Eureptilien

Die Eureptilien (Eureptilia) sind ein umfangreiches Taxon der „höheren“ Landwirbeltiere (Amniota), das den überwiegenden Teil der ausgestorbenen sowie alle rezenten Reptilien einschließlich der Vögel (Aves) in sich vereint. Es kommt vor allem in der paläontologischen Systematik zum Einsatz. In der zoologischen Systematik, die nur rezente Tiere berücksichtigt, ist es redundant zum Taxon Diapsida.

Eureptilia

Skelett von Labidosaurus hamatus (Captorhinidae), einem frühen Vertreter der Eureptilia.

Zeitliches Auftreten
Oberkarbon (Bashkirium) bis heute
315 bis 0 Mio. Jahre
Fundorte
  • weltweit
Systematik
Kiefermäuler (Gnathostomata)
Landwirbeltiere (Tetrapoda)
Reptiliomorpha
Amnioten (Amniota)
Sauropsida
Eureptilia
Wissenschaftlicher Name
Eureptilia
Olson, 1947

Taxonomische Geschichte und moderne Definition

Der Name „Eureptilia“ wurde 1947 von dem US-amerikanischen Geologen und Paläontologen Everett C. Olson im Zuge einer Neugliederung der Klasse Reptilia unter Aufgabe der Cotylosauria geprägt. Neben den Diapsiden umfassten Olsons Eureptilien, im Gegensatz zum heutigen Konzept, auch die Synapsiden, die damals noch als rein fossile Gruppe, ohne die Säugetiere, definiert waren. Den Eureptilien gegenüber stellte er die Parareptilien, die, wie heute, Procolophonoiden und Pareiasaurier umfassten, jedoch auch Formen, die mittlerweile allgemein nicht mehr als Amnioten gelten, wie die Diadectomorpha und Seymouriamorpha. Außerdem enthielten sie die Schildkröten („Chelonia“). Schlüsselmerkmal war das Fehlen (Eureptilia) bzw. das Vorhandensein (Parareptilia) eines ausgeprägten otischen Schlitzes in der hinteren Schädelseitenwand. Zudem vermutete Olson einen jeweils unabhängigen Ursprung der beiden Reptiliengruppen innerhalb der basaleren Landwirbeltiere („Amphibien“ im weiteren Sinn).[1]

Gaffney (1980)[2] diskutiert im Rahmen einer der ersten kladistischen Analysen der Verwandtschaftsbeziehungen der verschiedenen Amniotengroßgruppen ein mögliches Schwestergruppenverhältnis der Schildkröten (Testudines) mit einer gemeinsamen Klade aus Synapsiden und Diapsiden und nennt letztgenannte „Eureptilia“. Gaffneys Eureptilia-Hypothese wurde jedoch, im Vergleich mit der in nachfolgenden Analysen aufgestellten Sauropsiden-Hypothese, in der Diapsiden und Schildkröten eine gemeinsame Klade bilden,u.a. [3] durch deutlich weniger Synapomorphien gestützt.[4] Die Sauropsiden-Hypothese hat in der zoologischen und paläontologischen Systematik im Wesentlichen bis heute Bestand (siehe Systematik), wenngleich mit wechselnder Stellung der Schildkröten innerhalb der Sauropsida.

Laurin & Reisz (1995)[5] definieren die Eureptilia stammbasiert als „Diapsiden und alle Amnioten, die näher mit diesen als mit den Testudines verwandt sind“. Dabei bestätigen die Ergebnisse ihrer kladistischen Analyse auch die Sauropsiden-Hypothese, indem ihre Eureptilia die Diapsiden und einige „primitive“ Reptilien, nicht aber die Synapsiden enthalten. Durch ihre Definition grenzen sie die Eureptilia innerhalb der Sauropsida von den Schildkröten klar ab und nennen die Klade, welche die Schildkröten enthält, Parareptilia. Damit orientieren sie sich grob an Olsons ursprünglichem Konzept der beiden Gruppen.

