧巖院) in Hunan ableitet, wo Yuanwu Keqin (1063–1135)[1] die meisten seiner Kommentare schrieb, gilt bis heute als philosophisch und literarisch anspruchsvollster Klassiker der Zen-Literatur.

Grundlage bilden die 100 „Beispiele“ von Begegnungsdialogen, die vom Yunmen-Mönch Xuedou Chongxian (980–1052)[2] ausgewählt und mit eigenen Versen versehen wurden[3]; Hauptquelle waren mit 82 Beispielen die Aufzeichnungen von der Übertragung der Leuchte aus der Ära Jingde (Jǐngdé Chuándēng lù).[4]

Yuanwu schuf für das Biyan Lu[5] eine neue Stufe der Chan-Literatur: Nach seinen kurzen Einführungen (chuishi, 垂示) durchsetzte er die überlieferten Koan-Texte (benze, 本則) mit knappen Bemerkungen, kommentierte sie anschließend ausführlich (pingchang, 評唱), durchsetzte dann wiederum Xuedou's Verskommentare (song, 頌) und kommentierte auch diese, jeweils in scharf ironischer, oft scheinbar irreführender Art[6].

Die Sammlung beginnt mit der legendären Begegnung des ersten Chan-Patriarchen, Bodhidharma, mit dem wichtigen Förderer des Buddhismus in China, Kaiser Wu Di von Liang (464–549), wo es u. a. heißt: „Wu-Di von Liang fragte den Großmeister Bodhidharma: Welches ist der höchste Sinn der Heiligen Wahrheit? Bodhidharma sagte: Offene Weite – nichts von heilig.“ (Übers. W. Gundert)

Von den mehr als 50 in den Kōans zitierten Meistern erscheint Yunmen Wenyen am häufigsten; sein „Tag um Tag ist guter Tag“ wurde zu einem in Ostasien bis heute gebräuchlichen Sprichwort[7]. In den Kommentaren werden außerdem Bezüge z. B. zu Chan-Patriarchen wie Jianzhi Sengcan und Dajian Huineng (hier auch als „Pilger Lu“ bezeichnet) hergestellt.

Yuanwus direkter Nachfolger, Dahui Zonggao (1089–1163)[8] ließ das Werk jedoch samt Druckstöcken vernichten, um eine Schriftengläubigkeit der Mönche zu verhindern. Bei einer späteren Rekonstruktion gingen aufgrund des nur noch unvollständigen Quellenmaterials einige der Sätze Yuanwus und möglicherweise auch Passagen Xuedongs verloren. Erst 1300–1317 wurde eine rekonstruierte Fassung neu herausgegeben, die ein Laie[9] zusammengestellt hatte.

Dōgen Zenji, der die Caodong-Schule (Cáodòng zōng)[10] des Chan 1227 nach als Japan brachte, führte das Werk mittels einer eigenen handschriftlichen Kopie in den von ihm begründeten Soto-Zen ein. Es wurde ab der Muromachi-Periode (1336–1573), inzwischen wieder in gedruckter Fassung, zu einem zentralen Text im japanischen Zen.[11]

Die bekannteste deutsche Übersetzung unter dem Titel Bi-Yän-Lu – Niederschrift von der Smaragdenen Felswand stammt von Wilhelm Gundert und umfasst die Kōans 1–68; sie erschien 1960–1973. Die erste vollständige Originalübertragung ins Deutsche wurde 1999 von Ernst Schwarz veröffentlicht; sie unterschied sich deutlich von der Gunderts. Beide Interpreten des subtilen chinesischen Textes lebten jahrzehntelang in Japan bzw. China, was ihnen ein vielseitiges Studium des traditionellen Buddhismus in Sprache, Literatur und Kultur ermöglichte; sie betonten trotzdem die außerordentlichen Hürden dieses Textes[12].

Schwarz erläuterte das Wesen des Werkes in seiner Einführung (S. 36–37) wie folgt: „Die ersten großen Meister des Zen-Buddhismus hielten sich im Wesentlichen an den Grundsatz, Wort und Schrift in der Weitergabe der Lehre möglichst zu vermeiden. Gebrauchten sie doch Worte im Umgang mit den Schülern, so waren es nicht Worte des alltäglichen Gesprächsstils, Sätze, wie sie täglich und überall zu hören waren, sondern Worte und Sätze, die in ihrer Ungewohntheit verwirrten, vor den Kopf stießen und damit zu aufmerksamem Nachdenken zwangen.“

„Kein Schrifttum soll errichtet werden.

