Fernando Castillo

Fernando Castillo (* 1943 in Santiago de Chile; † 22. Oktober 1997 in Paine) war ein chilenischer römisch-katholischer Theologe und Soziologe. Er gilt als Befreiungstheologe und setzte sich vor allem mit dem Elend der Armen und den Menschenrechtsverletzungen in Chile auseinander.

Leben und Wirken

Castillo war das älteste von neun Geschwistern, die zusammen mit dem Vater, Anwalt, und seiner Mutter, Köchin, in einem Kolonialhaus in Santiago lebten. 1962 begann er ein Studium des Ingenieurwesens an der Universität von Chile. Dieses brach er kurz darauf wieder ab, denn er wollte kein Leben im Anzug und Büro führen. Er wandte sich der katholischen Theologie zu. Zeitgleich mit der Eröffnung des Zweiten Vatikanums trat er in das Priesterseminar ein, um ein „wirklich freies Leben zu führen“. Nach beendetem Studium trat er aus ebendiesem Grund wieder aus dem Priesterseminar aus – er empfand sich gedanklich eingeengt. Er praktizierte als Berufstheologe, als Dozent an der katholischen Universität von Chile. Wegmarken Fernando Castillos war eine Orientierung an den „Zeichen der Zeit“ und die Öffnung der Kirche durch das Zweite Vatikanische Konzil.

1971 fand in Chile eine Tagung statt, in der über die Haltung der chilenischen katholischen Kirche zur chilenischen Politik beraten wurde. Die meisten Priester sprachen sich für den Sozialismus aus. Die Kirche wurde nun auf Missstände aufmerksam, die im Land herrschten – die Arbeiter wurden unterdrückt und von den herrschenden Klassen ausgebeutet, was sich in Abhängigkeit und Unterentwicklung ausdrückte. Castillo spielte eine wichtige Rolle durch die Organisation von Basisgemeinden, ausgehend von Santiago. Er war dabei den höheren Kreisen der chilenischen Kirche ein Dorn im Auge, denen die Situation der Arbeiter gleichgültig war. Sein Engagement, das sich durch den Dienst am Volk und an den Armen auszeichnete, war eine erste öffentliche Widerstandsform gegen die Diktatur und gegen das System. Er konkretisierte den „Kreuzweg des Volkes“, der sich durch schreckliche Armut und vorherrschende Menschenrechtsverletzungen durch die Diktatur und sogar die Kirche materialisierte. Er nahm den Auftrag des zweiten Vatikanums sehr ernst und forschte nach der Bedeutung der Zeichen der Zeit, wie auch über die neue Deutung darüber im Lichte des Evangeliums. „Gerade weil die Wahrheit des Evangeliums unaufhebbar mit den Erfordernissen der Zeit verwoben ist, muss die Kirche sich wandeln – um sich treu zu bleiben. Das Neue erwächst aus der Rückbesinnung auf das Eigentliche“. Er betrachtete die Geschichte der Armen und Basisgemeinden als Ergebnis historischer Prozesse und Klassenkonflikte. Das System verwehrte den Armen und Arbeitern einen Platz an ihrer Seite wie auch das Mitspracherecht. Castillo öffnete vielen Christen die Augen, die vorher nur als schweigende christliche Masse in Chile lebten. Diese Radikalisierung ließ die Christen begreifen, dass die Solidarität mit den Armen entsprechende politische Formen annehmen musste. Bald hatte er eine Schar Gläubige hinter sich versammelt und half den Armen und Verfolgten. Sie ergriffen Partei und beteiligten sich an ihrem Kampf.

1973 putschte das chilenische Militär General Augusto Pinochet an die Macht. Die Organisation Christen für den Sozialismus musste fortan im Untergrund handeln und löste sich zum Teil auf. Die Diktatur und die Amtskirche tolerierten Fernando Castillos moderne Gedanken in ihrem System nicht und zwangen ihn dazu, auszuwandern. Er ging nach Deutschland und vollendete sein Doktorat unter Johann Baptist Metz, dem er als Assistent und Freund zur Seite stand. Darüber hinaus schloss er ein Postgraduiertenstudium der Soziologie in England ab. Er war in Deutschland, Österreich und der Schweiz tätig und hielt Gastvorlesungen, Vorträge und Seminare in Münster, Freiburg und Wien.

1980 kehrte Castillo nach Chile zurück, obwohl ihm die Amtskirche mitgeteilt hatte, dass er nicht willkommen sei. Er organisierte erneut den Widerstand mit den Basisgemeinden und hob durch Demonstrationen und Protestaktionen gegen Pinochets Diktatur die „Kreuzwege des Volkes“ hervor.