Da ab dem Ende der 1990er Jahre die Idee zunehmend Akzeptanz fand, dass Schildkröten selbst Diapsiden sind, definierten Tsuji & Müller (2009)[6] die Eureptilia in Form eines „stammbasierten Triplets“ neu als „die umfassendste Klade, die sowohl Captorhinus aguti als auch Petrolacosaurus kansensis enthält, nicht aber Procolophon trigoniceps“.

Merkmale

Müller & Reisz (2006)[7] zählen folgende Synapomorphien für die Eureptilia auf:

  • dorsale Partie des Ilium (engl. iliac blade) schmal bzw. niedrig,
  • kein Kontakt zwischen Postorbitale und Supratemporale,
  • starke ventrolaterale Einschnürung der Wirbelkörper der Rumpfwirbel.

Für alle Eureptilia mit Ausnahme des basalsten Taxons Coelostegus prothales nennen sie weiterhin folgende Synapomorphien:

  • buchtartig zurückweichender Hinterrand des dorsalen Schädeldaches beiderseits der Schädelmittelnaht,
  • kleines Supratemporale,
  • Beteiligung von Supratemporale und Parietale an der Bildung der hinteren seitlichen Ecke des dorsalen Schädeldaches,
  • Beteiligung des Squamosums an der Umrandung des Posttemporalfensters,
  • Nasale ist kürzer als Frontale.

Eine Kombination aller oder zumindest der meisten dieser Merkmale tritt jedoch nur bei den basalsten Eureptilien auf („Grundbauplan“). Bei den „höheren“ (stärker abgeleiteten) Taxa ist z. B. das Supratemporale vollkommen reduziert bzw. ins Squamosum inkorporiert oder der hintere Rand des dorsalen Schädeldaches ist gerade oder weicht median statt bilateral zurück. Auch ist bei den Archosauriern das Hinterhaupt geschlossen, d. h., sie besitzen kein Posttemporalfenster mehr.

Bedeutung

Das Taxon Eureptilia ist in erster Linie für die Wirbeltierpaläontologie von Bedeutung, da alle rezenten Eureptilien gleichzeitig auch Diapsiden sind. Unter Berücksichtigung der Diapsiden-Hypothese zur stammesgeschichtlichen Herkunft der Schildkröten sind sogar alle rezenten Sauropsiden zugleich auch Diapsiden. Zudem sind dann die Parareptilia, die Eureptilia-Schwestergruppe, eine rein fossile Gruppe. Die Nutzung eines Taxons Eureptilia macht unter diesen Umständen in der zoologischen Systematik nicht viel Sinn.

Eines der ältesten sicher als echter Amniot geltenden Landwirbeltiere, Hylonomus, stammt aus dem frühen Oberkarbon (Bashkirium, Westfal A) und ist mit Hilfe kladistischer Analysen als basaler, jedoch nicht als basalster Vertreter der Eureptilia identifiziert worden.[7] Dies bedeutet, dass die gemeinsame Stammart von Eureptilien und Parareptilien spätestens ebenfalls im frühen Oberkarbon, jedoch noch deutlich vor Hylonomus, gelebt haben muss. Ein Ursprung der Sauropsiden nahe der Unterkarbon-Oberkarbon-Grenze wird damit relativ wahrscheinlich.

Systematik

Äußere Systematik

Entgegen Olsons ursprünglicher Annahme erreichten Eureptilien und Parareptilien nicht unabhängig voneinander den Organisationsgrad von Reptilien, sondern gehen auf eine gemeinsame Stammart zurück, die bereits zu den Amnioten gehörte.

Die möglichen verwandtschaftlichen Beziehungen verdeutlicht folgendes stark vereinfachtes Kladogramm:

  Landwirbeltiere  

 Lissamphibia (heutige Amphibien)


   

  Lepospondyli


  Reptiliomorpha  

  Seymouriamorpha


   

  Diadectomorpha


  Amniota  

 Synapsida (einschl. der Säugetiere)


  Sauropsida (Reptilia)  

  Parareptilia


   