Gelehrt sei außerhalb der Lehre.

Trefft gradewegs des Menschen Herz.

Zum Buddha wird, wer so sein Wesen fand.“ Bodhidharma

(Übers. E. Schwarz)

Siehe auch

  • Koan die im Chan- bzw. Rinzai-Buddhismus wichtigen lehrhaften Handlungen oder Aussagen von Zen-Meister.
  • Buddhistische Literatur zu den religiösen Schriften des Buddhismus.
  • Das Zen-Glossar beschreibt bekannte Ausdrücke aus dem Zen sowie dem Chan und erläutert die, für das Verständnis der Zen–Philosophie wichtige, wechselseitige Abhängigkeit der Begriffe.

Literatur

  • Zen. Der lebendige Buddhismus in Japan. Ausgewählte Stücke der Zen-Texte übers. u. eingel. v. Schuej Ohasama, hrsg. v. August Faust. Gotha – Stuttgart: F. A. Perthes, 1925
  • Bi-Yän-Lu: Meister Yüan-wu's Niederschrift von der Smaragdenen Felswand, verfasst auf dem Djia-schan bei Li in Hunan zwischen 1111 und 1115, in Druck erschienen in Sïtschuan um 1300 / verdeutscht und erläutert von Wilhelm Gundert. München – Wien: Hanser, 1960, 1967, 1973. 3 Bde. (Nachdruck in Wiesbaden: Marix, 2005, 3 Bde. in 1 Bd., ISBN 3-86539-031-5)
  • Bi-Yän-Lu, Aufzeichnungen des Meisters vom Blauen Fels / a. d. Chines. übers., komment. u. hrsg. v. Ernst Schwarz. München: Kösel, 1999. ISBN 3-466-20443-7
  • Hekigan-Roku – Die blaugrüne Felswand – Fall 1-100 / a. d. Chines. übers. u. mit Zen-Teisho pro Fall v. Brigitte D'Ortschy Koun-An. Hrsg.: Monica Maurer. Gruenwald: Wolkenverlag, 2001–2003.
  • Hekiganroku, Die Niederschrift vom blauen Fels / Yamada Kôun; ins Dt. übertr. u. hrsg. v. Peter Lengsfeld. München: Kösel, 2002. 2 Bde. ISBN 3-466-36593-7
  • Bi-Yan-Lu, Aufzeichnungen vor smaragdener Felswand – Die 100 Kôan des Hekiganroku / a. d. Chines. übers.und komment. von Dietrich Roloff / ISBN 978-3-86410-045-1 / Oberstdorf: Windpferd, 2013
  • Heinrich Dumoulin: Geschichte des Zen-Buddhismus. Band I: Indien und China. 2. durchgesehene u. erweiterte Auflage, Tübingen: Narr Francke Attempo Verlag, 2019.
  • Daoyuan: Records of the Transmission of the Lamp, Vol. 1-8. Translated by Randolph S. Whitfield. Norderstedt: Books on Demand, 2015–2020
  • Albert Welter, Steven Heine & Jin Y. Park: Approaches to Chan, Son, and Zen Studies – Chinese Chan Buddhism and its spread throughout East Asia. State University Press of New York, 2022
Commons: Biyanlu – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. 圜悟克勤, W.-G. Yuan-wu K'e-ch'in, jap. (Rōmaji) Engo Kokugon.
  2. Auch Xuedou Zhongxian, 雪竇重顯, W.-G. Hsueh-tou Ch'ung-hsien, jap. Setchō Jūken.
  3. Xuedou songgu ji, 雪竇頌古集, auch bekannt als Baize songgu, 百則頌古.
  4. Die umfangreichen Aufzeichnungen von der Übertragung der Leuchte aus der Ära Jingde (景德傳燈錄, Jǐngdé Chuándēng lù, W.-G. Ching-te Ch'uan-teng lu, jap. Denkō-roku) entstanden in der Regierungsperiode Jingde (景德; 1004–1007) von Kaiser Zhenzong (968–1022); sie wurden in 30 Faszikeln zusammengestellt von Shi Daoyuan (釋道原; W.-G. Shih Tao-yüen; 10./11. Jh.) und 1008–1011 publiziert. Laut Randolph Whitfield, der die erste vollständige Übersetzung ins Englische schuf, wurden hier 981 Chan-Meister und ca. 700 weitere Personen aufgeführt.
