Fragment (Literatur)
Bei einem literarischen Fragment handelt es sich entweder um einen unvollständig überlieferten Text, um ein unvollendetes Werk oder um eine vom Autor bewusst gewählte literarische Gattung.
Wort- und Begriffsgeschichte
Das antike Latein kennt fragmentum (substantiviertes Partizip II von lateinisch frangere ‚[zer]brechen‘) nur in physischer Bedeutung: etwa als fragmentum lapidis ‚Bruchstück eines Steins‘. Erst seit der Renaissance wird das Wort von Philologen mit der Bedeutung „literarische Bruchstücke“ versehen und gebraucht. Für die deutschsprachige Wort- und Begriffsgeschichte ist Luthers Bibelübersetzung einflussreich geworden: „colligite fragmenta, ne pereant: ‚Sammlet die übrig bleibende Brocken, daß nichts umkomme‘ (Joh. 6,12); und […]: ex parte enim cognoscimus: ‚Denn unser Wissen ist Stückwerk!‘ (1 Kor. 13,9).“[1] Hieran schließt im 18. Jahrhundert Hamann an, wenn er einerseits allen „Dogmatikern“ sein „Unser Wißen ist Stückwerk“ entgegenhält[2] und andererseits seine Texte in diesem Sinn als Brocken (1758) versteht und gestaltet. Vermittelt über Herder[3] hat dieser „Fragmentarismus“ (Behler) anregend auf die romantische Fragmentkonzeption gewirkt.
Fragmentarische Überlieferung
Insbesondere literarische Werke des Altertums und des Mittelalters sind oft nur bruchstückhaft überliefert.[4] Dies geht in vielen Fällen auf äußere Einwirkungen (Wasserschaden, Schimmel, Wurmfraß, Feuer etc.) zurück, hat aber teils auch mit den Zeitumständen zu tun (politische Lage, kulturelle Umwälzungen, Migration, Krieg u. a.). Eine Sonderform unvollständiger Überlieferung stellen mittelalterliche Urkundenfragmente dar, die erst in jüngerer Zeit in den Blickwinkel der Mittelalterarchäologie geraten sind.[5]
Werke der antiken Literatur begegnen heutigen Lesern oft nur noch in Form von Zitaten[6] oder Zusammenfassungen bei späteren, besser erhaltenen Autoren, nicht selten sind sogar nur die Titel oder Themen heute verlorener Texte bekannt. So sind etwa die Werke des griechischen Lyrikers Archilochos durchweg nur in kleinen Fragmenten erhalten, und wir kennen viele Aussagen älterer Philosophen nur deshalb, weil der spätantike Neuplatoniker Simplikios sie in seinem Werk ausführlich zitierte. Gründe für eine solche fragmentarische Überlieferung können die aktive Zerstörung oder (häufiger) das unterbliebene Kopieren von – in bestimmten Epochen gering geschätzten – Manuskripten sein.
Antike Autoren gaben nur ausnahmsweise an, woher sie ihre Informationen bezogen. Da man daher oftmals nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit annehmen kann, dass bestimmte Passagen in erhaltenen Werken wörtliche oder indirekte Zitate aus heute verlorenen Texten sind, ist die Zuweisung von Fragmenten häufig nicht unumstritten. So weiß man zum Beispiel, dass Autoren wie Diodor und Plutarch massiv auf ältere Quellen zurückgegriffen haben, aber weder ist immer klar, um welche es sich dabei konkret handelt, noch ist immer mit Sicherheit auszuschließen, dass Angaben verschiedener Vorlagen von den späteren Autoren miteinander vermischt und/oder durch eigene Zutaten verändert wurden. Auch mit Missverständnissen ist zu rechnen.[7] Ein wichtiges Arbeitsinstrument für Althistoriker sind dabei Die Fragmente der griechischen Historiker (FGrHist), ein auf Felix Jacoby zurückgehendes Gemeinschaftsprojekt, das 1923 begonnen und bis heute nicht abgeschlossen wurde. Siehe dazu auch The Fragments of the Roman Historians und Kleine und fragmentarische Historiker der Spätantike.