Nach der Demokratisierung Chiles (ab etwa 1988) wurde er an den Rand der Gesellschaft gedrängt und war nicht mehr sehr aktiv. Er verbrachte seine letzten Jahre in Paine und starb dort am 22. Oktober 1997 an einem Herzleiden.

Lehre und Praxis

Theologie der Arbeitenden

Fernando Castillo vertrat eine Befreiungstheologie, die er Theologie der Arbeit nannte. In der Arbeit zeigt sich für ihn die Würde des Menschen, weil er darin dem Abbild Gottes gerecht werde. In der Arbeit zeige sich die Geschichte Gottes mit dem Menschen. Der Mensch werde in der Tätigkeit des Arbeitens seinem ureigenen Wesen gerecht, indem er durch sie am Werk des Schöpfers teilhabe und so zu seiner Würde gelange. Gleichermaßen resultiere aus der Arbeit die Selbstverwirklichung des Menschen und darin käme der Mensch zu seiner Berufung, Abbild Gottes zu sein.

Diese Art der Theologie ist keine abstrakte Größe, sondern bezieht sich immer auf konkrete Menschen – der Mensch sei Subjekt der Arbeit. Somit könne es keine Theologie der Arbeit "an sich" geben, sondern es handle sich immer um die Theologie des arbeitenden Menschen. Folglich könnte man von einer Theologie des Arbeitenden sprechen.

Die geschichtliche Dimension und die Erfahrung des Fehlens von Arbeit durchziehe schon die Bibel und sei auch in der heutigen Zeit in gleicher Weise wiederzufinden. Der Begriff Arbeit habe dabei zumeist nicht die positive Konnotation von Selbstverwirklichung, was auch der heutigen Erfahrung entspreche, so Castillo, sondern sei von Mühsal geprägt. Auf der anderen Seite sei das Fehlen von Arbeit oder die Unterdrückung mit Arbeit eine schmerzliche Erfahrung, welche schon im Buch Exodus dargestellt werde. Ebenso sprechen sich die Propheten Jesaja, Amos und Micha gegen Unterdrückung und eine privilegierte Oberschicht aus, denn dies widerspräche dem Sinn der Arbeit, durch welche der Mensch als Urheber und Subjekt der eigenen Geschichte am Werk des Schöpfers teilhaben soll. Einhergehend mit dem Verlust des Sinnes der Arbeit sei der Verlust der Identität, welcher eine der größten Bedrohungen darstelle, da daraus der Verlust von Wert und Würde resultiere. Diese Darstellung entspräche durchaus der Realität heute, in der die Verkündigung des Reiches "selektiv" werde, angesichts einer zwischen Mächtigen und Schwachen aufgeteilten Menschheit.

Die Aufgabe der Kirche sei es, innerhalb dieses geschichtlichen Prozesses solidarisch für die Arbeiter Stellung zu beziehen. Castillo formuliert dazu: Die Kirche „setzt sich [ ... ] kraftvoll ein“ für die Sache der Arbeiter und müsse als Stimme und Verteidigung der Arbeiter fungieren. Ein Aspekt dessen sei, dass die Kirche die Arbeiter in ihrem Recht unterstützte, sich in autonomen und um soziale Gerechtigkeit kämpfenden Organisationen zusammenzuschließen. So schreibt Castillo, dass das Übel „der Arbeitslosigkeit und die Missachtung des Rechtes auf gerechten Lohn [...] besonders die Solidarität der Kirche mit der Arbeiterbewegung“ erfordere. Denn das Recht auf Arbeit und das Recht der Arbeiter habe den Status eines Menschenrechts. Zu der solidarischen Unterstützung gehört auch, dass die Kirche ihrem prophetischen Auftrag gerecht werden müsse und sich für eine Einheit der Arbeitsorganisationen einsetzen solle. Auch gehöre zu diesem prophetischen Auftrag, den Gedanken lebendig zu halten, dass Arbeiter zu sein sowohl ein Wert sei als auch eine Würde habe.