  5. Vollständiger Titel einschl. des Autors: Foguo Yuanwu Keqin Chanshi biyan lu (佛果圜悟克勤禪師碧巖錄). Auf einer Vortragsreihe Yuanwus beruhend, dann als gedruckte Sammlung 1128 herausgegeben.
  6. Eugen Herrigel: „Hsüeh-tou erweist sich in den Gesängen als begnadeter Dichter. Die scharfen, oft bitter ironischen, immer ins Schwarze treffenden Zwischenbemerkungen Yüan-wus lassen aufhorchen.“ (Bd. I, S. 252). – Das „ins Schwarze treffen“ erfolgt mit Hilfe einer paradox wirkenden Sprache, vgl. Chung-ying Cheng: On Zen (Ch’an) Language and Zen Paradoxes, in: Journal of Chinese Philosophy, Vol. 1 (1973), S. 77–102.
  7. 日々是好日 stammt aus dem 6. Kōan: „Yün-men richtete bei der Unterweisung folgende Worte an seine Hörer: Nach den letzten fünfzehn Tagen frage ich euch nicht. Zu den nächsten fünfzehn Tagen kommt mir mit einem Sätzchen daher und redet. An der Stelle der Gefragten sagte er dann selbst: Tag um Tag ist guter Tag.“ (Übers. W. Gundert) In Lessing-Othmer-Gundert-Umschrift lautet der Satz „Jï-jï schï hau-jï, jap. Nichi-nichi kore kô-nichi“, s. Kalligraphie bei Gundert, Bd. 1, S. 546/547. Speziell in Japan wird dies in der Gegenwart oft auch „Nichi nichi kore kōjitsu“ oder als Alltagssprichwort „Hibi kore kōjitsu“ gelesen bzw. zitiert, was allerdings des ursprünglichen sprachlichen Witzes entbehrt.
  8. 大慧宗杲, W.-G. Ta-hui Tsung-kao, jap. Daie Sōkō.
  9. Zhang Mingyuan (張明遠, jap. Chō Mei-en, auch Chô Mujin)
  10. 曹洞宗, Cáodòng zōng, jap. Sōtō-shū, benannt nach den Meistern Dongshan Liangjie (807–869) und Caoshan Benji (840–901).
  11. Zur Geschichte des Werkes siehe z. B. Vorbericht in Bd. 1 von Gundert oder auch Steven Heine: The Transmission oft he Blue Cliff Record to Medieval Japan – in: Welter, Heine & Park Approaches to Chan, Son, and Zen Studies, 2022.
  12. Wilhelm Gundert, der hauptsächlich japanische Vorlagen und Kommentare verwendete, in seinem Vorbericht von Bd. 1 (S. 28–30): „Es war freilich keine leichte Arbeit, diese Schrift von der Smaragdenen Felswand auch nur sprachlich zu verstehen, geschweige denn, an ihren Sinn heranzukommen. […] es ist, wie der Titel jener etwas späteren Beispielsammlung als unserer besagt, eine ›Grenzsperre ohne Durchgang‹, oder, wie der Übersetzer Dumoulin es nennt, ein ›Paß ohne Tor‹. […] Vielleicht war es Vermessenheit, sich diese Aufgabe auch nur zu stellen. Der Übersetzer kann es für sich selber nicht entscheiden.“ Ernst Schwarz, der sich auf chinesische Quellen stützte, in seiner Einführung (S. 49–50): „Ich gestehe, die Arbeit an diesem Buch stellte in meinem ganzen Leben die größten Anforderungen in allem: Zeit, Nachschlagen, Nachlesen, Nachdenken – ja sogar Träumen. Manche Überlegungen zu schwierigen Stellen begleiteten mich bis in die Träume hinein. […] es war die schwerste Arbeit dieser Art in meinem ganzen langen Leben.“
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