Unvollendetes Werk
Texte können aus verschiedenen Gründen und in unterschiedlicher Weise von vornherein unvollständig geblieben sein; wie z. B. das Geschichtswerk des Thukydides, das mitten im Satz abbricht und teilweise offenkundig eine Rohversion darstellt, Gottfried von Straßburgs Versroman Tristan oder – wenn man das Fehlen eines erwartbaren Prologs so interpretieren kann – der Eneasroman des Heinrich von Veldeke.
In der frühen Neuzeit ist die von Blaise Pascal geplante systematische Apologie der christlichen Religion über – als Loseblattsammlung überlieferte – Vorarbeiten nicht hinausgekommen. Diese nachgelassenen Notizen wurden wenige Jahre nach Pascals Tod von Freunden als „Pensées“ (1670; ‚Gedanken‘) in Buchform veröffentlicht. Seither haben Generationen von Philologen versucht, diese Fragmente plausibel zu ordnen sowie aus ihnen die vom Autor vorgesehene Konzeption zu erschließen[8] – und die Pensées sind sowohl in den Kanon der literarischen Gattung ‚Fragment‘ (siehe unten) als auch in den der Weltliteratur gelangt.
Literarische Fragmente – ‚unvollendete Werke‘ – der Moderne sind z. B. Georg Büchners Stück Woyzeck, Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften oder Bertolt Brechts Romanfragment Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar. Von Franz Kafka gibt es gleich drei unvollendete Romane, z. B. das Werk Der Verschollene.
Fragment als literarische Gattung
In der kulturellen Epoche der Frühromantik wurde das Fragment zur literarischen Gattung entwickelt. Dies geschah vornehmlich in der von den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel gegründeten Zeitschrift Athenäum. Für die Frühromantiker war „wesentlich, daß man das Fragment nicht mit einem Aphorismus verwechsle. Aphorismen sind selbstgenügsame, in sich allseits beschlossene Mitteilungsgebilde. Fragmente sind dagegen nicht selbstgenügsam.“[9] Sie regen vielmehr weitere literarische oder intellektuelle Produktion an, die die Frühromantik programmatisch als gesellig-gemeinschaftliche, nämlich als „Symphilosophieren“ verstanden hat.[10] Das berühmteste dieser Fragmente ist das Athenäumsfragment 116 über die romantische Universalpoesie. Die Theorie geht bis in die Romantheorie hinein. Ein guter Roman muss – laut Friedrich Schlegel – Fragment bleiben. Beispiele hierfür sind die romantischen Romane Heinrich von Ofterdingen von Novalis und Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen. Der romantische Roman Lucinde von F. Schlegel selbst gilt manchen Interpreten ebenfalls als unvollendet.
Als ästhetisch wertgeschätzte – und in diesem Sinn ‚angestrebte‘ – Form ist das Fragment ein typisch modernes Phänomen.[11] „Das Fragment scheint die angemessene Kunstform unserer Zeit zu sein“, hat Susan Sontag vermutet;[12] und Theodor W. Adorno hat darüber hinaus festgestellt: „Kunst obersten Anspruchs drängt über Form als Totalität hinaus, ins Fragmentarische.“[13] Fragt man im engeren Sinn nach der Gattungsgeschichte des – in der Regel in Fragmentsammlungen publizierten – literarischen Fragments im auf die Romantik folgenden 19.–21. Jahrhundert, ist seine Affinität und teilweise auch Deckungsgleichheit mit dem literarischen Hybridgenre „Aufzeichnungen“ zu konstatieren.[14] Als Notiz- und Skizzensammlungen bieten sich solche Aufzeichnungen für die Aufnahme fragmentarischer Formen geradezu an. Eine entsprechende Traditionslinie reicht von Georg Christoph Lichtenbergs Sudelbüchern, Friedrich Hebbels und Franz Kafkas Tagebüchern über Walter Benjamins Einbahnstraße (1928) und Theodor W. Adornos Minima Moralia (1951), die Aufzeichnungen von Elias Canetti oder Marie Luise Kaschnitz bis zu Botho Strauß’ Paare, Passanten (1981),[15] Friederike Mayröckers Lection (1994), Rainald Goetz’ Abfall für Alle (1999) und Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur (2013). Für die französische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts sollen hier nur Paul Valérys Rhumbs (1941–43; deutsche Übersetzung: „Windstriche. Aufzeichnungen und Aphorismen“), Roland Barthes’ Fragments d’un discours amoureux (1977; deutsche Übersetzung: „Fragmente einer Sprache der Liebe“) und Jacques Derridas Biodegradables. Seven Diary Fragments (1989)[16] genannt sein.
