Gulfhaus
Das Gulfhaus, auch als Gulfhof oder Ostfriesenhaus bezeichnet, ist eine Bauernhausform, die im 16. und 17. Jahrhundert in Norddeutschland aufkam. Es ist ein Holzgerüstbau in Ständerbauweise. Das Gulfhaus verbreitete sich zunächst in den Marschen und anschließend in den friesischen Geestgebieten. Das Verbreitungsgebiet erstreckte sich im Nordseeküstenraum von Westflandern über Holland, Ostfriesland und Oldenburg bis nach Schleswig-Holstein (als Haubarg). Unterbrochen wurde diese Linie durch das Elbe-Weser-Dreieck, in dem sich die Form des (niederdeutschen) Hallenhauses, besser bekannt als Niedersachsenhaus, bewahrte.
Das bisher älteste in Ostfriesland bekannte noch erhaltene Gulfhaus ist der Gulfhof Rieken in Westerende-Kirchloog, dessen Hallenteil aus dem Jahr 1568 stammt.[1]
Entstehung
Seine Entstehung verdankt das Gulfhaus ökonomischen Gegebenheiten. Der Vorgänger des Gulfhauses war das altfriesische Bauernhaus, das wie das Gulfhaus auch, ein Wohnstallhaus darstellte. Diese kleinen Gebäude reichten den Landwirten räumlich aus, da keine große Ernte einzulagern war. Getreideanbau war nur auf wenigen hoch liegenden Flächen möglich, während die ungenügend entwässerten Marschen sich nur als Gras- und Weideland eigneten. Durch verbesserte Entwässerungstechniken mit Wind-Wassermühlen konnten später fruchtbare tiefer liegende Marschgebiete trockengelegt und großflächig für Getreideanbau genutzt werden. Zur Bergung der wachsenden Erntemengen wurde ein Haus mit großem Fassungsvermögen nötig, woraus das Gulfhaus entstand.
Etymologie
Der Begriff Gulf bezeichnet den Scheunenteil zwischen den vier zentralen Ständern im hinteren Teil des Gebäudes.[2] Dieser häufig etwas tiefer als der Rest der Scheune gelegene kubische Stapelraum wird in Ostfriesland seit dem frühen 17. Jahrhundert als Gulf genannt. Im nordniederländischen Küstengebiet heißt er dagegen Golf. Das Wort Golf ist altnordischen Ursprungs und bedeutet Rinne oder Vertiefung.[3]
Aufbau
Das typische Gulfhaus besteht aus einem Vorderhaus (plattdeutsch: Vörderenn'), das den Wohntrakt darstellt, und dem angrenzenden Stall-/Scheunentrakt (plattdeutsch: Achterenn'). Dadurch, dass im hinteren Bereich das Dach weiter herabgezogen wird, entstehen Abseiten, so genannte „ūtkübben“, so dass der Scheunentrakt breiter ist als der Wohntrakt. Das Zentrum des Stall-/Scheunentraktes bildet der „Gulf“, eine Lagerfläche für Heu, Erntegut und Gerät, dem dieser Haustyp seinen Namen verdankt.
In der einen Abseite befinden sich Abteile zum Einstellen von Rindern (plattdeutsch: Kohstall). Der davor verlaufende Gang wird als „kaugâng“ (plattdeutsch: Kohhgang) bezeichnet. Am äußersten Ende befindet sich traditionell das Plumpsklo (gemak). An der Giebelseite des Scheunentraktes finden sich zwei Türen, ein großes Scheunentor (plattdeutsch: Schküürdör) auf der einen Seite, die den Zugang zur Dreschdiele (plattdeutsch: Döschdeel) und den Gulfen auch mit Wagen ermöglicht und eine kleine, zweigeteilte Tür (plattdeutsch: Messeldör) auf der anderen. Letztere erhielt ihren Namen daher, dass durch sie der Mist vom „kaugâng“ (Mist = mäers; entmisten = messen) abtransportiert wurde.
Häufig findet man über der großen Scheunentür ein halbrundes Fenster im Metallrahmen mit einer Inneneinteilung in Gestalt einer stilisierten aufgehenden Sonne.
Der vordere, am Giebel gelegene Teil des Mitteltraktes, in dem der Pferdestall (plattdeutsch: Peerstall) untergebracht ist, wird durch eine Trennmauer abgegrenzt und erhält eine Abdeckung, so dass ein zusätzlicher Boden (sg. hiel, plattdeutsch: Hill) entsteht, auf dem weiteres Heu für die Winterfütterung gelagert wird.
Die Dachlast tragen bei diesem Bautypus nicht die Außenwände, sondern ein innen liegendes Ständerwerk (plattdeutsch: Stapelwark).
