Francovich-Entscheidung

Die Francovich-Entscheidung (EuGH, C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, 5357ff.) des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 19. November 1991 ist eine wichtige Entscheidung auf dem Gebiet des Europarechts. Der EuGH stellte darin unter anderem klar, dass die mangelnde nationale Umsetzung einer Richtlinie Entschädigungsansprüche gegen einen Staat nach sich ziehen kann.

Geschichte

Der Francovich-Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Durch die Richtlinie 80/987 sollte Arbeitnehmern auf Gemeinschaftsebene ein Mindestschutz bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers unbeschadet in den Mitgliedstaaten bestehender günstigerer Bestimmungen gewährleistet werden. Insofern sollte ein öffentlicher Fonds errichtet werden, bei dessen Ausgestaltung die Mitgliedstaaten Spielräume haben. Zu diesem Zweck sah die Richtlinie insbesondere spezielle Garantien für die Befriedigung nichterfüllter Ansprüche der Arbeitnehmer auf das Arbeitsentgelt vor.

Herr Francovich hatte für ein Unternehmen in Vicenza gearbeitet, dafür aber nur gelegentlich Abschlagszahlungen auf seinen Lohn erhalten. Er erhob deshalb Klage vor der Pretura Vicenza, die die Beklagte zur Zahlung von rund 6 Millionen Lire verurteilte. Im Rahmen der Zwangsvollstreckung nahm der Gerichtsvollzieher des Tribunale Vicenza ein Protokoll über eine fruchtlose Pfändung auf. Der Kläger verlangte daraufhin vom italienischen Staat die in der Richtlinie 80/987 vorgesehenen Garantien, hilfsweise Schadensersatz.

Italien hatte es aber versäumt, einen solchen öffentlichen Fonds zu schaffen und die Klage wurde somit zunächst abgewiesen. Trotz des Ablaufs der Umsetzungsfrist konnte ein Anspruch auf die Garantien auch nicht aus der Richtlinie selbst hergeleitet werden, da diese zu unbestimmt war und daher nicht den Erfordernissen für eine unmittelbare Anwendbarkeit genügte. Deshalb stellte sich die Frage, ob die unterlassene Umsetzung der Richtlinie zumindest einen Staatshaftungsanspruch gegen Italien begründete.[1]

Entscheidung

Der EuGH entwickelte somit das Institut des ungeschriebenen Entschädigungsanspruchs wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht und stellte folgenden Kriterien auf:

  • Eine Richtlinie wurde fehlerhaft oder nicht umgesetzt
  • Die verletzte Rechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Es muss sich damit um eine individualschützende Norm handeln.
  • Der Verstoß ist hinreichend qualifiziert (Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht muss offenkundig und erheblich sein)
  • Die Nichtumsetzung muss kausal für einen Schaden sein.[2]

Insofern stand den Klägern ein Schadensersatzanspruch gegen Italien zu.

Als Begründung führte der EuGH das Prinzip der Gemeinschaftstreue aus Art. 4 Abs. 3 EUV [ex Art. 10 EGV] an, und dass es der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechtes hinderlich sei, dass ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht umsetzen würde. Zudem sei es ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind.

Die herrschende Meinung verneint einen nationalen Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB, Art. 34 GG) mit dem Argument, dass die nichtumgesetzte EU-Richtlinie keinen drittschützenden Charakter habe, der für die Eröffnung dieses Anspruchs unter anderem erforderlich wäre.[3] Vielmehr folgt der Entschädigungsanspruch aus dem seit der Frankovich-Entscheidung bestehenden unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch. Die hierfür erforderliche Pflichtverletzung eines Mitgliedsstaates liegt in der Nichtumsetzung der EU-Richtlinie, wonach er unionsrechtlich verpflichtet ist. Sofern ein Staat dieser Verpflichtung nicht nachkommt, besteht unter den oben genannten Voraussetzungen der Staatshaftungsanspruch.

Literatur

  • Christian Baldus, Rainer Becker: „Quasi-Beihilfe“ statt horizontaler Direktwirkung? – Zur Vereinbarkeit der Francovich-Rechtsprechung des EuGH mit dem Rechtsgedanken des Binnenmarktes. In: Europarecht, 34. Jg. (1999), H. 3, S. 375–394.
  • Cornelia M. Binia: Das Francovich-Urteil des Europäischen Gerichtshofes im Kontext des deutschen Staatshaftungsrechts. Frankfurt am Main u. a.: Lang 1998
  • Hans-Heiner Gotzen: Das „Francovich“-Urteil des EuGH. In: Verwaltungsrundschau. Zeitschrift für Verwaltung in Praxis und Wissenschaft, 40. Jg. (1994), S. 318f.
  • M.-P.F. Granger: National applications of Francovich and the construction of a European administrative jus commune. In: European law review, Vol. 32/1 (2007), S. 157–192.
  • Carol Harlow: „Francovich“ and the problem of the disobedient state. In: European law journal, ISSN 1351-5993, Vol. 2 (1996), S. 199–225.
  • Christoph Henrichs: Haftung der EG-Mitgliedstaaten für Verletzung von Gemeinschaftsrecht. Die Auswirkungen des Francovich-Urteils des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtsordnungen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten. Baden-Baden: Nomos 1995.
  • Martin W. Huff: Francovich oder was hat der Bürger von der Gemeinschaft. In: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW), 6. Jg. (1995), H. 6, S. 161.
  • Tobias Jaag: Die Francovich-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. In: Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht, 6. Jg. (1996), S. 505–526.
  • Stephan Keiler, Christoph Grumböck (Hrsg.): EuGH-Judikatur aktuell. Rechtsprechung der Gerichte der Europäischen Gemeinschaften nach Politiken. Wien: Linde Verlag 2006, S. 343–348 (Autor: Andreas Auer).
  • Sofia Moreira de Sousa, Wolfgang Heusel (Hrsg.): Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts von Francovich zu Köbler. Zwölf Jahre gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung. Köln: Bundesanzeiger 2004.
  • Rudolf Streinz: Europarecht, 11. Auflage, Heidelberg 2019.
  • Waltraud Hakenberg: Europarecht, 9. Auflage, München 2021.

Einzelnachweise

  1. Hakenberg, Europarecht, Rn. 247 ff.
  2. Hakenberg, Europarecht, Rn. 247.
  3. BGH NJW 2013, 168; Streinz, Europarecht, Rn. 517

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