Siehe auch
Literatur
- Reda Bensmaïa: Vom Fragment zum Detail. In: Roland Barthes. Hrsg. von Hans-Horst Henschen. Boer, München 1988, ISBN 3-924963-09-6, S. 181–208.
- Rüdiger Bubner: Gedanken über das Fragment. Anaximander, Schlegel und die Moderne. In: Merkur 47,4 (April 1993), S. 290–299.
- Lucien Dällenbach, Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg.): Fragment und Totalität. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-518-11107-8.
- Justus Fetscher: Fragment. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hrsg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 2: Dekadent–Grotesk. Metzler, Stuttgart / Weimar 2001, ISBN 978-3-476-02355-1, S. 551–588.
- Dirk Oschmann: Die Aporien des ‚Ganzen‘. In: „Ein Aggregat von Bruchstücken“. Fragment und Fragmentarismus im Werk Friedrich Schillers. Hrsg. von Jörg Robert, Marisa Irawan. Königshausen & Neumann, Würzburg 2013, ISBN 3-8260-4851-2, S. 249–267.
- Eberhard Ostermann: Fragment. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 3: Eup–Hör. Niemeyer, Tübingen 1996, ISBN 3-484-68103-9, Sp. 454–465.
- Albrecht Schau: Fragmententheorie. In: Enzyklopädie des Märchens. Handbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich u. a. Bd. 5: Fortuna–Gott ist auferstanden (1987). De Gruyter, Berlin / New York 1999, ISBN 3-11-016402-7, Sp. 31–44.
- Dirk Schröder: Fragmentpoetologie im 18. Jahrhundert und bei Friedrich von Hardenberg. Untersuchungen zur vergleichenden Rekonstruktion der impliziten Poetologie von Aphorismus und Fragment im ausgehenden 18. Jahrhundert. Diss. Universität Kiel 1976.
- Claudia Sojer: Fragmente – Fragmentkunde – Fragmentforschung. In: Bibliothek, Forschung und Praxis 2021, 45(3), S. 533–553. doi:10.1515/bfp-2021-0047
- Johannes Weiß: Das frühromantische Fragment. Eine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Fink, Paderborn 2015 (Laboratorium Aufklärung 27), ISBN 978-3-7705-5681-6.
Weblinks
Anmerkungen
- Ernst Behler: Das Fragment. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kurzprosa. Hrsg. von Klaus Weissenberger. Niemeyer, Tübingen 1985, S. 125–143, hier S. 126 f. (Kursivierungen i. Orig.).
- Hamann an Herder, 8. Mai 1785. In: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hrsg. von Arthur Henkel. Band 5: 1783–1785. Insel, Frankfurt am Main 1965, S. 432 (Kursivierung i. Orig.).
- Vgl. Johann Gottfried Herder: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente. Erste Sammlung. Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe. Hartknoch, Riga 1768, Vorrede, unpaginiert: „Brocken“, „Fragmente“, „Stückwerke von Betrachtungen“ (Digitalisat der BSB).
- Peter Strohschneider: Fragment2. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus Weimar u. a. Band 1. De Gruyter, Berlin / New York 1997, S. 624–625.
