Giacinto Scelsi

Giacinto Scelsi [dʒaˈtʃinto ˈʃɛlsi] (* 8. Januar 1905 in La Spezia, Italien; † 9. August 1988 in Rom; vollständiger Titel und Name: Conte Giacinto Francesco Maria Scelsi d’Ayala Valva) war ein italienischer Komponist und Dichter.

Giacinto Scelsi

Leben

Scelsi selbst war immer bemüht, keine Details über sein Leben in die Öffentlichkeit dringen zu lassen (beispielsweise gibt es von ihm kaum ein authentisches Bild[1]) bzw. betrieb sogar bewusste Fälschungen. Als gesichert gelten dürfen folgende Eckdaten:

Giacinto Scelsi, Graf von d’Ayala Valva, stammte aus altem süditalienischem Adel. Seine frühen Jahre sind nur bruchstückhaft bekannt. Als Kind lernte er (vermutlich autodidaktisch) Klavier spielen, in seiner späten Jugend studierte er Komposition und Harmonielehre bei Giacinto Sallustio in Rom. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ging er nach Paris, führte das Leben eines Dandys in Paris und London und heiratete eine englische Adelige aus der Verwandtschaft des britischen Königshauses, die sich bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von ihm trennte. Scelsi hatte engen Kontakt zum Kreis der französischen Surrealisten um Paul Éluard, Salvador Dalí und Henri Michaux. Anfang der 1930er Jahre studierte er bei dem Skrjabin-Anhänger Egon Köhler in Genf und 1935/1936 Zwölftontechnik bei dem Schönberg-Schüler Walter Klein in Wien. Er unternahm zahlreiche Reisen, u. a. nach Afrika und dem Fernen Osten.

In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre setzte bei Scelsi eine psychische Krise ein, die zu einem längeren Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium führte. In der Zeit zwischen 1947 und 1952 stellte er das Komponieren ein. 1952 ließ er sich endgültig in Rom nieder, seine Schaffenskraft kehrte wieder. Jetzt, um das fünfzigste Lebensjahr, begann er seinen persönlichen Stil zu entwickeln. Er lebte zurückgezogen, seine Musik fand zunächst wenig öffentliche Aufmerksamkeit. Erst in den 1980er Jahren kam es vermehrt zu Aufführungen, es setzte nun eine rege Rezeption und Diskussion seiner Musik ein. Seine Klaviermusik wurde u. a. von Frederic Rzewski, Marianne Schroeder und Ivar Mikhashoff uraufgeführt.

In seinem römischen Wohnhaus befindet sich heute der Sitz der Giacinto-Scelsi-Stiftung.

Scelsi war Anhänger der Reinkarnationslehre – für ihn begann sein Leben dementsprechend lange vor 1905. Nach eigenen Angaben wurde er das erste Mal im Jahr 2637 v. Chr. in Mesopotamien geboren, lebte als Assyrer am Euphrat und wurde zusammen mit seiner damaligen Ehefrau im Alter von 27 Jahren getötet. Eine zweite Reinkarnation datierte Scelsi auf die Zeit Alexanders des Großen, anlässlich dessen Beerdigung will er bei einer Begräbnismusik mitgewirkt haben.

Musik

Scelsi schuf ein sehr eigenwilliges Werk, das nicht in die zeitgenössischen Strömungen der Moderne passt. Seine Kompositionen widersprechen der europäischen Tradition einer Kompositionspraxis, die auf eindeutiger Autorenschaft beruht, und sie fußen weder auf traditionellen Satztechniken noch besitzen sie eine Nähe zu Konzepten der musikalischen Moderne. Er entwickelte eine Vorstellung vom „sphärischen“ Klang, die er durch mikrotonale Elemente in seiner Musik umzusetzen bestrebt war. Zudem verabscheute er das Tonsetzen. Eine große Vielzahl seiner Werke entstand daher in einer Art intuitiver Improvisation, die er auf dem Klavier oder einer Ondiola (einem frühen elektronischen Musikinstrument) spielte. Diese „Improvisationen“ schnitt Scelsi auf Tonband mit und ließ sie anschließend von Assistenten wie dem Komponisten Vieri Tosatti in Notenschrift übertragen.[2] In seinem Nachlass fanden sich mehr als 900 solcher Tonbänder, die zu einem Großteil bis heute noch nicht untersucht wurden. Einflussreich für seine Kompositionen ist Scelsis Auseinandersetzung mit östlichen Philosophien, insbesondere aus Indien. 1953 schrieb er seine „Quattro Illustrazioni“, vier „Erleuchtungen“ über verschiedene Gestalten Vishnus, deren Einzelteile er „Avatare“ nannte.