Die Dacheindeckung des Wohntrakts erfolgt traditionell vollständig mit roten Ton-Dachpfannen, während der Scheunentrakt im unteren Drittel mit ebendiesen Dachpfannen und im oberen Bereich mit Reet gedeckt ist. Das Dach ist mindestens auf der windzugewandten Giebelseite (meist der Scheunengiebel), manchmal auch an beiden Giebeln als Krüppelwalm ausgebildet, der auch heute noch vielfach von einem Maljan bekrönt ist.
Eine Besonderheit vieler älterer Gulfhöfe ist die sogenannte Upkammer (plattdeutsch: Upkamer), ein Raum im Wohntrakt, der wegen eines darunter liegenden, halb oberirdischen Kellers höher angeordnet ist als die übrigen Zimmer. Dem entspricht bei solchen Gebäuden in der Außenansicht vielfach noch eine versetzte Anordnung der Fenster.[4]
Der Konstruktionsplan des Gulfhauses findet (gelegentlich mit größen- oder lagebedingten Modifikationen wie z. B. einem seitlichen Eingang) Anwendung gleichermaßen bei großen Hofgebäuden (plattdeutsch: Plaats) wie auch bei kleineren Gebäuden bis hin zu Landarbeiterhäusern.
Andere Verwendungen
Durch den Strukturwandel in der Landwirtschaft und die Aufgabe von Höfen boten sich Chancen, Gulfhöfe auch anderen als landwirtschaftlichen Zwecken zuzuführen. So wurde in Loquard (Gemeinde Krummhörn, Landkreis Aurich) ein ehemaliger Gulfhof zu einer Grundschule umgebaut. In Hollen (Gemeinde Uplengen, Landkreis Leer) war die örtliche Sparkasse in einen ehemals landwirtschaftlich genutzten Gulfhof eingezogen. Durch den weiteren Strukturwandel im ländlichen Raum ist dieser Gebäudeteil zu einer Privatwohnung umgebaut worden. Der Naturschutzbund NABU betreibt in Wiegboldsbur (Gemeinde Südbrookmerland, Landkreis Aurich) einen Gulfhof als Lehrhof für naturnahe Landwirtschaft und in Butjadingen wird der frühere Gulfhof Bree als Schullandheim und Jugendgruppenhaus betrieben.
Auf dem historischen Dorfplatz von Grootegaste wurde das frühere Gulfhaus von Steenfelde wieder aufgebaut. Durch das ehemalige Scheunentor betritt man das Museumsbauernhaus Neemann. Im Hinterhaus des Museums ist eine Sammlung historischer landwirtschaftlicher Geräte, Werkzeuge alter Handwerksberufe und der Torfgewinnung – von Erdkarren bis zu einer Feldschmiede zu sehen. In der ehemaligen Stallgasse findet man Ackergeräte und ein Plumpsklo mit altem Zeitungspapier. Außerdem kann ein Tante-Emma-Laden in der ehemaligen Küche des Gulfhauses und altes Mobiliar im Wohnbereich besichtigt werden.[5]
Eine skurrile Geschichte weist das Gulfhaus auf dem Gelände der Zitadelle Vechta tief im ehemaligen Stammesland der Sachsen auf, wo man eigentlich keine Häuser im für die Frieslande typischen Stil erwarten würde: Das Haus ohne Wohnteil verdankt seine Entstehung Resozialisierungsmaßnahmen im Strafvollzug des 19. Jahrhunderts. Ein ostfriesischer Strafgefangener der JVA Vechta, Zimmermann von Beruf, erstellte 1886 die Holzkonstruktion während seiner Haftzeit, um sie nach der Entlassung in die Heimat zu transportieren und durch einen Wohnteil zu vervollständigen. Doch der Häftling verstarb während seiner Haftzeit in Vechta, wodurch das Gebäude auf dem Zitadellengelände verblieb und als anstaltseigenes Stallgebäude diente.[6] Heute gehört das Gebäude gemeinsam mit einem benachbarten Neubau als „GulfHaus“ zu einem von der Gesellschaft „Haus der Jugend Vechta“ betriebenen Jugendzentrum-Komplex.
Weblinks
Einzelnachweise
- Gabriele Boschbach: Alter Gulfhof birgt eine kleine Sensation, In: Ostfriesen-Zeitung, 15. September 2018, S. 13.
- Plattdeutsch-Hochdeutsches Wörterbuch für Ostfriesland. Abgerufen am 30. Mai 2022.
- Wolfgang Rüther: Hausbau zwischen Landes- und Wirtschaftsgeschichte. Die Bauernhäuser der Krummhörn vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Münster (Westf.) 1999, S. 79.
- Eine Upkammer ist als Museum zu besichtigen im Westmünsterland (heute jedoch Kreis Wesel) im Humberghaus in Dingden.
- Museumsverband Niedersachsen und Bremen: Museumsbauernhaus Neemann.
- Haus der Jugend Vechta GmbH: Das GulfHaus: Architektur und Geschichte (Memento vom 28. März 2014 im Internet Archive)