- Exemplarisch s. Hannes Obermair: Mosaiksteine der Schrift. Die spätmittelalterlichen Urkundenfragmente von Schloss Tirol. In: Das Geheimnis der Turris Parva. Spuren hochmittelalterlicher Vergangenheit auf Schloss Tirol (Nearchos Sonderheft 1). Hrsg. v. Konrad Spindler. Innsbruck: Golf Verlag Universitätsbuchhandlung 1998, S. 128–140.
- Vgl. Ute Tischer: Zitat, Fragment und Kontext. Enn. Ann. frg. 6,14 Sk. und die Rolle kontextueller Aspekte bei der Deutung von Fragmenten. In: Hermes 143,3 (2015), S. 333–355.
- Peter Brunt: On Historical Fragments and Epitomes. In: Classical Quarterly 30 (1980), S. 477–494.
- Karlheinz Stierle: Pascals Reflexionen über den ‚ordre‘ der ‚Pensées‘. In: Poetica 4 (1971), S. 167–196; Louis Marin: Die Fragmente Pascals. Übersetzt von Edmund Jacoby. In: Fragment und Totalität. Hrsg. von Lucien Dällenbach, Christiaan L. Hart Nibbrig. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, S. 160–181.
- Manfred Frank: Über Stil und Bedeutung. Wittgenstein und die Frühromantik. In: Manfred Frank: Stil in der Philosophie. Reclam, Stuttgart 1992, S. 86–115, Zitat S. 101; siehe auch Eberhard Ostermann: Fragment / Aphorismus. In: Helmut Schanze (Hrsg.): Romantik-Handbuch (= Kröners Taschenausgabe. Band 363). 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Kröner, Stuttgart 2003, ISBN 3-520-36302-X, S. 277–289.
- Kurt Röttgers: Symphilosophieren. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 88 (1981), S. 90–119.
- Vgl. André Malraux: Das imaginäre Museum (1953–55). Übersetzt von Jan Lauts. Mit einem Nachwort von Ernesto Grassi. Campus, Frankfurt am Main / New York 1987, S. 21; Jean-François Lyotard: Réponse à la question: Qu’est-ce que le postmoderne? In: Critique 38 (April 1982), S. 357–367, hier S. 367; ebenso Dietmar Dath: Pro Prosa. Über Übersicht und Aufklärung in Kürze. In: Texte zur Kunst, 12. Jg., Heft 48 (Dezember 2002), S. 53–54, wenn auch entschieden kritisch: „Fetzchendenken“ (S. 54).
- Susan Sontag: The Doors and Dostojewski. Das ‚Rolling-Stone‘-Interview (von Jonathan Cott, übers. von Georg Deggerich). 2. Auflage. Dtb, München 2016, S. 73.
- Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsg. von Gretel Adorno, Rolf Tiedemann. 4. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984 (= Gesammelte Schriften. Band 7), S. 221.
- Vgl. Thomas Lappe: Die Aufzeichnung. Typologie einer literarischen Kurzform. Alano, Rader Publikationen, Aachen 1991; Hugo Dittberner: Was ich sagen könnte. Über Aufzeichnungen. Franz Steiner, Stuttgart 1996 (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur • Mainz. Abhandlungen der Klasse der Literatur. Jg. 1996, Nr. 1); Susanne Niemuth-Engelmann: Alltag und Aufzeichnung. Untersuchungen zu Canetti, Bender, Handke und Schnurre. Königshausen & Neumann, Würzburg 1998; Hargen Thomsen: Friedrich Hebbels Tagebücher. Paradoxien einer nichtliterarischen Literatur. In: Hebbel-Jahrbuch 68 (2013), S. 32–65.
- Dieser Autor hat später auch einen seiner Aufzeichnungsbände mit „Fragmente“ betitelt: Botho Strauß: Fragmente der Undeutlichkeit. Hanser, München / Wien 1989.
- Originalpublikation auf Englisch: Jacques Derrida: Biodegradables. Seven Diary Fragments. Übersetzt von Peggy Kamuf. In: Critical Inquiry 15 (Summer 1989), S. 812–873 – als PDF (7,4 MB).