Scelsi erwarb in den 1980ern besonders in Frankreich und Deutschland einen relativ hohen Bekanntheitsgrad. Während des Darmstädter Ferienkurses 1982 erklärte die Pariser Komponistengruppe L’Itinéraire, die in einer Opposition gegen Pierre Boulez und gegen das Centre Georges-Pompidou stand, Giacinto Scelsi zum Stammvater einer neuen Avantgarde.[3]

Werke (Auswahl)

  • Rainer Riehn: Werkverzeichnis. In: Giacinto Scelsi. Musik-Konzepte, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. Band 31. Edition text + kritik, München 1983, S. 112–116.
  • Action Music No. 1 – Klavierzyklus (1955)
  • Tre pezzi (1956)
  • Quatro pezzi su una sola nota – vier Stücke über eine einzige Note für Orchester (1959)
  • Aion – der Gottheit Brahma gewidmetes Orchesterwerk (1960)
  • Uaxuctum – Komposition für Chor und Orchester (der Titel bezieht sich auf die Stadt Uaxactún, die der Legende nach von den Mayas selbst zerstört wurde)
  • Konx-OM-Pax für Chor und Orchester (1969)
  • Pfhat für Chor und Orchester (1974)
  • Pwyll für Flöte Solo (1954)

Veröffentlichungen

  • Il Sogno 101. Venedig 1982
  • Sinn der Musik. In: Giacinto Scelsi. Musik-Konzepte, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. Band 31. Edition text + kritik, München 1983, ISBN 3-88377-132-5, S. 3–9.
  • Die Magie des Klanges. Gesammelte Schriften. 2 Bände. Hrsg. von Friedrich Jaecker. Edition MusikTexte, Köln 2013

Literatur

  • Giacinto Scelsi. Musik-Konzepte, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. Band 31. Edition text + kritik, München 1983, ISBN 3-88377-132-5.
  • Johannes Menke: PAX. Analyse bei Giacinto Scelsi: 'Tre canti sacri und Konx-Om-Pax. Wolke, Hofheim 2004, ISBN 3-936000-60-3.
  • Markus Bandur: Giacinto Scelsi. In: Hanns-Werner Heister (Hrsg.): Komponisten der Gegenwart. Edition text + kritik, München 2007, S. 1–44 (Volltext)
  • Friedrich Jaecker: Der Dilettant und die Profis: Scelsi, Tosatti Co. In: MusikTexte. Heft 104, S. 27–40, Köln, Februar 2005 (Nachdruck im Katalog zum Festival „Wien Modern“, Wien 2005, S. 53–63)
  • Gabriel Josipovici: Unendlichkeit. Die Geschichte eines Augenblicks. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Markus Hinterhäuser. Jung und Jung, Salzburg 2012, ISBN 978-3-99027-028-8.[4]
  • Heinz-Klaus Metzger: Das Unbekannte in der Musik. In: Giacinto Scelsi. Musik-Konzepte, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. Band 31. Edition text + kritik, München 1983, ISBN 3-88377-132-5, S. 10–23[5]
  • Elfriede Reissig (Hrsg.): Dialoghi: Annäherungen an Giacinto Scelsi. Wolke, Hofheim 2015, ISBN 978-3-95593-063-9.
  • Hans Rudolf Zeller: Das Ensemble der Soli. In: Giacinto Scelsi. Musik-Konzepte, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. Band 31. Edition text + kritik, München 1983, ISBN 3-88377-132-5, S. 24–66.
  • Martin Zenck: Das Irreduktible als Kriterium der Avantgarde. In: Giacinto Scelsi. Musik-Konzepte, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. Band 31. Edition text + kritik, München 1983, ISBN 3-88377-132-5, S. 67–81.

Einzelnachweise

  1. Der WDR behauptet ein Bild zu haben, auf dem Scelsi zu sehen ist (WDR3, Passagen, 22. August 2012)
  2. Friedrich Jaecker: Der Dilettant und die Profis. 2005.
  3. Carl Dahlhaus: Entdeckung. In: Die Zeit, Nr. 46/1983, S. 12.
  4. Nachdem Gabriel Josipovici das Archiv der Scelsi-Stiftung nutzen durfte, hat der Autor mit dem fiktiven Komponisten Tancredo Pavone als Protagonisten einen biografischen Roman zu Giacinto Scelsi veröffentlicht.
  5. Manuskripte zweier Sendungen, die der Hessische Rundfunk am 13. und 20. April 1982 ausstrahlte.
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