 Eureptilia








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Innere Systematik

Die tatsächliche Diversität der Parareptilien ist zwar nicht geklärt, doch sind die Eureptilien zweifelsfrei die mit Abstand umfassendere und diversere Sauropsiden-Linie – schon allein aufgrund des Umstandes, dass ihre Entwicklungslinie bis heute und damit gut 230 Millionen Jahre länger überlebt hat. Ihr gehören unter anderem auch die Dinosaurier und damit die Vögel an. Die verwandtschaftlichen Beziehungen mit Schwerpunkt auf den basalen, außerhalb der Diapsida stehenden Taxa (nach Müller & Reisz, 2006[7]) zeigt folgendes Kladogramm:

  Eureptilia  

  Coelostegus


   


  Captorhinidae


   

  Thuringothyris



   

  Brouffia


   

  Paleothyris


   

  Hylonomus


   


  Anthracodromeus


   

  Protorothyris


   

  Cephalerpeton


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  Diapsida  

  Araeoscelidia


   

  Avicephala


  Neodiapsida  

  Younginiformes (paraphyletisch ?)


   


 Ichthyopterygia


   

?  Sauropterygia



   

? Schildkröten


  Sauria1  

Lepidosauromorpha (u. a. Schuppenkriechtiere,
 Brückenechsen, ? Schildkröten, ?  Sauropterygia)


   

Archosauromorpha († Rhynchosaurier, ? Schildkröten,
 Krokodile, † Flugsaurier, Dinosaurier einschl. Vögel)














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Fußnoten: 1) „Sauria“ bezeichnet hier im Sinne von Gauthier et al. (1988)[8] die gemeinsame Klade aus Lepidosauromorpha und Archosauromorpha und ist nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls „Sauria“ genannten paraphyletischen Subtaxon Echsen (auch Lacertilia) der Lepidosauromorpha.

Quellen

  1. Kompletter Absatz nach: Everett C. Olson: The Family Diadectidae and its Bearing on the Classification of Reptiles. Fieldiana Geology. Bd. 11, Nr. 1, 1947, doi:10.5962/bhl.title.3579, S. 43 ff.
  2. Eugene S. Gaffney: Phylogenetic relationships of the major groups of amniotes. In: A. L. Panchen (Hrsg.): The Terrestrial Environment and the Origin of Land Vertebrates. Systematics Association Special Volume. Nr. 15, 1980, S. 593–610.
  3. Jacques A. Gauthier, Arnold G. Kluge, Timothy Rowe: The early evolution of the Amniota. in: Michael J. Benton (Hrsg.) The phylogeny and classification of the tetrapods, Volume 1: amphibians, reptiles, birds. Systematics Association Special Volume. Nr. 35A, 1988, S. 103–155.
  4. Michael J. Benton: Phylogeny of the Major Tetrapod Groups: Morphological Data and Divergence Dates. Journal of Molecular Evolution. Bd. 30, Nr. 5, 1990, S. 409–424, doi:10.1007/BF02101113.
  5. Michel Laurin, Robert R. Reisz: A reevaluation of early amniote phylogeny. Zoological Journal of the Linnean Society. Bd. 113, Nr. 2, 1995, S. 165–223, doi:10.1007/BF02101113 (alternativer Volltextzugriff: IUCN/SSC Tortoise and Freshwater Turtle Specialist Group PDF 672 kB).
  6. Linda A. Tsuji, Johannes Müller: Assembling the history of the Parareptilia: phylogeny, diversification, and a new definition of the clade. Fossil Record. Bd. 12, Nr. 1, 2009, S. 71–81, doi:10.1002/mmng.200800011.
  7. Johannes Müller, Robert R. Reisz: The Phylogeny of Early Eureptiles: Comparing Parsimony and Bayesian Approaches in the Investigation of a Basal Fossil Clade. Systematic Biology. Bd. 55, Nr. 3, 2006, S. 503–511, doi:10.1080/10635150600755396.
  8. Jacques A. Gauthier, Arnold G. Kluge, Timothy Rowe: The early evolution of the Amniota. S. 103–155 in: Michael J. Benton (Hrsg.): The phylogeny and classification of the tetrapods, Volume 1: amphibians, reptiles, birds. Clarendon Press, Oxford 1988.
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