Grausamkeit

Grausamkeit (Adjektiv: grausam: mittelhochdeutsch: grūwesam; daraus Ableitung zu grūwe: Schauder)[1] ist eine seelisch-mentale Haltung, die eine Täter-Opfer-Beziehung herstellt, und zwar dergestalt, dass der Täter dem Opfer aus gefühlloser unbarmherziger Gesinnung besondere körperliche oder seelische oder seelisch-körperliche Qualen zufügt.[2]

Anders als Brutalität, die sich eruptiv in Einzelereignissen auf der körperlichen Ebene äußert, ist Grausamkeit eine mental-seelische Grundhaltung des Täters seinem Opfer gegenüber, die das Opfer auf allen Ebenen seines Seins, durch die täterseitige geistig-seelische Haltung und durch täterseitige brutale Handlungen beschädigt.[3]

Ursachen und Formen der Grausamkeit werden seit der Antike sowohl philosophisch, im Christentum religionsphilosophisch (Theodizee), seit dem späten 19. Jahrhundert individualpsychologisch (Sigmund Freud) und sozialpsychologisch (Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse) diskutiert.

Psychologisch gesehen ist der unmittelbare Auslöser für Grausamkeit die Abwesenheit von Empathie, sei es durch Erziehung, Sozialisation, eingeübte Abstumpfung oder neurotische oder psychotische Vorgänge ausgelöst (Psychopath).

Eine Steigerungsform zur umgangssprachlichen Bezeichnung von Grausamkeit mit blutigem Körperschaden ist die Kombination mit dem Begriff der Bestialität: bestialische Grausamkeit (synonym auch: tierische Grausamkeit). Beispiel: mittelalterliche Foltermethoden.[4]

Bestimmte Staatsformen und Lebenssituationen führen in verstärktem Maße zu Entwicklung von Grausamkeit: zum Beispiel im Totalitarismus,[5] im Krieg[6], bei Vertreibungen, in Apartheidsgesellschaften,[7] Ständegesellschaften[8] u. a. Der Ausübung von Grausamkeit von Menschen gegen Menschen entgegenwirken sollen internationale Übereinkünfte wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 und die Ächtung von Grausamkeit als Straftat, zum Beispiel im Fall von Grausamkeit gegen Tiere durch Gesetze gegen Tierquälerei.

Im deutschen Strafrecht

Im deutschen Strafrecht ist die Grausamkeit ein sog. Mordmerkmal. Beim Vorliegen dieses Merkmals bei einer vorsätzlichen Tötung handelt es sich nicht um Totschlag (§ 212 StGB), sondern um Mord (§ 211 StGB).

Definition der Grausamkeit

Grausam tötet, wer dem Opfer besonders starke physische oder psychische Schmerzen oder Qualen in gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung zufügt.[9] Objektiv muss der Täter dem Opfer körperliche oder seelische Leiden zufügen, die über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen.[10] Beispiele: Nahrungs- oder Flüssigkeitsentzug, Kreuzigung, Folter, Verbrennen.

Subjektiv muss der Täter die Umstände kennen, die die Grausamkeit ausmachen und die gefühllose und unbarmherzige Gesinnung muss den Täter (nur) bei der Tat beherrschen.[11] In der Regel ergibt sich diese Gesinnung schon daraus, dass der Täter dem Opfer bewusst übermäßige Schmerzen und Leid zufügt.

Grausamkeit durch Unterlassen

Grausamkeit ist auch durch Unterlassen möglich, z. B. beim Verhungern- und Verdurstenlassen.[12] Notwendig ist allerdings, dass das Opfer noch fähig ist Leid zu empfinden; daran fehlt es z. B. bei Bewusstlosigkeit[13] oder beim Verlust des Hungergefühls nach langem Nahrungsmittelentzug[14].

Grausamkeit und Versuchsbeginn

Nach dem Bundesgerichtshof soll der Versuchsbeginn bei einem Täter mit Tötungsvorsatz schon bei der Zufügung der körperlichen und seelischen Leiden vorliegen, selbst wenn die Tötung erst wesentlich später durchgeführt werden soll.[15] In der Literatur wird dies kritisiert.[16] Zu einer erneuten Entscheidung über einen solchen Fall kam es bisher nicht.