Verhältnis von Theologie und Sozialwissenschaft

Castillo bezog sich in seinen theologischen und politischen Überlegungen und in seiner Praxis auf den Mitbegründer der Theologie der Befreiung Gustavo Gutierrez. Nach Castillo charakterisieren und unterscheiden sich die sozialen Bewegungen untereinander durch verschiedene Punkte: Zum einen sei dies die je eigene Zielsetzung, welche an Machtverhältnissen und auch an Alltagsstrukturen ansetzten kann. Zudem entwickelt sie sich im Kampf weiter und wird immer wieder neu bestimmt. Zum anderen sei jede soziale Bewegung durch ihre eigene Zeitlichkeit geprägt. Und als dritten Punkt habe sie ihren eigenen Charakter, welcher aus dem Konflikt und der Region resultiert. Jedoch muss nach Castillo "das transformative Potential der neuen sozialen Bewegung [...] nicht politisch, sondern sozio-kulturell" aufgefasst werden, weil der Fokus eben auf gesellschaftlichen Veränderungen liege. Die Verbindung der Bewegung zur Befreiungstheologie sei von Seiten der Bewegung so zu sehen, dass Christen diese initiierten, oder zumindest teilgenommen haben. Von Seiten der Theologie resultiere aus der Beziehung eine Veränderung und Neudefinition des Begriffes der Befreiung. Bei genauer Betrachtung sei jedoch die Verbindung nur über die Subjekte möglich, denn die Basisgemeinden schaffen den Hintergrund, auf dem die Begegnung zwischen sozialer Bewegung und christlichen Initiativen stattfinden könne, daher kann die Bewegung ohne den christlichen Hintergrund nicht ausreichend verstanden werden. Auf der anderen Seite sei auch die Entwicklung zum Volkschristentum der Basisgemeinde ohne die soziale Bewegung wiederum nur schwer zu verstehen. Unterstützend für die soziale Bewegung wirke die Basisgemeinde zudem, weil sie nicht nur Forderungen stellt, sondern Tatsachen wie Freiheit, menschliche Würde, Partizipation und demokratische Verhältnisse in ihrer eigenen Struktur schafft.

Der Begriff der Modernisierung, welcher von den Sozialwissenschaften in Lateinamerika benutzt wird und oftmals eine negative Färbung hat, birgt neutral betrachtet auch Chancen für Lateinamerika, an denen das Christentum eine Möglichkeit der Mitgestaltung hat. Castillo zeigt auf, dass die Modernisierung in der Wirtschaft viele Bereiche wie Produktion, Wirtschaftsbeziehungen, Finanzapparat und Führungsstil betreffe, jedoch gehe mit ihr auch eine Globalisierung beziehungsweise Modernisierung der Kommunikationsmedien einher. Im Zuge dieser Modernisierung stehe die Frage nach der oder einer lateinamerikanischen Identität im Raum und wer diese geprägt habe, beziehungsweise prägen dürfe. Ist diese Identität eine indigene und welche Rolle spielt die katholische Religion, welche sich mit dem Eintreffen von Europäern in Lateinamerika etablierte? Die Befreiungstheologie unterziehe dabei die Geschichte und die Evangelisierung einer kritischen Betrachtung. Dabei sei festzuhalten, dass sich die Identität immer wieder neu formuliert und damit das Christentum keine festgeschriebene (negative) Rolle ihr gegenüber einnehme. Die Modernisierung habe insoweit einen befreienden Charakter, als eine Umwälzung stattfinden könne, indem alle Gruppen aktiv und kreativ an der "neuen" Identität mitwirken können. Hierbei sei keine Reaktivierung einer christlichen (oder auch einer indigenen) Kultur möglich, sondern die christliche Religion müsse einfach einen Raum bieten, in dem sich dem Thema der Kultur und der Modernisierung gestellt werden könne, damit dort eine Neugestaltung stattfinden kann.

Schriften

  • Christentum und Inkulturation in Lateinamerika. In: Concilium 30 (1994), S. 51–60.
  • Das Evangelium gestattet keine Resignation. Erfahrungen und Anstöße aus der Basiskirche in Chile, Freiburg / Schweiz 1988.
  • als Hrsg.: Die Kirche der Armen in Lateinamerika. Eine theologische Hinführung, Freiburg/Schweiz 1987.
  • Evangelisation in Lateinamerika. In: Concilium 14 (1978), S. 257–261.
  • Evangelium, Kultur und Identität. Stationen und Themen eines befreiungstheologischen Diskurses. Herausgegeben von Kuno Füssel, Michael Ramminger, Luzern 2000. ISBN 978-3-905577-31-0.
  • mit Heinrich Fries, Elmar Klinger u. a. (Hrsg.): Herausforderung. Die Dritte Welt und die Christen Europas, Regensburg 1980.
  • Befreiende Praxis und theologische Reflexion. In: ders. (Hrsg.): Theologie aus der Praxis des Volkes. Neuere Studien zur lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. Kaiser, München / Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1978, S. 13–60.
  • Thesen zum Verhältnis ‘Kirche und Volk’. In: Karl Rahner u. a. (Hrsg.): Volksreligion – Religion des Volkes, Stuttgart 1979, S. 83–87.
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