Bekämpfung von Grausamkeit

Michael Hampe sieht die „Bekämpfung von Grausamkeit als Kern oder Kristallisationskeim [...], um den herum sich Bewegungen der Aufklärung in vielen Teilen der Welt zu unterschiedlichen Zeiten entwickelt haben“[17]. Fortsetzung davon sei die Bekämpfung von Unterdrückung, Illusionen und Ungerechtigkeiten. „Es braucht Bildungsprozesse und den Mut, Evidenzen und Gründe einzufordern, um der Unterdrückung durch Illusionen und Unwahrheiten etwas entgegensetzen zu können.“ Unsere Epoche habe besonders starke Mittel, um Unwahrheiten aufzudecken.

Siehe auch

Literatur

  • Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. (= rororo. 17052). 23. Auflage. Rowohlt, 2011, ISBN 978-3-499-17052-2.
  • Roy F. Baumeister: Vom Bösen. Warum es menschliche Grausamkeit gibt. 1. Auflage. Verlag Hans Huber, 2013, ISBN 978-3-456-85233-1.
Wiktionary: Grausamkeit – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. etymologische Herleitung des Wortes grausam von grüwe: Schauder. Das Wort ist seit dem 13. Jahrhundert belegt. auf de.wiktionary.org, abgerufen am 21. Juni 2013.
  2. Definition „grausam“ auf rechtswoerterbuch.de, abgerufen am 21. Juni 2014.
  3. Siehe zu Grausamkeit: Bruno Bettelheim: Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation. New York 1979/ München 1982 und: Klaus Theweleit: Männerphantasien. Band 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des Weißen Terrors. Verlag Roter Stern/ Stroemfeld 1977, 1978, Lizenzausgabe als TB bei Rowohlt 1983–94, DTV, Piper 2000.
  4. bestialisch aus dem Lateinischen: Bestia - das wilde Tier, fußt historisch auf der Beobachtung von carnivoren Prädatoren, fleischfressenden Beutejägern, die ihre Beute nach dem Schlagen mit Zähnen und Krallen aufbrechen und stückweise ausweiden.
  5. Beschreibungen von Grausamkeiten in einem totalitaristischen System zum Beispiel in: Alexander Issajewitsch Solschenizyn: Der Archipel Gulag. 1973.; und ders.: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. 1962.
  6. Beschreibungen von verübten Grausamkeiten in Kriegen: Thomas Klein, Marcus Stiglegger, Bodo Traber: Kriegsfilm. 2006 und Mariatu Kamara, Susan McClelland (Mitwirkende): Das Mädchen ohne Hände. Pattloch, München 2009, ISBN 978-3-629-02229-5 (Kriegs-Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung von Sierra Leone: Abhacken der Hände durch Kindersoldaten, damit die Opfer kein Kreuz auf dem Wahlzettel machen können)
  7. Beschreibungen Grausamkeiten verübt in einem Apartheidsregime zum Beispiel in: Mark Mathabane: Kaffern Boy - Ein Leben in der Apartheid. Ehrenwirth Verlag, München 1986, ISBN 3-431-02915-9 (Originaltitel: Kaffir Boy).
  8. Beispiel für Beschreibungen von grausamen Handlungen in einer klerikal dominierten Ständegesellschaft: Methoden der kirchlichen Inquisition im Mittelalter: Der Hexenhammer, Dritter Teil. Erstausgabe 1489. Detaillierte Beschreibungen bestialisch grausamer Folterpraktiken
  9. BGHSt 3, 264.
  10. BGHSt 45, 189 (195 f.).
  11. BGHSt 3, 264.
  12. BGH NStZ-RR 2009, 173.
  13. BGH NJW 1986, 266.
  14. BGH Beschl. v. 13.03.2007 – 5 StR 320/06.
  15. BGH NStZ 2014, 447.
  16. Krehl, Christoph in: Neue Zeitschrift für Strafrecht, 2014, 447 (449).
  17. Michael Hampe: Die Dritte Aufklärung. Nicolai Publishing & Intelligence GmbH, Berlin 2018, ISBN 978-3-96476-002-9, S. 39
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